Der Waffenstillstand in Gaza hält im Wesentlichen. Die Hamas hat sich bisher von israelischen Verstößen gegen die Waffenruhe nicht zu einer militärischen Reaktion provozieren lassen. Gestern (am Samstag) fand die zweite Runde des Gefangenenaustauschs statt. Ob nach Ablauf der 42 Tage der Phase I des Waffenstillstands die geplante Phase II in Kraft treten wird, ist im Moment vollkommen ungewiss. Israels Regierung drängt auf eine möglichst schnelle Fortsetzung des Krieges. Die israelische Zivilgesellschaft ist tief gespalten, scheint aber mehrheitlich für eine Verlängerung der Waffenruhe bis zur Freilassung aller israelischen Geiseln zu sein.
Doch wie soll es danach weitergehen mit Gaza? Darüber macht man sich auch in Israel Gedanken. Ich möchte heute über eine aktuelle Stellungnahme zu dieser Frage berichten. Der Autor ist der israelische Generalmajor der Reserve Tamir Hayman, der seit 34 Jahren in den IDF (Israely Defence Forces) dient. Überdies ist Hayman der geschäfsführende Direktor des einflussreichen israelischen „Think Tanks“ Institute of National Security Studies (INSS).
Der Titel des Beitrags lautet „“Security Concerns of the Gaza Ceasefire and Hostage Release Agreement“. Der Text erschien am 21. Januar 2025 in INSS Insight No. 1935. Im Folgenden fasse ich die wichtigsten Punkte dieses Beitrags zusammen. (Wörtliche Zitate sind von mir aus dem Englischen übersetzt.) Es geht um drei Punkte: (i) Soll Israel sich an den vereinbarten „Geisel-Deal“ halten? (ii) Welche Sicherheitsrisiken birgt die mit der Hamas getroffene Vereinbarung für Israel? (iii) Wie soll Israel nach Beendigung des Waffenstillstandes mit Gaza umgehen?
Soll sich Israel an die Waffenruhe halten?
Haymans Ausführungen zum ersten Punkt interpretiere ich als klares Bekenntnis zum Waffenstillstands- und Geiselaustausch-Abkommen. Er hält fest, dass die Geiseln „nach Hause gebracht“ werden müssen. Das sei für Israel wichtig aus einer „ethischen und moralischen Perspektive“. Sollte das nicht gelingen, könnte das Zweifel erregen an Israels Bekenntnis zu Prinzipien der gegenseitigen Verantwortung und Solidarität.
Die Frage, ob ein solches Abkommen nicht schon Monate früher abgeschlossen hätte werden können, sei „in der Tat beunruhigend“. Sie sei jedoch von Historikern zu beantworten oder „von einer staatlichen Untersuchungskommission, von der zu hoffen sei, dass sie eingerichtet wird.“
Sicherheitsrisiken für Israel?
Gegner des Abkommens führen folgende Sicherheitsrisiken für Israel ins Feld:
1. Freigelassene Palästinenser könnten künftige Hamas-Anführer werden.
2. Die Rückkehr von Zivilisten nach Nordgaza könnte eine erneute Bedrohung darstellen.
3. Ein Rückzug der israelischen Armee aus Gaza würde die Hamas motivieren, ihren Widerstand gegen Israel aufrechtzuerhalten und würde ihr erlauben, ihre frühere militärische Stärke wieder aufzubauen.
Generalmajor Hayman hält das Sicherheitsrisiko, das von der Entlassung von „Terroristen“ ausgeht, für kein ernsthaftes Problem. Gefährliche Leute würden ohnehin in Drittstaaten abgeschoben; und Israel habe ja wiederholt gezeigt, dass es Bedrohungen überall in der Welt „neutralisieren“ könne. Weniger gefährliche Leute würden streng überwacht und gegebenenfalls wieder eingesperrt oder „eliminiert“.
Die Rückkehr von Zivilisten in den nördlichen Gazastreifen hält Hayman nicht für grundsätzlich gefährlich. Jedoch:
„Solange der israelische Konflikt andauert wird es unvermeidlicherweise Individuen geben, die sich terroristischen Organisationen anschließen – sogar jene, die gegenwärtig noch unschuldige Kinder sind. Ohne die Wurzeln des Problems anzugehen werden wir nur fortfahren, die Symptome zu behandeln.“
Nach Auffassung Haymans ist „die Wurzel des Problems“ aber nicht die seit Jahrzehnten andauernde Entrechtung und Unterdrückung der Palästinenser/innen, die gegen sie gerichtete Blockadepolitik und Aggression, die inzwischen Hunderttausende das Leben gekostet hat, jeden Tag neue Todesopfer fordert und selbst im günstigsten Fall noch über Jahrzehnte viel Leid verursachen wird. Diese Aspekte spielen in Haymans Überlegungen überhaupt keine Rolle. Seiner Ansicht nach ist „die Wurzel des Problems“, vielmehr, dass die Hamas ihre terroristische Infrastruktur wieder aufbauen könnte.
Wie soll man nun „der Wurzel des Problems begegnen“? – Wenn es nach Hayman geht, durch noch mehr Gewalt:
„Es ist vernünftig anzunehmen, dass die IDF ihre Strategie zur Verhinderung der Wiederbewaffnung der Hamas und damit einer neuen Bedrohung durch sie wesentlich verändern werden. Diese Strategie wird wahrscheinlich viel aggressiver sein als der modus operandi vor dem 7. Oktober war. Sie wird ähnlich sein wie das Vorgehen im Libanon, welches das Wafffenstillstandsabkommen von November 2024 gebracht und ein Ende des Krieges mit der Hisbollah herbeigeführt hat.
[…] Israel muss sich auf die Möglichkeit vorbereiten, in einigen Wochen oder Monaten den Kampf in Gaza wieder aufzunehmen. Wenn diese Zeit kommt, wird Israel nicht länger vermeiden können, sich mit jener Frage zu beschäftigen, die aus Bequemlichkeit bisher oft unter den Teppich gekehrt wurde: Was sollen wir mit dem Gaza-Streifen machen?“
Israelische Perspektiven auf die Zukunft Gazas
Israel müsse sich entscheiden, welches „Endspiel“ für Gaza man wolle. Generalmajor Hayman sieht dafür hauptsächlich diese vier Alternativen:
1. Erneute Besetzung und Annexion von Gaza; israelische Besiedlung von Nordgaza.
2. Erneute Besetzung unter Militärverwaltung.
3. „Geplantes Chaos“: Israel zieht sich völlig aus Gaza zurück, behält sich aber das Recht vor, jederzeit „gezielte Militärschläge“ gegen die Hamas durchzuführen.
4. Eine alternative Zivilverwaltung, wobei die militärische Kontrolle weiterhin bei Israel bleibt, durch „gezielte Luftschläge und verdeckte Operationen“.
Der Autor sagt es zwar nicht explizit, aber seine Diskussion zeigt, dass er eine klare Präferenz für die vierte Option hat. Gegen die Annexions-Option sprechen seiner Ansicht nach vor allem zwei Gründe: Erstens würde die internationale Gemeinschaft das nicht akzeptieren. Möglicherweise wäre sogar Donald Trump dagegen. Zweitens wäre eine israelische Besiedlung nur im Norden möglich und nicht im gesamten Gazastreifen. Der Gazastreifen ist nach Ansicht Haymans diese Kosten nicht wert.
Die zweite Option – Besatzung mit Militärverwaltung – wäre für Israel ebenfalls zu teuer: Es bräuchte sehr viele Soldaten, sehr viel Munition, Israels Wirtschaft würde leiden, und es würde Opfer geben. Außerdem würde es zu einer internationalen Isolierung Israels führen und die Normalisierung der Beziehungen zu den arabischen Nachbarn würde in weite Ferne rücken. Unter den gegebenen Bedingungen wäre es unwahrscheinlich, dass sich einer der arabischen Nachbarn in Gaza engagieren wolle. Israel hätte für alle Zeiten den Gaza-Streifen am Hals – „ein verwüstetes Territorium mit mehr als zwei Millionen verarmten, hungrigen, wütenden und verzweifelten Palästinensern.“
Die Strategie des geplanten Chaos würde mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass die Hamas die führende Kraft in Gaza bleibt. Selbst wenn es gelänge, sie militärisch zu zerschlagen, würde sie langfristig eine Bedrohung für Israel darstellen: „So lange die Ideologie des gewaltsamen Widerstandes fortbesteht, wird das Problem ungelöst bleiben.“
Hayman neigt eindeutig der vierten Option zu, also einer alternativen zivilen Verwaltung. Die Vorteile sind seiner Ansicht nach: Israel könnte nach wie vor die militärische Kontrolle behalten, müsste sich aber nicht mehr mit lästigen praktischen Fragen herumschlagen, zum Beispiel betreffend den Wiederaufbau der Infrastruktur in Gaza. Überdies wäre diese Alternative mit internationalem Recht kompatibel.
Die große Frage ist freilich: Wer soll denn die Verwaltung Gazas übernehmen? In diesem Punkt bleibt Hayman vage. Klar ist nur: Die Hamas darf dabei keinesfalls eine Rolle spielen, und die Palästinensische Autonomiebehörde (die nun das Westjordanland verwaltet) allenfalls eine symbolische. Im Grunde sieht Hayman die Rolle der Autonomiebehörde darin, irgendeiner Art von Fremdherrschaft zuzustimmen.
Kommentar
Das Grundproblem von Haymans Analyse ist, dass sie nicht tief genug geht. Dass schlagkräftige bewaffnete Truppen, die gegen die israelische Besatzung kämpfen, für Israel ein permanentes „Sicherheitsrisiko“ darstellen, ist nur bedingt richtig. Denn die eigentliche Wurzel des Problems ist nicht der bewaffnete Kampf gegen die Besatzung, sondern die Besatzung selbst. Sobald die Besatzung weg ist (sowohl in Gaza als auch im Westjordanland und in Ostjerusalem), entfällt der Grund für den bewaffneten Kampf.
Die meisten Palästinenser/innen wollen nur eines: ein Leben in Sicherheit und Würde. Dies schließt unter anderem ein: keine Militäraktionen gegen Zivilist/inn/en mehr; effektiver staatlicher Schutz vor Siedlergewalt; keine entschädigungslosen Enteignungen mehr; ein Ende der Praxis willkürlicher Verhaftungen und langfristiger Inhaftierung ohne Anklage und Möglichkeit zur Verteidigung; die Möglichkeit politischer Partizipation; effektiver Schutz vor Folter und unmenschlicher Behandlung; uneingeschränkte Bewegungsfreiheit; Gleichbehandlung arabischer und jüdischer Menschen vor dem Gesetz; Pressefreiheit
Alle diese Dinge sind für Menschen in demokratischen Gesellschaften eine Selbstverständlichkeit. Wenn sie den Palästinenser/inne/n endlich gewährt werden, dann stehen die Chancen gut, dass bewaffnete palästinensische Verbände kein permanentes Sicherheitsrisiko für Israel mehr darstellen. Das ist ein alternatives Szenario, das in Haymans Katalog nicht vorkommt. Nachdem jahrzehntelange Gewalt bisher nicht zu einer Verbesserung der Sicherheitslage für Israel geführt hat, sollte es auch aus israelischer Perspektive einen Versuch wert sein.
Die Vorschläge, die von Generalmajor Hayman vorgetragen werden, laufen allesamt auf eine Fortsetzung der Besatzungspolitik hinaus – eventuell verkleidet als „alternative Zivilverwaltung“, die selbstverständlich in erster Linie den Interessen Israels zu dienen hätte. Die Wurzel des Übels bliebe damit bestehen – und damit das unsägliche Leiden der Palästinenser/innen und das permanente Sicherheitsrisiko für Israel.
Doch Generalmajor Haymans Beitrag enthält, wenn man ihn genau liest, ganz nebenbei einige interessante Hinweise. Der vielleicht wichtigste: Den Israelis ist es nicht gleichgültig, wie sie von der Welt wahrgenommen werden. Dies verdient Beachtung, weil israelische Politiker manchmal so auftreten, als wäre ihnen das völlig egal. Internationale Isolierung aufgrund von Völkerrechtsverletzungen wird durchaus auf der Kostenseite verbucht. Das bedeutet, dass auch die europäischen Staaten durchaus Einfluss darauf nehmen können, wie das „Endspiel für Gaza“ ausgeht.
Quellen:
https://www.inss.org.il/publication/hostage-ceasefire-agreement-2025/
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