Waffenstillstand, Tag 23 bis 26

Bild: Das Flüchtlingslager in Jabalia in Gaza City nach dem Abzug der israelischen Armee.

Waffenstillstand vorerst gerettet

Die Vermittler zwischen Israel und der Hamas konnten eine Fortsetzung des Waffenstillstandes erwirken. Gestern, Samstag, wurden wie geplant drei isrealische Geiseln freigelassen. Im Gegenzug wurden 369 palästinensische Häftlinge aus israelischen Gefängnissen entlassen.

Die Hamas hatte vergangene Woche gedroht, die Geisel-Freilassungen vorerst auszusetzen, weil Israel die Waffenstillstandsvereinbarungen vielfach gebrochen hatte. Dabei ging es einerseits um fortgesetzte militärische Gewalt durch israelische Soldaten im Gazastreifen, aber vor allem um unzureichende humanitäre Hilfe.

Die Anzahl der LKWs mit Hilfslieferungen, die nach Gaza durchgelassen werden, scheint in den vergangenen Tagen wieder gestiegen zu sein. Allerdings warten die Menschen in Gaza noch immer auf das dringend benötigte schwere Gerät zum Wegräumen von Schutt und Trümmern, auf winterfeste Unterkünfte bzw. Baumaterial und Material zur Reparatur von lebensnotwendiger Infrastruktur. Die benötigten Güter wurden von arabischen Ländern bereitgestellt und stehen auf der ägyptischen Seite von Gazas Südgrenze. Laut Vereinbarung sollte Israel gestern, am Samstag, die Einfuhr genehmigen. Doch Israel blockiert diese Lieferungen nach wie vor (Stand heute, 10.00). Das ist eine weitere Missachtung der Vereinbarungen.

Nach wie vor gibt es täglich Meldungen über Angriffe israelischer Soldaten in Gaza – selbstverständlich ein klarer Bruch der Waffenstillstandsvereinbarung. In den vergangenen Tagen feuerten israelische Soldaten auf ein Fischerboot vor der Küste Gazas und verwundeten damit zwei Männer. In Zentralgaza wurde ein Mann von einem israelischen Scharfschützen erschossen. In Rafah (Südgaza) wurde ein Mann getötet und ein weiterer bei einem Drohnenangriff verletzt.

Doch nicht nur in Gaza verletzt die israelische Armee das ausgehandelte Waffenstillstandsabkommen. Dies geschieht auch im Libanon, wo seit November 2024 offiziell ein Waffenstillstand mit der Hisbollah gilt. Die israelische Armee ließ die ursprünglich gesetzte Frist zum vollständigen Rückzug aus dem Libanon verstreichen und verschob sie einseitig auf den 18. Februar. Nach neuesten Meldungen will Israel aber auch nach dem 18. Februar noch Soldaten auf libanesischem Gebiet stationiert halten.

UN-Experten beschuldigen Israel, im Libanon Menschenrechte verletzt zu haben. Während des Waffenstillstands hat Israel mindestens 57 Zivilisten getötet und 260 Häuser zerstört. Die Vertreibungen und Zerstörungen haben eine humanitäre Krise im Libanon verursacht. Jüngst hat Israel hat in dem Dorf Odaisseh nahe der israelischen Grenze Häuser in Brand gesetzt.

Quellen:

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/2/15/live-gaza-prepares-for-exchange-of-3-israeli-captives-for-369-palestinians (15.50)

https:// http://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/2/14/live-israel-warns-of-war-as-hamas-confirms-3-gaza-captives-to-be-freed (16.55)

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/2/13/live-positive-signals-for-israeli-captives-as-more-aid-enters-gaza (11.46, 12.00, 15.45, 17.13, 17.50)

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/2/12/live-trump-says-us-will-take-gaza-un-estimates-53bn-needed-to-rebuild (15.00)

Razzia in Buchhandlung

Am Sonntag, dem 9. Februar, stürmte die Polizei die bekannte und angesehene Buchhandlung Educational Bookshop in Ostjerusalem, beschlagnahmte säckeweise Bücher und verhaftete die beiden palästinensischen Inhaber. Ihnen wurde vorgeworfen, Bücher zu verkaufen, die „zum Terrorismus anstiften“.

Der Educational Bookshop ist spezialisiert auf israelische und palästinensische Geschichte und Kultur. Er bietet wissenschaftliche Werke und Literatur ebenso wie Sprachkurse, Kochbücher und Bücher für Kinder. Der Laden ist zudem seit vielen Jahren ein beliebter Treffpunkt sowohl für ortsansässige Israelis und Palästinenser als auch für ausländische Diplomaten und Journalisten. Sicherlich war dies mit ein Grund für die Welle des Protests gegen diesen Übergriff.

Der Bruder eines der Verhafteten sagte, die Polizisten hätten jedes Buch mitgenommen, auf dem sie eine palästinensische Fahne gesehen hätten. Darunter waren Bücher von israelischen Autoren und ein Kindermalbuch mit dem Titel „From the Jordan to the Sea“.

In der israelischen Jerusalem Post wird die Beschlagnahme der Bücher und die Verhaftung der Inhaber folgendermaßen gerechtfertigt. Dort heißt es (Übersetzungen aus dem Englischen): „In Zeiten des Krieges kann man nicht erlauben, dass Feindpropaganda frei zirkuliert. Es sollte daher sehr beunruhigen, dass in Israels Hauptstadt Material, das zur Aufstachelung [zum Terrorismus] ermuntert, leicht verfügbar ist.“

Eine Anmerkung zum letzten Satz dieses Zitats: Ostjerusalem ist nach internationalem Recht palästinensisches Gebiet. Israel hält es seit 1967 völkerrechtswidrig besetzt. 1980 hat Israel per Gesetz das gesamte Jerusalem (einschließlich Ostjerusalems) zur Hauptstadt Israels erklärt. Doch außer den USA anerkennen nur sehr wenige Länder auf der Welt Jerusalem als Israels Hauptstadt.

Beschlagnahmt wurde bei der Razzia unter anderem ein Ausmalbuch für Kinder, mit dem Titel „From the Jordan to the Sea“. (Anmerkung: „From the Jordan to the Sea“ beschreibt die Ausdehnung des historischen Palästina vom Jordanfluss bis zum Mittelmeer.)

Warum ist dieses Kinderbuch aus israelischer Sicht so gefährlich, dass es von der Polizei beschlagnahmt werden muss? – Das erklärt Penina Horowitz in der Jerusalem Post so:

„Das Malbuch, das in Südafrika publiziert wurde, zielt darauf ab, kleinen Kindern die Idee der palästinensischen Nation nahe zu bringen. Es illustriert sowohl die Nakba (‚Katastrophentag‘, wie die Palästinenser den Unabhängigkeitskrieg von 1948 zu bezeichnen pflegen) als auch die erste und die zweite Intifada gegen Israel, und es stellt den symbolträchtigen Felsendom vor. Das Buch stellt Kinder dar, die Steine auf die israelische Armee werfen, und es stellt die palästinensische Aktivistin Ahed Tamimi als ein Beispiel dar, dem es nachzueifern gilt.“

Weiters hält Horowitz fest:

„Wie sich herausstellt verkauft der Educational Bookshop nicht nur Bücher mit der palästinensischen Fahne am Cover, dem Word ‚Palästina‘ im Namen oder solche von Autoren wie Noam Chomsky, Ilan Pappe oder Ari Shavit.“

„Zum Verkauf auf der Webseite des Educational Bookshop angeboten ist das aufrührerische Buch Apartheid Israel: Possibilities for the Struggle Within. Sein Umschlag unterstellt dem jüdischen Staat: ‚Massendeportationen‘, ‚Bevölkerungstransfers‘, und ‚ethnische Säuberung‘ ebenso wie ‚Apartheit-Grausamkeit‘.“

Gefährlich sind also aus israelischer Sicht die Schriften weltweit angesehener jüdischer Intellektueller. Ilan Pappé ist ein israelischer Historiker, Noam Chomsky ein amerikanischer Philosoph und Ari Shavit ein israelischer Journalist und Autor. Ihnen allen gemeinsam ist, dass sie scharfe Kritiker der israelischen Besatzungspolitik sind. Als gefährlich angesehen wird aber vor allem alles, was in den Palästinensern ein Bewusstsein ihrer eigenen Identität stärken könnte, einschließlich ihrer Geschichte, ihrer Kultur und Religion. Massendeportationen, Bevölkerungstransfers, ethnische Säuberungen und Apartheit-Grausamkeit sind nicht von den Palästinensern zum Zwecke antiisraelischer Propaganda erfunden worden. Sie geschahen tatsächlich, und zwar nicht nur kurz vor und nach der Staatsgründung Israels im Jahr 1948, sondern auch in der jüngsten Geschichte (vor allem von Oktober 2023 bis jetzt). Gerade jetzt geschehen sie im Westjordanland; und die „ethnische Säuberung“ des Gazastreifens (also die dauerhafte Zwangsumsiedlung der palästinensischen Einwohner in andere Länder) ist jetzt offizielle israelische Regierungslinie.

Ja, es mag sein, dass diese Bücher für Israel tatsächlich gefährlich sind – aber sicher nicht, weil sie zum Terrorismus aufstacheln, sondern weil die Wahrheit von Natur aus eine Gefahr ist für einen Unrechtsstaat, der sein Unrecht mit Lügen rechtfertigt.

Die beiden Buchhändler blieben zwei Tage inhaftiert. Nach heftigen Protesten sowohl in Jerusalem als auch im Ausland wurden sie am Dienstag aus dem Polizeigewahrsam entlassen. Sie wurden aber zu einigen Tagen Hausarrest verurteilt und dürfen ihren Laden 20 Tage lang nicht betreten.

Der Educational Bookshop hat einen Webshop und ein sehr gut sortiertes Angebot an englischsprachigen Büchern. Warum nicht dort bestellen anstatt bei Amazon? Es wäre ein Akt der Solidarität und der ganz konkreten Unterstützung! Hier ist der Link:

https://educationalbookshop.com/

Quellen

https://en.wikipedia.org/wiki/East_Jerusalem

https://www.aljazeera.com/program/newsfeed/2025/2/10/outrage-after-israeli-police-raid-famed-palestinian-bookshops (12.20, 15.30, 16.00)

https://www.jpost.com/opinion/article-842050

Update zu Dr. Hussam Abu Safiyah

Über Dr. Hussam Abu Safiyah habe ich in diesem Blog schon mehrmals berichtet: siehe unter anderem die Beiträge vom 18. Januar und 2. Februar. Dr. Hussam Abu Safiyah leitete während des Krieges das Kamal-Adwan-Krankenhaus in Gaza. Er hatte sich in Videobotschaften immer wieder an die Weltöffentlichkeit gewandt, um auf die katastrophale Lage der Gesundheitseinrichtungen in Gaza hinzuweisen. So wurde er zu einer der weltweit bekanntesten Stimmen der leidenden Menschen in Gaza, aber auch zu einem Symbol für Standfestigkeit, Mut und Menschlichkeit.

Am 27. Dezember 2024 wurde das Kamal-Adwan-Krankenhaus von der israelischen Armee gestürmt und zwangsevakuiert. Dr. Abu Safiyah wurde, gemeinsam mit Hunderten Mitarbeiter/innen, festgenommen. Er wurde zunächst in das berüchtigte Lager Sde Teiman in Israel gebracht, später in das Ofer-Gefängnis im Westjordanland.

Wie fast alle Gefangenen aus Gaza wurde er als sog. „unrechtmäßiger Kombattant“ inhaftiert. Das ist eine von Israel eingeführte juristische Kategorie, die gegen allgemein akzeptierte rechtsstaatliche Grundprinzipien und gegen internationales Recht verstößt. Gegen „unrechtmäßige Kombattanten“ wird keine formale Anklage erhoben. Konkret bedeutet das, dass die israelischen Behörden keine Gründe für die Inhaftierung angeben müssen, weder gegenüber den Häftlingen noch gegenüber deren Anwälten. Es gibt kein ordentliches Gerichtsverfahren, keine Verhandlung, daher auch keine Chance zur Verteidigung. Sofern Belege für irgendeine Schuld eines Angeklagten vorhanden sind, werden diese geheimgehalten. Sie können daher auch nicht überprüft und gegebenenfalls widerlegt werden. Die Haft „unrechtmäßiger Kombattanten“ ist nicht zeitlich begrenzt. Sie können im Prinzip lebenslänglich eingesperrt werden, ohne ein rechtsstaatliches Verfahren. Mit dem Gesetz gegen „unrechtmäßige Kombattanten“ hat Israel sich ein pseudo-rechtliches Werkzeug für Unrecht im großen Stil geschaffen: willkürliche Massenverhaftungen und zeitlich unbegrenzte Inhaftierung ohne Angabe von Gründen und ohne Verfahren. Tausende Menschen aus Gaza landeten so in israelischer Haft, darunter viele Mitarbeiter/innen von Gesundheitseinrichtungen.

Dr. Abu Safiyahs Fall erregte weltweites Aufsehen und weltweiten Protest. Wohl aus diesem Grund wurde sein Status Mitte Januar geändert: Er war fortan ein regulärer Gefangener. Als solcher hätte er Anspruch auf ein ordentliches Verfahren. Konkrete Anklagepunkte gaben die Behörden jedoch nicht bekannt. Kurz nach seiner Verhaftung wurde behauptet, man habe Beweise, dass er ein hochrangiges Hamas-Mitglied sei. Außerdem wurde ihm vorgeworfen, die Klinik sei mit seinem Wissen und seiner Duldung als militärischer Stützpunkt der Hamas genutzt worden. Für diese Behauptungen hat Israel niemals irgendwelche Beweise vorgelegt, und sie widersprechen den Aussagen zahlreicher Kollegen und Mitarbeiter/innen aus dem In- und Ausland.

Eine Menschenrechtsorganisation hatte ihm einen Anwalt besorgt. Die israelischen Behörden verweigerten jedoch mehrere Wochen lang die Besuchserlaubnis. Vor wenigen Tagen, am 12. Februar, konnte sein Anwalt ihn endlich im Ofer-Gefängnis besuchen.

Die gute Nachricht ist: Dr. Abu Safiyah ist am Leben, und sein Gesundheitszustand hat sich zwar verschlechtert, ist aber nicht akut lebensbedrohlich.

Die schlechte Nachricht ist: Sein Status wurde erneut geändert. Er gilt nun wieder als „unrechtmäßiger Kombattant“, und daher wird es wohl kein Verfahren gegen ihn geben. Dies bedeutet: Er ist jetzt wieder vollkommen der Willkür des israelischen Unrechtssystems ausgeliefert.

Dr. Abu Safiyah wurde während der Haft schwer misshandelt und leidet aufgrund vorhandener Vorerkrankungen ganz besonders unter den unmenschlichen Haftbedingungen. Er berichtet, er wäre 10 Tage lang fast ununterbrochen verhört worden. Er wies während dieser quälenden Verhöre alle Anschuldigungen zurück und blieb bei seiner Aussage, dass er in Gaza ausschließlich als Arzt tätig gewesen sei.

Über seine Behandlung während der Haft berichtete er: Er musste gefesselt stundenlang auf scharfen Kieseln sitzen. Er verbrachte 24 Tage in Einzelhaft. Er erhält eine (unzureichende) Mahlzeit pro Tag und hat seit Ende Dezember ca. 15 kg abgenommen. Er hat ein Problem mit dem Herzmuskel und chronisch hohen Blutdruck, bekommt aber keine adäquate medizinische Versorgung. Er wurde mit Elektroschocks und schweren Schlägen gegen die Brust gefoltert. Einmal verlor er aufgrund von Atemproblemen in seiner Zelle das Bewusstsein.

Diese Schilderungen decken sich mit den Berichten von vielen anderen entlassenen Gefangenen sowie von Ärzten, die die Häftlinge nach der Entlassung medizinisch untersucht haben. Häftlinge berichteten außerdem: Sie wurden über längere Zeit mit verbundenen Augen sehr lauten und unangenehmen Geräuschen ausgesetzt. Es gab weder Seife noch saubere Kleidung. Die unhygienischen Bedingungen haben zu einer starken Verbreitung von Skabies (Krätze) geführt.

Quellen:

https://www.middleeastmonitor.com/20250214-israel-arrests-gaza-doctor-abu-safiya-under-unlawful-combatant-law-rights-group/ https://electronicintifada.net/blogs/nora-barrows-friedman/israel-tortures-dr-hussam-abu-safiya-extends-arbitrary-detention

https://peoplesdispatch.org/2025/02/12/dr-hussam-abu-safiya-has-been-tortured-and-denied-care-while-in-israeli-prison

https://countercurrents.org/2025/02/dr-hussam-abu-safiya-subjected-to-severe-mistreatment-in-israeli-prison/

https://www.diakonia.se/ihl/news/unlawful-incarceration-legality-military-detention-regime-gaza/


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