Aachen – Westjordanland – Gaza

Protestcamp in Aachen abgebaut

Das Protestcamp der Students for Palestine an der RWTH Aachen University ist – jedenfalls vorerst – Geschichte. Das Camp wurde im Mai 2024 gegründet. Es bestand unter anderem aus einem großen Hauptzelt, das als Küche, als Veranstaltungsraum und als Lernraum diente, einem Infostand und einer wechselnden Zahl von Schlafzelten. Es war an einem zentralen Ort situiert, nämlich direkt vor und neben dem Hauptgebäude der RWTH am Templergraben. Mit Fotos und Texten, Filmvorführungen, Vorträgen und Diskussionsrunden klärten die Studierenden über die Geschichte Palästinas, die menschenverachtende Rhetorik israelischer Politiker und die Gräueltaten des israelischen Militärs in Gaza auf.

Die Studierenden forderten von der RWTH unter anderem konkret ein Aussetzen der Kooperation mit der Technion Universität in Haifa. Die Technion Universität ist für besonders enge Verbindungen zum militärisch-industriellen Komplex in Israel bekannt. Sie wird zu einem nicht unerheblichen Teil von der israelischen Waffenindustrie finanziert. Viele Studierende und Lehrende der Technion Universität dienen als Reservisten in der israelischen Armee. An der Technion Universität werden Waffensysteme entwickelt, die in den völkerrechtswidrig besetzten Gebieten gegen die palästinensische Bevölkerung eingesetzt werden.

Ich bin grundsätzlich eine Verfechterin wissenschaftlichen und kulturellen Austauschs – und zwar auch (und vielleicht sogar gerade) mit Ländern, die – aus welchen Gründen auch immer – international geächtet sind. Daher stehe ich dem generellen Boykott russischer Wissenschaftsinstitutionen als Reaktion auf den Ukraine-Krieg kritisch gegenüber. Die RWTH hat, aus Solidarität mit der Ukraine, jeglichen Austausch mit russischen Studierenden und wissenschaftlichem Personal ausgesetzt. Das halte ich für überzogen und kontraproduktiv. Ich meine, dass Universitäten Orte des rationalen und freien Diskurses sein sollen, und dass wissenschaftlicher Austausch ein Weg sein kann, Frieden, Vernunft, Völkerverständigung und den Abbau von Vorurteilen zu fördern. Aus diesen Gründen unterstütze ich persönlich auch nicht den generellen Boykott israelischer Wissenschaftler/innen und das Aussetzen von Austauschprogrammen.

Dennoch kann m. E. der Boykott einzelner Institutionen bzw. das Aussetzen der Mitarbeit an bestimmten Projekten aus politischen und/oder moralischen Gründen geboten sein. Spätestens dann, wenn eine Forschungskooperation auf eine Mitwirkung an Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinauszulaufen droht, sollte eine öffentliche Hochschule sich aus einer solchen Kooperation zurückziehen.

Doch unabhängig von dieser Forderung war das Protestcamp vor allem wichtig als Ort der Aufklärung, der Diskussion – und als unübersehbares Zeichen der Solidarität mit den leidenden Menschen in Gaza. Auf einem der Plakate im Camp stand zu lesen: „If you are not outraged, you are not informed.“ In der Tat vermute ich, dass viele Menschen in Deutschland nicht ausreichend informiert bzw. sogar desinformiert sind über das, was in Gaza in den vergangenen 15 Monaten geschehen ist. Ich kann und will nämlich nicht glauben, dass die Mehrheit der Menschen in Deutschland und Österreich es gutheißen, dass ihre Regierungen einen Vernichtungskrieg gegen die Zivilbevölkerung unterstützen, einen Krieg, unter dem in erster Linie Kinder leiden, in zweiter Linie Frauen, kranke, behinderte und ältere Menschen: Kinder, die durch Schüsse in Kopf und Bauch sterben; Babys, die erfrieren, weil das israelische Militär die Einfuhr von Hilfslieferungen mit warmen Decken und Baumaterial für winterfeste Behausungen blockiert; Angriffe mit schweren Bomben auf Wohnblocks, die ganze Familien auslöschen; tausende Kinder, denen Arme oder Beine amputiert werden mussten; zehntausende Kinder, die Eltern und Geschwister verloren haben; gezielte Angriffe auf Rettungssanitäter im Einsatz; gezielte Angriffe auf Journalist/inn/en und Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen; gezielte Angriffe auf Menschen, die auf die Verteilung von Hilfsgütern warten; das gezielte Herbeiführen einer humanitären Katastrophe durch die Zerstörung der Infrastruktur für die Wasserversorgung, die Blockade von Lebensmittel-Lieferungen und medizinischem Material; massenhafte Verhaftungen und Inhaftierungen ohne Anklage; Folter; Leichenschändungen; die gezielte Zerstörung von Universitäten, Schulen und Gotteshäusern …

Die Zahl der direkten und indirekten Kriegsopfer in Gaza wird inzwischen auf 250.000 bis 300.000 Menschen geschätzt: Menschen, von Bomben zerfetzt, unter Trümmern begraben, auf der Flucht erschossen, von Panzern überrollt, zu Tode gefoltert, verstorben durch eine Kombination aus mehrfacher Vertreibung, Mangelernährung, Dehydrierung, Kälte, unzumutbare sanitäre Zustände und fehlende medizinische Versorgung.

Es ist nicht zuletzt die Unterstützung Deutschlands, die diesen verbrecherischen Krieg ermöglicht. Die „Staatsräson“ der bedingungslosen Unterstützung Israels steht offenbar für die meisten Volksvertreter/innen nach wie vor über dem Völkerrecht und der Menschlichkeit. Daher braucht es Veränderung von unten. Das heißt, es braucht engagierte, idealistische und mutige Menschen wie die Aachener Students for Palestine.

Das Protestcamp war mehr als 200 Tage lang rund um die Uhr besetzt. Es dürfte damit eines der am längsten bestehenden Protestcamps Deutschlands seit Beginn des Krieges in Gaza am 7. Oktober 2023 gewesen sein. Dabei hatten die Aktivist/inn/en mit erheblichen Widerständen zu kämpfen. Nach dem Willen der RWTH-Leitung sollte das Camp zunächst schon Ende Juni, endgültig aber Ende September von der Polizei geräumt werden – mit der karnevalistisch anmutenden Begründung, es würde die Freiheit von Lehre und Forschung einschränken. Die Aktivist/inn/en legten gegen den Räumungsbescheid Beschwerde beim Aachener Verwaltungsgericht ein, jedoch ohne Erfolg. Sie wandten sich daraufhin an das Oberverwaltungsgericht (OVG) in Münster. Einige Professor/inn/en der RWTH (darunter auch ich) hatten die Studierenden mit schriftlichen Stellungnahmen unterstützt. Das OVG stellte fest, dass das Protestcamp eine rechtlich zulässige Versammlung sei. Nach diesem juristischen Sieg hielten die Aktivist/inn/en noch mehr als drei Monate die Stellung – bei Regen, Wind und Frost.

Anfang des Jahres haben sich die Studierenden entschlossen, das Camp freiwillig zu räumen. Anfang dieser Woche wurden die Abbau-Arbeiten abgeschlossen. Dass just in dieser Woche ein Waffenstillstand für Gaza beschlossen wurde, ist ein schöner Zufall. Dennoch, so fürchte ich, wird es für die Students of Palestine und alle anderen, die sich für Frieden und Gerechtigkeit in Palästina einsetzen, auch in Zukunft noch viel zu tun geben.

Quellen:

https://www.t-online.de/region/aachen/id_100574366/aachen-camp-for-gaza-schliesst-palaestina-protestierende-ueben-kritik.html

Bericht in der Aachener Zeitung vom 4. Januar 2025

https://www.newarab.com/analysis/technion-elite-university-israeli-student-soldiers

https://witnessing-the-gaza-war.com/

https://www.vaticannews.va/de/welt/news/2024-01/gaza-ibrahim-faltas-vikar-kustodie-waisen-krieg-neujahr-lage.html

Update zu Dr. Abu Safiyah

Dr. Hussam Abu Safiyah wurde am 27. Dezember 2024 im Zuge der Zwangsräumung des Kamal-Adwan-Krankenhauses verhaftet. (Siehe Blogbeiträge vom 4. und 8. Januar 2024.) Nach erheblichem Druck hat die israelische Regierung am 13. Januar seinen Aufenthaltsort bekanntgegeben: Er befindet sich im Ofer-Gefängnis im Westjordanland. Laut Aussagen von ehemaligen Mitgefangenen wurde er gefoltert und ist in schlechtem Gesundheitszustand.

Naji Abbas, ein Rechtsanwalt, der für die israelische NGO Physicians for Human Rights – Israel (PHRI) arbeitet, berichtet, seine Organisation habe in den vergangenen Monaten 26 inhaftierte Ärzte besuchen können. Alle berichteten von Folter. Viele haben nach Monaten der Haft noch keine Information über konkrete Anklagepunkte. Es gebe aber noch viele weitere Gesundheitsarbeiter/innen, die nicht besucht werden konnten. Von vielen ist nicht bekannt, wo sie festgehalten werden.

Dr. Abu Safiyah durfte noch keinen Besuch von seinem Anwalt empfangen. Naji Abbas berichtet, Dr. Abu Safiyah wäre ursprünglich – wie die meisten palästinensischen Gefangenen – als sog. „unlawful combatant“ festgenommen worden. Nach israelischem Recht können „unlawful combatants“ ohne konkrete Anklage inhaftiert werden. Mittlerweile jedoch wäre Dr. Abu Safiyahs Rechtsstatus geändert worden: Er ist nun ein regulärer Gefangener, gegen den Anklage erhoben werden soll. Über den Inhalt der Anklage ist noch nichts bekannt. Diese Veränderung im Rechtsstatus ist eine gute Nachricht. Sie dürfte damit zu tun haben, dass Dr. Abu Safiyahs Fall weltweit sehr viel Aufmerksamkeit erregt hat.

Quelle:

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/1/13/live-israel-bombs-another-gaza-city-school-as-truce-talks-continue (16.45)

Update zum Indonesischen Krankenhaus

Am 27. Dezember wurde ein Teil der Patienten und des Personals aus dem zwangsgeräumten Kamal-Adwan-Krankenhaus in das schon damals weitgehend zerstörte Indonesische Krankenhaus verlegt. Wenige Tage später verlangte die israelische Armee die Räumung des Indonesischen Krankenhauses. Der größte Teil der Menschen folgte dem Räumungsbefehl. Ca. 20 Menschen blieben in dem belagerten Gebäude. Eine Krankenschwester berichtete in einem Videocall vom 10. Januar, es gäbe kein Wasser mehr und sie seien eingeschlossen. (Siehe Blogbeiträge vom 8. und 12. Januar 2024.) Am 15. Januar berichtet Al Jazeera, dass durch israelische Angriffe die Elektrizitätsversorgung des Krankenhauses zerstört worden sei. Überdies hätten israelische Fahrzeuge damit begonnen, die Westseite des Krankenhauses zu demolieren. Weitere Informationen zum Schicksal der eingeschlossenen Menschen konnte ich nicht finden.

Quelle:

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/1/15/live-israel-launches-fierce-strikes-on-gaza-as-ceasefire-deal-moves-closer (12.20)


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