Waffenruhe für Gaza?

In den vergangenen Monaten gab es immer wieder Verhandlungen über ein Waffenstillstandsabkommen für Gaza, die aber allesamt gescheitert sind. Nun aber gibt es ernsthafte Anzeichen dafür, dass es dieses Mal klappen könnte. Wie berechtigt ist diese Hoffnung, und was würde eine Waffenruhe bedeuten?

Vorgeschichte

Im Zuge des Angriffs vom 7. Oktober 2023, der den seither tobenden Krieg auslöste, wurden ca. 250 israelische Staatsbürger/innen in den Gaza-Streifen verschleppt und dort als Geiseln gefangengehalten.

Schon bald gab es Verhandlungen zwischen der Hamas und Israel über die Freilassung der Geiseln. Ende November 2023 kam es zu einer Waffenruhe, im Zuge derer 105 Geiseln freigelassen wurden, im Austausch gegen 240 palästinensische Gefangene. Vereinbart worden war die Freilassung von 100 israelischen Geiseln gegen 300 palästinensische Gefangene. Die Hamas wäre zur Freilassung weiterer Geiseln bereit gewesen, doch die Waffenruhe wurde von Israel nach acht Tagen beendet.

Seither gab es eine Reihe von Verhandlungsrunden, die bislang allesamt gescheitert sind. Entgegen offiziellen Verlautbarungen hatte das Wohlergehen der Geiseln für Israel zu keinem Zeitpunkt oberste Priorität. Das sehen auch die Familien der Geiseln so, die seit Beginn des Krieges gegen die Vorgangsweise der Regierung und für einen „Geisel-Deal“ demonstrieren.

Es ist mittlerweile bekannt geworden, dass eine zweistellige Zahl von Israelis während ihrer Entführung nach Gaza durch israelischen Beschuss von Fahrzeugen oder durch israelischen Beschuss von Wohnhäusern getötet wurden. Dies könnte eine Folge der Anwendung der sog. „Hannibal-Direktive“ gewesen sein, der gemäß der Tod eines Soldaten besser sei als seine Gefangennahme, um Israel nicht erpressbar zu machen.

Israels Weise der Kriegsführung in Gaza hat die dort befindlichen Geiseln einem hohen Risiko ausgesetzt. Sehr wahrscheinlich sind viele von ihnen im Zuge von Bombenangriffen auf Wohngebäude ums Leben gekommen. Drei Geiseln, die sich selbst befreien konnten, wurden von israelischen Soldaten erschossen, obwohl sie eine weiße Fahne geschwenkt hatten, während sie sich auf die Soldaten zubewegten. Auch diese drei Männer sind Opfer der israelischen Kriegsführung. Denn israelische Soldaten haben wiederholt auf Menschen geschossen, die weiße Fahnen schwenkten.

Nach 15 Monaten Krieg konnte die israelische Armee gerade einmal sieben Geiseln befreien. Demgegenüber stehen über 250.000 direkte und indirekte Todesopfer unter den Bewohner/inne/n Gazas (mehrheitlich Frauen, Kinder und alte Menschen) und knapp 400 gefallene Soldat/inn/en der IDF.

Wer will den Frieden?

Es gibt eine Gruppe von Menschen, die ohne Zweifel den Frieden mit jeder Faser ihrer Seele wollen, nämlich die Menschen in Gaza. Auch die Hamas hat wiederholt ein Ende des Krieges gefordert. Doch wollen auch die Israelis Frieden?

In der israelischen Regierung ist jedenfalls bis jetzt keinerlei Friedenswille zu erkennen. Die israelische Regierung weigert sich bislang, über einen dauerhaften Frieden auch nur zu verhandeln. Das ist – aus israelischer Perspektive – auch nur folgerichtig. Denn bisher wurde keines der erklärten Kriegsziele erreicht: Weder sind die Geiseln freigekommen noch wurde die Hamas zerschlagen. Auch das inoffizielle Kriegsziel der vollständigen „ethnischen Säuberung“ des nördlichen Gazastreifens (auch bekannt als „General’s plan„) wurde noch nicht erreicht. Nach wie vor harren mutmaßlich Zehntausende Menschen in dem Gebiet aus, trotz pausenloser Angriffe und nahezu vollständiger Blockade.

Premierminister Netanjahu (der derzeit wegen Korruptionsvorwürfen vor Gericht steht) hat zudem ein persönliches Motiv, den Krieg in die Länge zu ziehen: Vor Beginn des Krieges gingen in Israel regelmäßig Hunderttausende Menschen auf die Straße, um gegen Netanjahus Politik zu demonstrieren. Es ging um Versuche der Regierung, den israelischen Rechtsstaat auszuhöhlen – und damit ein wichtiges Korrektiv der israelischen Politik zu schwächen. Seit Beginn des Krieges jedoch sind Netanjahus Zustimmungswerte in der Bevölkerung massiv gestiegen, die Proteste sind beinahe zum Erliegen gekommen. Im Krieg rückt man zusammen, geeint gegen den äußeren Feind.

Ein Ende des Krieges würde Netanjahu vermutlich politisch nicht lange überleben. Einer der Gründe dafür ist: Es ist nach wie vor nicht geklärt, inwieweit israelische Politiker Mitverantwortung für die Verbrechen der Hamas am 7. Oktober 2023 tragen. Man weiß heute, dass der Überfall der Hamas in dieser Form nur möglich war, weil das Militär im Vorfeld auf sehr konkrete Hinweise auf einen bevorstehenden Hamas-Angriff nicht reagiert hatte. Unklar ist, inwieweit auch Politiker von diesen Hinweisen wussten und für die Untätigkeit des Militärs verantwortlich waren. Man hatte bis jetzt „keine Zeit“, sich um diese Frage zu kümmern, denn es ist ja Krieg. Wenn der Krieg beendet ist, wird die israelische Zivilbevölkerung vermutlich klare Antworten verlangen.

Auch die Opposition in der Knesset hat den Krieg bisher mehrheitlich unterstützt. Im Krieg rückt man zusammen …

Doch wie steht es um die isrealische Zivilgesellschaft? Laut der israelischen Philosophin und Friedensaktivistin Anat Matar befürworten fast 100 Prozent der israelischen Bevölkerung den Krieg in Gaza. In großen Teilen der israelischen Zivilgesellschaft herrscht die Meinung vor, dass Israel in Gaza einen gerechten Krieg gegen das Böse führt, und dass dieses Böse nicht nur in bewaffneten Kämpfern verkörpert ist, sondern in der gesamten palästinensischen Bevölkerung. Nach dieser Denkweise stellt das palästinensische Volk an sich eine Bedrohung für die Existenz Israels dar. Daraus folgt, dass die Vernichtung der palästinensischen Bevölkerung nicht nur moralisch legitim, sondern sogar geboten ist. Sicherlich würden nicht alle Israelis dieser Konklusion zustimmen. Doch die Mehrheit unterstützt die Vorgangsweise der israelischen Armee in Gaza, die – wenn sie nicht gestoppt wird – auf die Vernichtung des palästinensischen Volkes hinausläuft.

Die Wahrheit ist, dass das palästinensische Volk zu keiner Zeit eine reale Bedrohung für die Existenz Israels war. Doch anti-arabischer Rassismus und irrationale Existenzängste sind in Israel weit verbreitet. Dies ist das Ergebnis jahrzehntelanger Indoktrination durch Schule, Militär und Medien.

Dennoch denken nicht alle israelischen Jüdinnen und Juden so. Es gibt in Israel eine Friedensbewegung, es gibt israelische NGO’s, die sich für die Rechte der Palästinenser einsetzen, und es gibt sogar einzelne Männer und Frauen, die den Dienst in der israelischen Armee verweigern. Den Mut und den aufrechten Gang dieser Menschen kann man nicht genug bewundern. Soziale Ächtung ist ihnen sicher. Wehrdienstverweigerung kann mit Gefängnis bestraft werden. Besonders exponierte Aktivist/inn/en müssen zudem mit Angriffen gewaltbereiter rechtsradikaler Israelis rechnen.

Ein Waffenstillstand ist noch lange kein Frieden

Was jetzt auf dem Tisch liegt ist der Vorschlag eines befristeten Waffenstillstands für 42 Tage. Doch in der israelischen Regierung gibt es massiven Widerstand sogar gegen diese kleine Atempause (ungeachtet der Tatsache, dass diese wohl einigen Dutzenden Geiseln das Leben retten würde). Der Widerstand kommt nicht nur von den rechtsextremen Ministern Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich, sondern auch von Teilen der Likud-Partei Netanjahus.

Ein Waffenstillstandsabkommen müsste von der Knesset (dem israelischen Parlament) befürwortet werden. Ohne die Fraktionen von Ben-Gvir und Smotrich hat die Regierung keine Mehrheit in der Knesset. Möglicherweise könnte das Abkommen aber mit den Stimmen der Opposition beschlossen werden.

Auch in der israelischen Zivilbevölkerung ist der Geisel-Deal offenbar nicht sonderlich populär. In den letzten Tagen gab es Demonstrationen dafür und dagegen, wobei die Gegner weitaus mehr Menschen auf die Straße bringen konnten.

Vielleicht kommt das Waffenstillstandsabkommen dennoch zustande – aufgrund massiven Drucks aus den USA. Das bedeutet freilich nicht, dass die Waffenruhe auch tatsächlich die vereinbarten 42 Tage hält. Israel hat in der Vergangenheit wiederholt Waffenstillstandsabkommen gebrochen.

Darüber hinaus bedeutet eine Waffenruhe nicht automatisch ein Ende des Sterbens in Gaza. Die zerstörte Gesundheitsinfrastruktur lässt sich wohl kaum binnen weniger Tage wieder aufbauen, ebenso wenig wie winterfeste Unterkünfte für Hunderttausende Menschen. Für manche der verwundeten, kranken, unterernährten und völlig erschöpften Menschen kommt vielleicht ohnehin jede Hilfe zu spät.

Schließlich: Es ist zu befürchten, dass der Genozid in Gaza nach dem Ende des Waffenstillstands weitergeht.

In den letzten Tagen wird aus Gaza berichtet, dass die Angriffe der israelischen Armee an Intensität zugenommen hätten. Tägliche werden Dutzende Tote und zahlreiche Verletzte gemeldet. Es ist, als würde Israel vor einem möglichen Waffenstillstand noch möglichst viel Zerstörung, Leid und Tod verursachen wollen.

Für die leidende Bevölkerung Gazas ist jeder Waffenstillstand besser als keiner. Jede Hilfslieferung, die zu den Menschen gelangt, kann Leben retten und neue Hoffnung und Lebensmut geben.

Mustafa: „Gaza is Calling“ (Musikvideo)

Quellen:

https://www.morgenpost.de/politik/article407935548/israel-palaestinenser-hamas-soldaten-gaza-reservisten-netanjahu.html

https://www.amnesty.de/aktuell/israel-kriegsdienstverweigerung-wehrdienst-armee-militaer-interview-sofia-orr

https://www.gov.il/en/departments/knesset/govil-landing-page

https://www.middleeasteye.net/news/israeli-press-review-new-poll-shows-rampant-racism-israel

https://de.wikipedia.org/wiki/Diskriminierung_aus_Gr%C3%BCnden_der_Herkunft,_Ethnie,_Religion_oder_Sprache_in_Israel

https://www.tagesschau.de/ausland/asien/israel-armee-hamas-angriff-100.html

https://edition.cnn.com/2024/01/26/middleeast/hala-khreis-white-flag-shooting-gaza-cmd-intl/index.html

https://www.trtdeutsch.com/video/social_videos/israel-erschiesst-palastinenser-trotz-weisser-fahne-16778866

https://www.theguardian.com/world/article/2024/jul/07/israel-idf-hannibal-protocol-hamas-attack-haaretz

https://www.abc.net.au/news/2024-09-07/israel-hannibal-directive-kidnap-hamas-gaza-hostages-idf/104224430

https://www.spiegel.de/ausland/israel-gaza-krieg-hamas-geisel-kam-wohl-durch-armee-beschuss-ums-leben-a-238e5ce9-6904-4b9b-a4f2-24ddf9ffa78c

https://www.tagesspiegel.de/internationales/irrtumlich-von-israelischen-soldaten-erschossen-getotete-geiseln-hielten-weisse-flagge-hoch-und-trugen-keine-hemden-10936888.html

https://orf.at/stories/3353659/

https://www.tagesschau.de/ausland/asien/israel-versehentliche-geiseltoetung-100.html

https://de.wikipedia.org/wiki/Krieg_in_Israel_und_Gaza_seit_2023#Achtt%C3%A4gige_Feuerpause

https://de.wikipedia.org/wiki/Hannibal-Direktive

https://de.wikipedia.org/wiki/Geiselnahmen_der_Hamas_w%C3%A4hrend_des_Terrorangriffs_auf_Israel_2023#Befreiung_von_Geiseln

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/1/14/live-dozens-killed-as-israel-pounds-gaza-while-ceasefire-talks-continue (11.50)

https://www.tagesschau.de/newsticker/liveblog-nahost-dienstag-218.html (10.39)

https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/liveblog-eskalation-nahost-israel-100.html (10.15)

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/1/14/live-dozens-killed-as-israel-pounds-gaza-while-ceasefire-talks-continue (17.15)

https://www.tagesschau.de/newsticker/liveblog-nahost-dienstag-218.html (2.19)

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1417316/umfrage/opferzahlen-im-terrorkrieg-der-hamas-gegen-israel/