Erster Geiselaustausch
Vergangenen Sonntag, am 19. Januar, trat die Waffenstillstandsvereinbarung in Gaza in Kraft – drei Stunden später als am Vortag angekündigt. Die Verzögerung war von der israelischen Seite angekündigt worden, aus nichtigem Anlass. Allein innerhalb dieser drei Stunden tötete das israelische Militär mindestens 19 Menschen im Gazastreifen, Dutzende wurden verletzt. Angriffe während der Verzögerungsphase gab es sowohl im Norden als auch im Süden sowie in der Mitte Gazas.
Die Menschen in Gaza versammelten sich auf Straßen und Plätzen, um die Waffenruhe zu feieren. Vielfach herrschte euphorische Stimmung. Die meisten Menschen konnten es kaum erwarten, in ihre ehemaligen Wohngebiete zurückzukehren. Viele sagten, dass sie ihr altes Leben zurückwollen, zurückgelassen Verwandte, Nachbarn und Freunde wiedersehen – oder zumindest ihre Überreste anständig beerdigen. Viele sagten, sie würden zur Not auf den Trümmern ihres Hauses ein Zelt aufstellen, aber sie wollen unbedingt zurück.
Die erste Runde des Geiselaustauschs wurde erfolgreich über die Bühne gebracht. Zunächst wurden drei israelische Frauen freigelassen. Die Hamas inszenierte diese Freilassung wie eine Siegesfeier. Inmitten von Menschenmassen (sowohl maskierten bewaffneten Kämpfern als auch Zivilisten) wurden die drei Frauen dem Roten Kreuz übergeben und umgehend nach Israel gebracht. Auch in Israel gab es öffentliche Freudenfeiern. Den Frauen stand die Freude über die Rückkehr in die Heimat in die blassen Gesichter geschrieben. Kameras waren auch beim ersten Wiedersehen mit den Angehörigen dabei: berührende Bilder des Friedens.
Einige Stunden später wurden vereinbarungsgemäß 90 palästinensische Gefangene freigelassen. Zuvor hatten die israelischen Behörden den Palästinensern Freudenkundgebungen zur Begrüßung der Freigelassenen untersagt. Gegen Menschen, die sich vor dem Ofer-Gefängnis versammelt hatten, wurde Tränengas eingesetzt. Der israelische Verteidigungsminister Katz forderte das Militär auf, Freudenkundgebungen im Westjordanland zu unterbinden. Die Menschen im Westjordanland ließen sich vom Feiern aber nicht abhalten.
Quellen
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/1/19/live-countdown-to-ceasefire-in-gaza-as-israel-continues-attacks (09.45, 17.40, 18.30, 21.10)
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/1/20/live-palestinian-prisoners-freed-by-israel-after-captives-released-in-gaza (15.25, 19.00)
Wer sind die freigelassenen Palästinenser/innen?
Von den 90 freigelassenen Palästinenser/innen sind 69 Frauen und 21 Kinder. Sie stammen alle aus dem Westjordanland. Die meisten waren in sog. „Administrativhaft“. Das ist zeitlich unbegrenzte Haft ohne Anklage und ohne Verfahren. 82 von ihnen wurden erst nach dem 7. Oktober 2023 inhaftiert.
Eine der prominentesten freigelassenen palästinensischen Gefangenen ist Khalida Jarrar: Politikerin, Feministin und Menschenrechtsaktivistin. Jarrar war mehrfach inhaftiert worden, zuletzt am 26. Dezember 2023. Ihre erste Verhaftung erfolgte im Zuge der Teilnahme an einem Studierendenprotest aus Anlass des Internationalen Frauentages. Sie war damals Master-Studentin. Sie setzte sich unter anderem für Frauenrechte, für die Verbesserung der öffentlichen Schulen und für die Rechte von Gefangenen ein.
Nach ihrer Freilassung am vergangenen Sonntag schilderte sie ihre Haftbedingungen. Sie war in Einzelhaft in einer Zelle von 1,5 x 2 Meter. Es habe keine Ventilation gegeben, bei Temperaturen bis 45 Grad Celsius. Die meiste Zeit gab es in der Zelle kein Wasser. Die Behandlung durch das Wachpersonal sei „harsch“ gewesen.
Allein in der Nacht von Montag auf Dienstag wurden im Westjordanland mindestens 20 Palästinenser/innen verhaftet, in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch mindestens 25. Das heißt, in nur zwei Tagen haben die Israelis die durch den Geiselaustausch von Sonntag freigewordenen Plätze in israelischen Haftanstalten schon zur Hälfte wieder gefüllt.
Quellen
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/1/21/live-israeli-forces-raid-west-bank-as-ceasefire-sees-aid-trucks-reach-gaza (10.20, 13.00)
https://www.aljazeera.com/news/2025/1/20/who-are-the-palestinian-prisoners-released-by-israel
Zerstörung
Die Waffenruhe schenkte vielen Menschen in Gaza zum ersten Mal seit vielen Monaten einen ruhigen Schlaf. Viele machten sich schon am ersten Tag auf in ihre alten Wohngebiete. Dort erlitt die Euphorie einen ersten Dämpfer: Viele sind geschockt vom Ausmaß der Zerstörung. Die meisten finden nur noch Trümmer ihrer ehemaligen Häuser, manche konnten nicht einmal mehr mit Sicherheit sagen, wo genau ihr Haus gestanden hatte. In vielen Gebieten ist die Wasserversorgungs-Infrastruktur vollkommen zerstört.
Journalist/inn/en dokumentieren die Zerstörung mit Fotos und Videos:



Video aus dem Kamal-Adwan-Krankenhaus in Nordgaza:
Video-Luftaufnahmen von der Zerstörung im Süden Gazas, von Tal as-Sultan, nordwestlich von Rafah:
Quellen:
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/1/20/live-palestinian-prisoners-freed-by-israel-after-captives-released-in-gaza (18.00, 19.45)
Unvollkommene Waffenruhe
Laut Berichten hält die Waffenruhe bisher „im Großen und Ganzen“. Am Montag wurde in Rafah ein Kind von einem Scharfschützen erschossen. Ein Video zeigt einen Mann, der versucht, die Leiche des Kindes zu bergen. Dabei fallen weitere Schüsse. Der Mann kann sich noch in Sicherheit bringen.
Am Dienstag wurden zwei Zivilisten durch Drohnenangriffe verletzt. Acht weitere Menschen wurden durch Gewehrfeuer in Rafah verwundet. Israelische Militärboote schießen auf die Küste Gazas.
Seit Beginn der Waffenruhe fließt viel Hilfe in den Gazastreifen: Am Sonntag sollen es mehr als 600 LKW gewesen sein, am Montag mehr als 900, davon einige Hundert in den Norden Gazas, wo die Not am größten ist. Katar kündigte eine große Menge an Treibstofflieferungen an.
Man sieht nun auch wieder Polizisten auf den Straßen Gazas. Sie versuchen unter anderem, die Menschen davon abzuhalten, in Regionen zu gehen, in denen noch israelisches Militär präsent ist. Sie sollen aber auch Hilfslieferungen vor kriminellen Banden schützen; und manche Regeln sogar den Verkehr:

Techniker bemühen sich, die teilweise zerstörte Telekommunikations-Infrastruktur wiederherzustellen.
Es gibt offenbar ein großes Bemühen, soweit wie möglich zu einer Art von Normalität zurückzukehren, in Ordnung zu bringen, was in Ordnung gebracht werden kann.
Unmittelbar nach Beginn der Waffenruhe hat sich der Zivilschutz an die Aufgabe gemacht, Leichen aus den Trümmern zu bergen. Bis Montag Abend wurden allein in Rafah mehr als 130 Tote geborgen.
Quellen:
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/1/20/live-palestinian-prisoners-freed-by-israel-after-captives-released-in-gaza (12.00, 15.00, 15.36, 17.00, 17.15, 20.45, 22.15, 23.00, 23.45)
Israelische Invasion im Westjordanland
Am Dienstag führte das israelische Militär in der Stadt Dschenin und seinem Flüchtlingslager eine Invasion mit Helikoptern und Bodentruppen durch. Mindestens 10 Palästinenser/innen kamen dabei ums Leben, Dutzende wurden verletzt. Unter den Opfern sind Kinder und medizinisches Personal. Die israelische Armee hinderte Krankenwagen daran, zu den Verletzten zu gelangen.
Das Flüchtlingslager in Dschenin wird als „nahezu unbewohnbar“ beschrieben. Die israelische Armee forderte 2000 Familien auf, Dschenin zu verlassen. Sie sollten in andere Orte westlich von Dschenin gehen. Der Bürgermeister von Dschenin berichtete, die Stadtverwaltung habe für die Vertriebenen Fahrzeuge bereitstellen wollen, doch das israelische Militär behindere die Bereitstellung von Hilfe.
Der Angriff kam nicht unerwartet. In den vergangenen Monaten gab es immer wieder Aktionen des israelischen Militärs in Dschenin; und zu Beginn des Waffenstillstands in Gaza hatte das israelische Militär eine großangelegte Militäroperation angekündigt.
Es besteht die Gefahr, dass das Westjordanland ein zweites Gaza wird.
Im Westjordanland leiden die Palästinenser/innen seit Jahrzehnten unter Repressionen, Willkür, Militärgewalt und gewalttätigen Übergriffen durch israelische Siedler. Die stetige Ausweitung der illegalen jüdischen Siedlungen und damit einhergehend eine immer stärkere Einschränkung der Bewegungsfreiheit schnürt ihnen nach und nach die Luft zum Atmen ab. Bewaffnete jüdische Siedler bedrohen Palästinenser auf deren eigenem Land, greifen sie an, setzen ihr Hab und Gut in Brand – sehr oft mit Unterstützung des Militärs.
Die Lage hat sich seit dem 7. Oktober 2023 deutlich verschärft. Bis Dezember 2024 wurden mehr als 1.800 Angriffe israelischer Siedler auf Palästinenser/innen und deren Eigentum im Westjordanland dokumentiert. In diesem Zeitraum wurden mehr als 700 Palästinenser/innen durch israelische Siedler- und Militärgewalt getötet. Seit Inkrafttreten des Waffenstillstandes in Gaza ist die Gewalt aber noch einmal eskaliert.
Der neue US-Präsident Donald Trump hat am ersten Tag seiner neuen Amtszeit die von seinem Vorgänger Joe Biden verhängten Sanktionen gegen einige gewalttätige jüdische Siedler aufgehoben. Dieser Schritt wurde in Israel sehr begrüßt und wird mit Sicherheit als Ermutigung verstanden, die Gewaltexzesse gegenüber der palästinensischen Bevölkerung fortzusetzen.
Übrigens hat Trump noch eine Maßnahme seines Amtsvorgängers rückgängig gemacht: Die USA liefern ab sofort wieder 1000-Kilo-Bomben an Israel. Deren Einsatz in dichtbesiedeltem Gebiet ist völkerrechtswidrig. Sie wurden aber dennoch in Gaza großflächig eingesetzt. Wird als nächstes Dschenin dem Erdboden gleichgemacht? Und dann Hebron? Bethlehem? …?
Quellen:
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/1/21/live-israeli-forces-raid-west-bank-as-ceasefire-sees-aid-trucks-reach-gaza (5.15, 10.05, 10.20, 10.50, 13.15, 13.19, 13.40, 16.20, 19.30)
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/1/22/live-israel-kills-10-in-the-west-bank-120-bodies-found-in-gaza-in-2-days (5.30, 20.45, 11.00, 12.00, 12.15)
https://www.hrw.org/de/world-report/2025
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