Von Zahlen und Menschen

Neue Studie über Todeszahlen in Gaza

Laut offiziellen Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza (MoH, für „Ministry of Health“) sind seit Beginn des Krieges 45.936 Menschen direkt durch israelische Angriffe ums Leben gekommen. Die Angaben des MoH werden von internationalen Organisationen als ziemlich zuverlässig, aber tendenziell zu niedrig eingeschätzt. Dennoch gibt es immer wieder Verdächtigungen, die Zahlen seien aus propagandistischen Gründen zu hoch gegriffen.

Vor wenigen Tagen erschien in der angesehenen medizinischen Fachzeitschrift The Lancet eine neue Studie über die Anzahl der Todesopfer in Gaza. Untersucht wurde der Zeitraum von 7. Oktober 2023 bis Ende Juni 2024. Die Autor/inn/en kommen darin zu dem Ergebnis, dass die von den Behörden in Gaza angegebenen Zahlen um 41 Prozent zu niedrig sind. Sie schätzen der Zahl jener Menschen, die bis Ende Juni 2024 direkt durch israelische Angriffe ums Leben gekommen sind, auf 64.000. Die von den Behörden in Gaza angegebene Anzahl für diesen Zeitraum beträgt 37.877. Hochgerechnet auf die aktuellen Zahlen des MoH in Gaza würde das bedeuten, dass die aktuelle Zahl der Todesopfer bei mehr als 75.000 liegt.

Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre, Menschen über 65 und Frauen machen nach dieser Studie 59,1 Prozent der Todesopfer aus. Das wären demnach 44.325 Menschen, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine bewaffneten Kämpfer waren. Dies impliziert freilich nicht, dass alle getöteten Männer zwischen 19 und 64 Jahren bewaffnete Kämpfer waren. Wir wissen, dass unter den Todesopfern überproportional viele Ärzte, Pfleger, Sanitäter und Journalisten zu finden sind. Es ist überdies anzunehmen, dass auch Männer mittleren Alters, die andere Berufe ausübten, durch die israelischen Angriffe ums Leben kamen, zum Beispiel Lehrer, Universitätsprofessoren, LKW-Fahrer, Landwirte, Bäcker, Ingenieure, Facharbeiter, Polizisten, Beamte … Das bedeutet, dass der Anteil der Zivilist/inn/en unter den Toten wohl deutlich über 60 Prozent liegen dürfte.

In diesen Zahlen nicht enthalten sind jene Menschen, die als vermisst gelten. (Diese wurden von den Autor/inn/en der Studie ausdrücklich ausgenommen, weil sie sich auch in israelischer Gefangenschaft befinden könnten, ohne dass deren Angehörige – sofern sie noch welche haben – davon in Kenntnis gesetzt wurden.) Nicht enthalten sind vor allem aber auch jene, die in den vergangenen Monaten durch Unterernährung, Wassermangel, unhygienische Wohnverhältnisse, Unterkühlung und fehlenden Zugang zu medizinischer Versorgung gestorben sind. Die Anzahl dieser indirekten Kriegsopfer dürfte ein Vielfaches der Anzahl der direkten Kriegsopfer betragen; und unter diesen befinden sich besonders viele Kinder, alte und kranke Menschen.

Zahlen sind abstrakte Größen. Sie können das Leid der Menschen nicht abbilden. Dennoch sind sie unverzichtbar, um die Dimensionen von Gewalt sichtbar zu machen. Dazu mag auch ein Vergleich beitragen: Im Ukraine-Krieg wurden von Ende Februar 2022 bis Ende November 2024 11.673 getöte Zivilist/inn/en gezählt, davon 667 Kinder. Das riesige Land Ukraine hat über 37 Millionen Einwohner, Gaza hatte vor dem Krieg ca. 2,2 Millionen Einwohner.

Das heißt: In den insgesamt 15 Monaten des Gaza-Krieges wurden mehr als drei Mal so viele Zivilist/inn/en getötet wie in den ersten 33 Monaten des Ukraine-Kriegs – und das, obwohl die Einwohnerzahl von Gaza nicht einmal an die Einwohnerzahl der ukrainischen Hauptstadt Kiev heranreicht.

Selbstverständlich (und selbstverständlich zu Recht) haben Deutschland und Österreich die russischen Angriffe auf Zivilisten und zivile Einrichtungen von Anfang an verurteilt und weitreichende Sanktionen gegen Russland verhängt. Doch die im Verhältnis weitaus größere Gewalt Israels gegen Zivilisten in Gaza wird von denselben Staaten nicht nur geduldet, sondern aktiv unterstützt.

Quellen:

https://www.thelancet.com/action/showPdf?pii=S0140-6736%2824%2902678-3

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1417316/umfrage/opferzahlen-im-terrorkrieg-der-hamas-gegen-israel/

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1297855/umfrage/anzahl-der-zivilen-opfer-durch-ukraine-krieg/

Update zu Dr. Abu Safiayh und zum Indonesischen Krankenhaus

Dr. Abu Safiyah befindet sich seit der Zwangsevakuierung des Kamal-Adwan-Krankenhauses am 27. Dezember 2024 in israelischer Haft. Dies haben israelische Offizielle, nach anfänglichem Leugnen, zugegeben. Es gibt aber nach wie vor keine offiziellen Angaben zu seinem Aufenthaltsort. Die israelische NGO PHRI (Physicians for Human Rights – Israel) hat ihm einen Rechtsbeistand verschafft. Dieser durfte jedoch bisher keinen Kontakt zu seinem Mandanten aufnehmen. Zunächst hieß es, dieses Kontaktverbot gelte bis 10. Januar. Inzwischen wurde es bis 22. Januar verlängert.

Für Dr. Abu Safiyah gibt es weltweit Solidaritätsbekundungen. Die große Aufmerksamkeit könnte ihm das Leben retten und die Freiheit zurückgeben. Vor wenigen Tagen wurde ein anderer Arzt nach 11 Monaten aus israelischer Haft entlassen: Dr. Mahmoud Abu Shahada, leitender Arzt aus dem Nasser Krankenhaus. Er wurde am 17. Februar 2023 verhaftet, nachdem das Nasser-Spital gestürmt worden war. Sein Anwalt sagt, es sei schon lange klar gewesen, dass er an den Kämpfen in Gaza nicht beteiligt gewesen sei. Er sei gefoltert worden. Der Anwalt hatte das oberste Gericht Israels angerufen. Dieses hatte die Enthaftung von Dr. Abu Shahada angeordnet. Für Dr. Abu Safiyah gibt es also Hoffnung. Zum Schicksal der mit ihm zusammen verhafteten Mitarbeiter/innen konnte ich keine neuen Nachrichten finden.

Hingegen konnte ich neue Nachrichten zum Indonesischen Krankenhaus finden. Diese geben allerdings wenig Anlass zur Hoffnung. Im Zuge der Zwangsevakuierung des Kamal-Adwan-Krankenhauses am 27. Dezember ordnete die israelische Armee an, schwerverletzte und/oder schwerkranke Patienten sowie einen Teil des medizinischen Personals in das bereits zu diesem Zeitpunkt weitgehend zerstörte Indonesische Krankenhaus zu verlegen. Wenige Tage später, am 3. Januar, ordnete die israelische Armee die Räumung dieses an. (Siehe den vorangegangen Blog-Beitrag!)

Am 8. Januar berichtete Al Jazeera, dass sich im Indonesischen Krankenhaus noch ca. 20 Personen aufhalten, darunter 8 Patienten. Offenbar haben also die meisten Menschen dem Räumungsbefehl Folge geleistet, aber nicht alle. Eine Krankenschwester berichtete von dauerndem Beschuss durch Panzer und Drohnen. Es sei unmöglich, das Gebäude zu verlassen. Sie seien eingeschlossen. Andererseits kann auch keine Hilfe das Krankenhaus erreichen.

In einer Meldung vom 10. Januar berichtet eine Krankenschwester, es gebe keinen Tropfen Wasser mehr. Das ist die letzte Meldung, die ich über das Indonesische Krankenhaus finden konnte. Über das Schicksal derjenigen, die das Krankenhaus am 3. Januar verlassen haben, konnte ich auch keine Meldung finden.

Quellen:

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/1/10/live-israel-kills-22-across-gaza-in-one-day-pushing-death-toll-over-46000 (10. 1., 13.00)

https://www.tagesschau.de/ausland/asien/israel-westjordanland-siedler-administrativhaft-100.html

https://www.srf.ch/news/international/israel-administrativhaft-tausende-palaestinenser-sitzen-ohne-anklage-im-gefaengnis

https://www.amnesty.ch/de/laender/naher-osten-nordafrika/israel-besetztes-palaestinensisches-gebiet/dok/2022/administrativhaft-100-tage-boykott

https://bit.ly/4jDAnST

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/1/10/live-israel-kills-22-across-gaza-in-one-day-pushing-death-toll-over-46000 (10. 1., 12.45)

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/1/10/live-israel-kills-22-across-gaza-in-one-day-pushing-death-toll-over-46000 (11.08)

Zeugnisse von Menschen aus Gaza

Als Gegengewicht gegen die vielen Zahlen im ersten Teil dieses Beitrags möchte ich hier einige Betroffene und Zeugen zu Wort kommen lassen, die das Leben und Sterben in Gaza aus erster Hand beschreiben. Alle Berichte stammen aus dem Blog der Vertretung des Staates Palästina in Wien.

https://www.palestinemission.at/blog-ev1t6

Dieser Blog ist eine sehr wertvolle Quelle.

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„Vor einem Jahr hat ein israelischer Luftangriff mich lebendig begraben. Ich versuche immer noch, mich zu befreien.“ Der Journalist und Schriftsteller Mohammed R. Mhawish aus Gaza hat mit viel Glück einen Bombenangriff auf sein Haus überlebt. Auch seine Frau und sein kleiner Sohn konnten lebend aus den Trümmern geborgen werden. Er hat bei dem Angriff jedoch Angehörige verloren.

Quelle: https://www.palestinemission.at/single-post/vor-einem-jahr-hat-mich-ein-israelischer-luftangriff-lebendig-begraben-ich-versuche-immer-noch-mic

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„Ich hob Aisha hoch, und sie war wie ein Eisblock, kalt, steif und blau, und ihre Augen waren offen. Ich hielt sie in völligem Schock. Sie hat nicht mehr geatmet.“

Adanan Al-Qassas, dessen 23 Tage altes Baby im Zelt erfroren ist (aufgezeichnet von B’Tselem)

Quelle: https://www.palestinemission.at/single-post/in-gaza-sterben-s%C3%A4uglinge-an-der-k%C3%A4lte

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Der palästinensische Christ Ramez Suhail Al-Suri aus Gaza-Stadt berichtet über einen israelischen Angriff auf eine orthodoxe Kirche. In dem Gebäude hatten viele Menschen Zuflucht vor den israelischen Luftangriffen gesucht, darunter auch Al Suris Frau und seine drei Kinder. Die Menschen hatten darauf vertraut, dass Kirchen und Moscheen nach internationalem Recht nicht bombardiert werden dürfen. Bei dem israelischen Angriff kamen 18 Menschen ums Leben, darunter Al Suris Kinder (11–14 Jahre alt).

Quelle: https://www.palestinemission.at/single-post/die-christinnen-und-christen-in-gaza-die-in-kirchen-zuflucht-suchen-sehen-einem-weiteren-weihnacht

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Khaled Nabhan verlor im November 2023 seine geliebte dreijährige Enkeltochter Reem und ihren fünfjährigen Bruder Tarek. Beide waren bei einem israelischen Bombenangriff auf ihr Wohnhaus im Flüchtlingslager Al Nuseirat ums Leben gekommen. Am 16. Dezember 2024 wurde Khaled Nabhan selbst durch eine israelische Panzergranate getötet, als er Verletzten zu Hilfe kommen wollte.

Quelle: https://www.palestinemission.at/single-post/khaled-nabhan-get%C3%B6tet

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Amal Amasri: Während ihrer Schwangerschaft zog sie von einer provisorischen Unterkunft in eine andere, nachdem ihr Haus in Beit Hanoun bombardiert worden war. Wenige Tage nach der Entbindung wurde sie gezwungen, mit ihren Kindern Richtung Süden zu flüchten. Sie wurde dabei von ihrem Mann gewaltsam getrennt. Sie sah, dass er verhaftet worden war und fürchtete um sein Leben.

Quelle: https://www.palestinemission.at/single-post/was-ist-noch-%C3%BCbrig-trauma-und-terror-im-norden-des-gazastreifens

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Yousef Abu Rabee, gelernter Landwirtschaftsingenieur aus Gaza, versuchte, die hungernden Menschen im Norden Gazas während der Blockade mit frischem Gemüse zu versorgen. Der landwirtschaftliche Betrieb seiner Familie war zerstört worden. Er pflanzte, pflegte und erntete zwischen den Ruinen, verteilte Setzlinge und unterwies andere Bewohner im Gartenbau. Er starb am 21. Oktober 2024 im Alter von 24 Jahren.

Quelle: https://www.palestinemission.at/single-post/zur-ern%C3%A4hrungssituation-der-pal%C3%A4stinensischen-bev%C3%B6lkerung-in-gaza

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Die Krankenschwester Neveen Al-Dawasa aus Nordgaza berichtet: „Die Menschen brachen in Lagerräume ein, um zu überleben, und als sie das taten, bombardierte die israelische Armee die Tore. Sie haben sogar den Wasserbrunnen bombardiert, während die Kinder Krüge füllten.“ […] „Sie gaben uns eine Stunde Zeit, um die Schule zu evakuieren, aber sie bombardierten uns, bevor die Zeit abgelaufen war.“ […] „Sie sagten uns, es gäbe einen ’sicheren Durchgang‘, aber als wir versuchten zu gehen, schrien sie uns aus ihren Panzern an: ‚Geht zurück, oder wir werden euch erschießen!’“

Quelle: https://www.palestinemission.at/single-post/einblicke-in-die-belagerung-des-n%C3%B6rdlichen-gazastreifens-wo-der-tod-allgegenw%C3%A4rtig-ist

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Mohammed Shehab (27) aus Jabalia in Nordgaza erzählt: „Quadcopter-Drohnen schweben tief über den Straßen und schießen auf alles, was sich bewegt“. „Scharfschützen sind auf den Dächern positioniert und zielen auf jeden und jede, der nach draußen geht. Gleichzeitig sind Soldaten und Panzer in das Lager eingedrungen, haben Häuser demoliert und Straßen und Felder mit Bulldozern geräumt.“

Abir Madi (51), Mutter zweier Söhne, die bei einem israelischen Angriff auf das Lager ums Leben kamen: „Es macht keinen Sinn, mein Zuhause zu verlassen, nur um in einem Zelt im Süden getötet zu werden. Die Besatzung schert sich nicht um das Leben von Zivilisten; sie zielt überall auf sie.“

Quelle: https://www.palestinemission.at/single-post/%C3%BCberall-liegen-leichen-im-fl%C3%BCchtlingslager-jabalia-im-norden-von-gaza-das-von-der-israelischen-ar

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Muhammad Abu Al-Qumsan (33) war mit seiner schwangeren Frau aus Gaza-Stadt in den Süden geflohen und wurde am 10. August 2024 glücklicher Vater von Zwillingen, Asser und Aysal. Am 13. August holte er die Geburtsurkunden seiner Kinder ab. Zur selben Zeit wurde die Wohnung der Familie beschossen. Es starben die Kinder, deren Mutter und deren Großmutter.

Diese Geschichte brachte der Abgeordnete Ayman Odeh am 18. November 2024 seinen Kolleg/inn/en in der Knesset zu Gehör. Anwesend waren dabei auch Premierminister Netanjahu sowie Minister Smotrich. Die Kamera fängt deren steinerne Mienen ein. Es gibt Zwischenrufe, Odeh wird aufgefordert, das Rednerpult zu verlassen. Als er das nicht tut, wird er von Sicherheitsleuten entfernt. (Die Originalaufnahmen von Odehs Rede sind mit englischen Untertiteln versehen.)

Quellen:

https://www.palestinemission.at/single-post/972mag-die-s%C3%A4uglinge-im-gazastreifen-die-ihren-ersten-geburtstag-nicht-erlebten


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