Trotz Zerstörung und Beschädigung aller Schulgebäude in Gaza und trotz der Ermordung von hunderten Lehrkräften beginnt für Tausende Kinder in Gaza nun ein neues Schuljahr. Eine berührende Bilderserie zeigt, wie sehr sich die jungen Lehrerinnen bemühen, den Kindern nicht nur Bildung und ein Stück Normalität zu geben, sondern auch Spaß.
Noch herrscht in Gaza – offiziell – Waffenstillstand. Die Menschen versuchen, so gut es geht, inmitten der Ruinen so etwas wie Normalität in ihr Leben zu bringen. Die Wiedereröffnung von Schulen ist das vielleicht machtvollste Zeichen der unglaublichen Resilienz der Menschen in Gaza – auch wenn die meisten Kinder in zerstörten Gebäuden oder Zelten unterrichtet werden, vielfach ohne Mobiliar, am Boden sitzend.
Zwei Brunnen wurden repariert. Bäckereien sind in Betrieb. Das Gesundheitspersonal hat zu keinem Zeitpunkt aufgehört, Dienste anzubieten. Täglich werden Leichen aus den Trümmern geborgen.
Doch der Krieg ist nicht zu Ende. Täglich werden Bewohner/innen Gazas von israelischen Soldaten erschossen (so starb vor einigen Tagen ein junger Bauer, der seine zerstörten Anbauflächen inspizierte, durch die Kugel eines Scharfschützen). Seit Beginn des Waffenstillstands wurden in Gaza mehr als 100 Menschen von israelischen Soldaten getötet.
„Kalter Krieg“ in Gaza, Panzer im Westjordanland
Die Menschen in Gaza leiden unter einem Kälteeinbruch. Regen und Abwasser dringt in die Zelte und in andere provisorische Unterkünfte ein. Krankheiten breiten sich aus, vor allem unter den Kindern. In den letzten Tagen sind mindestens sieben Säuglinge an Unterkühlung gestorben. Die Babys waren gesund zur Welt gekommen.
Der Tod dieser Kinder wäre leicht zu vermeiden gewesen. Denn auf der ägyptischen Seite der Grenze in Rafah stehen Tausende mobile homes (einfache Fertighäuser) bereit – Lieferungen von arabischen Staaten. Doch Israel erlaubt deren Einfuhr nicht – entgegen der Waffenstillstandsvereinbarungen. Bisher wurde die Einfuhr von sechs mobile homes gestattet – allerdings nur für internationale Hilfsorganisationen.
Zeitgleich führt Israel einen psychologischen Krieg gegen die Menschen in Gaza. Am vergangenen Samstag hätten 620 palästinensische Gefangene freigelassen werden sollen – im Austausch gegen israelische Geiseln. Die Hamas kam ihren Verpflichtungen nach und übergab dem Roten Kreuz sechs lebende und vier tote Geiseln. Israel hingegen zögerte die Freilassung der palästinensischen Gefangenen zunächst ohne Angabe von Gründen hinaus und erklärte schließlich, man werde die geplanten Freilassungen für unbestimmte Zeit aussetzen. Als Begründung wurde angegeben, dass die Hamas die freigelassenen Geiseln „demütigenden Ritualen“ unterzogen hätte.
Die Wahrheit ist, dass die Hamas die Geiselfreilassungen propagandistisch genutzt und als Machtdemonstration inszeniert hatte. Die Gefangenen wurden auf einer Bühne vorgeführt. Sie waren jedoch ordentlich gekleidet, nicht gefesselt, hatten die Augen nicht verbunden, gingen und standen aufrecht, wiesen keine äußerlich sichtbaren Anzeichen von Misshandlungen auf und wurden nicht erkennbar bedroht oder eingeschüchtert.
In der Zwischenzeit hatten sich in Gaza hunderte Menschen versammelt, um die entlassenen Häftlinge willkommen zu heißen. Sie warteten den ganzen Tag in Regen und Kälte. Viele davon warteten auf Angehörige, die sie jahrelang, manchmal jahrzehntelang, nicht mehr gesehen hatten. Manche hatten erst kurzfristig erfahren, dass Söhne/Ehemänner/Brüder noch am Leben sind (und nicht unter den Trümmern Gazas begraben oder an einem unbekannten Ort in Israel umgebracht). Die Ankündigung einer unbefristeten Aussetzung der Freilassungen traf die Menschen in ihrer vorfreudigen Erregung mitten ins Herz.
Am 20. Februar warf die israelische Armee über Gaza in großer Zahl ein Flugblatt ab. Darauf war zu lesen:
„An die ehrenwerte Bevölkerung von Gaza,
nach den Ereignissen, die stattgefunden haben, dem vorübergehenden Waffenstillstand und vor der Umsetzung von Trumps obligatorischem Plan – der Euch eine Zwangsumsiedlung aufzwingen wird, ob ihr ihn akzeptiert oder nicht – haben wir beschlossen, einen letzten Appell an diejenigen zu richten, die im Gegenzug für ihre Zusammenarbeit mit uns Hilfe erhalten möchten. Die Weltkarte wird sich nicht ändern, wenn alle Menschen in Gaza aufhören zu existieren. Niemand wird mit euch mitfühlen, und niemand wird nach euch fragen. Ihr seid eurem unausweichlichen Schicksal allein überlassen worden. (…)“
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Die Waffenstillstands-Vermittler konnten erneut eine Einigung zwischen der Hamas und Israel erzielen: Die Hamas sollte vier israelische Leichname ohne öffentliche Zeremonie übergeben. Im Gegenzug sollte Israel nun die 620 Palästinenser freilassen, die eigentlich schon seit vergangener Woche frei sein sollten, plus eine „äquivalente Anzahl“ von Frauen und Kindern, die nach dem 7. Oktober 2023 inhaftiert wurden.
Der Austausch wurde in der Nacht von gestern auf heute durchgeführt. Mehrere Hundert Männer wurden nach Gaza gebracht, einige Dutzend nach Ramallah im Westjordanland, knapp 100 wurden nach Ägypten deportiert.
Es gibt, vor allem aus Gaza, viel Videomaterial über die Ankunft der entlassenen Häftlinge. Sie wurden in Bussen zum Europäischen Krankenhaus in Khan Younis gebracht, erwartet von einer dicht gedrängten Menge.
Für mich ist derzeit unklar, ob die israelische Seite die Vereinbarungen in vollem Umfang erfüllt hat. Frauen konnte ich unter den Freigelassenen nicht sehen. Bekannt ist, dass Israel die vereinbarte Freilassung von zwei Dutzend Minderjährigen bis zur eindeutigen Feststellung der Identität der israelischen Leichen ausgesetzt hat. Die Identität der Israelis ist nun bestätigt. Bezüglich der Freilassung der minderjährigen Palästinenser konnte ich keine Informationen finden.
Die entlassenen Häftlinge sind extrem abgemagert. Einige von ihnen wurden so schwer misshandelt, dass sie nicht gehen können. Fast alle leiden unter Hautkrankheiten. Einer leidet unter einer Lungenfibrose. Die Häftlinge wurden in den Brustbereich geschlagen. Einige erlitten dadurch Rippenfrakturen. Einem Mann wurde eine Hand amputiert, einem anderen ein Fuß, infolge von unbehandelten Diabetes-Erkrankungen. Unter den Entlassenen sind 15 Mitarbeiter aus dem Gesundheitsbereich.
Manche küssen den Boden, nachdem sie ausgestiegen sind. Manche lachen, winken, machen das Victory-Zeichen. Andere sind für all das zu erschöpft. Manche gehen auf Krücken. Manche brauchen Hilfe zum Aussteigen. Die meisten sind junge Männer, aber es gibt auch alte bzw. vorzeitig gealterte.
Die entlassenen Häftlinge mussten T-Shirts mit einer Botschaft tragen, auf denen in arabischer Schrift geschrieben stand: “I pursue my enemies until they are eliminated.” Die meisten Gefangenen trugen es verkehrt herum, als sie in Gaza ankamen. Manche zogen es aus und trampelten darauf herum.
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Derweil geht die israelische Invasion im Westjordanland weiter. Die Angriffe sind nun nicht mehr auf die Flüchtlingslager begrenzt, sondern finden in Städten und Dörfern verstreut über das ganze Land statt. Israel setzt jetzt Panzer ein. Das ist der erste israelische Panzereinsatz im Westjordanland seit 2005. Die Angst vor einer neuen Nakba greift um sich. Das Rote Kreuz warnt vor einer humanitären Krise. Zehntausende Vertriebene haben Obdach in überfüllten Moscheen und Schulen gesucht. Der israelische Verteidigungsminister Katz sagt, die israelischen Truppen würden in einigen der jetzt besetzten Flüchtlingscamp „für das nächste Jahr“ bleiben, damit die Bewohner nicht zurückkehren können. Dies betrifft offenbar die Lager in Dschenin, Tulkarem und Nur Shams.
In Tuqu (südöstlich von Bethlehem) plündern israelische Soldaten palästinensisches Eigentum. In der Stadt Qabatiya (südlich von Dschenin) ordnet die israelische Armee eine 48stündige Ausgangssperre an. Während die Menschen ihre Häuser nicht verlassen dürfen, zerstören die Soldaten Infrastruktur und beschädigen Geschäfte und Fahrzeuge. Die israelische Armee stürmt Qusra, eine Stadt südlich von Nablus. Die Soldaten setzen Tränengas ein. Israelische Truppen stürmen unter anderem die Städte Yatma und Qusra, südlich von Nablus. Sie setzen Tränengas und scharfe Munition ein. Im Jordantal wird ein palästinensischer Mann verhaftet, während er sein Vieh hütet. In Dschenin werden zwei Kinder getötet, darunter die 13jährige Rimas al-Amouri. Das Mädchen wird in den Rücken geschossen. Zeugen berichten, es hätte zu diesem Zeitpunkt in der Gegend keine Auseinandersetzungen gegeben.
Im nördlichen Jordantal zerstören Siedler das Feld eines palästinensischen Bauern, indem sie ihr Vieh auf dieses Feld treiben. In der Stadt Jaba, nordöstlich von Jerusalem, greifen israelische Siedler eine Beduinengemeinde an und setzten deren Eigentum in Brand. Unter dem Schutz israelischer Soldaten greifen israelische Siedler die Stadt Deir Dibwan, östlich von Ramallah, an. Sie stehlen hunderte Stück Vieh sowie Wassertanks. Seit Oktober 2023 werden durchschnittlich acht Siedlerattacken täglich gemeldet. Vorher waren es drei.
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Israelische Politiker artikulieren ohne jede Zurückhaltung ihren Rassismus und ihre genozidalen Absichten. Jüngst äußerte sich Nissim Vaturi vom Likud in einem Radiointerview so:
„Wer ist in Gaza unschuldig? Wir müssen die Kinder und Frauen trennen und die Erwachsenen in Gaza exekutieren, wir waren bisher viel zu zurückhaltend. Niemand auf der Welt will die BewohnerInnen von Gaza, (…), sie wissen, dass sie Abschaum und Untermenschen sind. (…) Bald werden wir Jenin auch in Gaza verwandeln. Die Terroristen, die im Rahmen des Abkommens freigelassen werden, sollen alle dort sein, damit wir sie später eliminieren können. Löscht Jenin aus!“
Dieses Interview wurde am 23. Februar in Radio Kol BaRama gesendet. Nissim Vaturi ist stellvertretender Vorsitzender der Knesset (des israelischen Parlaments). Seine Partei, der Likud, ist die stärkste Regierungspartei und die Partei von Ministerpräsident Netanjahu. Man muss also davon ausgehen, dass seine Ansichten von der Mehrheit der Knesset-Mitglieder geteilt werden.
Quellen:
Rundmail von Martha Tonsern, Vertretung des Staates Palästina in Österreich, am 25. Februar 2025.
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/2/23/live-israel-delays-release-of-620-palestinians-hamas-frees-6-captives (09.15, 13.30, 14.15, 16.45, 17.15)
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/2/22/live-six-israeli-captives-to-be-exchanged-for-602-palestinian-prisoners (14.30, 15.30, 17.00, 17.30, 18.45)
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/2/21/live-israel-ramps-up-west-bank-assault-after-bus-blasts-near-tel-aviv (13.45, 15.30, 16.20, 17.55, 18.15)
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/2/27/live-israel-identifying-captives-bodies-releases-palestinian-prisoners (04.25, 04.35, 04.55, 06.00, 06.50, 08.15)
Update zu Dr. Hussam Abu Safiyah
Über Dr. Hussam Abu Safiyah habe ich in diesem Blog schon mehrfach berichtet (siehe Beiträge vom 4. Januar, 8. Januar, 12. Januar, 18. Januar, 2. Februar, 16. Februar).
Am 19. Februar wird in einem israelischen Fernsehsender ein Interview mit Dr. Abu Safiyah gezeigt. Dabei ist dieser an Händen und Füßen gefesselt. Er wirkt sehr erschöpft und geschwächt, in wenigen Wochen um mindestens 10 Jahre gealtert. Das Interview wird von einem israelischen Journalisten geführt. Dr. Abu Safiyah sagt, dass er nicht wisse, weshalb er inhaftiert sei. Er sei Arzt und habe Zivilisten behandelt. Er habe niemals israelische Geiseln gesehen oder in irgendeiner Form mit ihnen zu tun gehabt.
Der israelische Journalist, der das Interview geführt hatte, weist Berichte zurück, wonach Dr. Abu Safiyah gefoltert worden sei. Er sagt: „We met him at Ofer Prison, and he is in excellent condition.“ Die Fernsehaufnahmen strafen diese Behauptung Lügen. Der Journalist behauptet außerdem – im Widerspruch zur Aussage des Betroffenen – dass Dr. Abu Safiyah ihm gesagt habe, dass israelische Geiseln in seinem Krankenhaus gewesen seien und er diese behandelt hätte.
Dr. Abu Safiyahs Familie betrachtet dieses Interview als eine Form des „psychologischen Terrors“. Seine Aussagen seien bewusst verzerrt und manipuliert worden.
Eine israelische Zeitung berichtete vor einigen Tagen, dass Dr. Abu Safiyah im Zuge des Gefangenenaustausch zwischen Israel und der Hamas freikommen soll. Unter den vergangene Nacht Freigelassenen ist er jedoch offenbar nicht gewesen.
Quellen:
Hoffnung
Bilderserie: Propalästinensische Proteste in Südafrika.
Auf der ganzen Welt empfinden die Menschen tiefes Mitgefühl mit dem palästinensischen Volk, sowie Zorn und Empörung über die israelischen Verbrechen. Dies gilt ganz besonders für jene Länder des „Globalen Südens“, die selber lange Zeit unter kolonialer Herrschaft gelitten haben. Das damit verbundene Leid und Unrecht ist ihnen ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben. Das ist die Quelle ihrer tiefen Solidarität mit den Palästinenser/inne/n.
Wenn sich die globalen Machtverhältnisse zugunsten des Globalen Südens verschieben, dann wird sich das Blatt auch für die Palästinenser/innen wenden. Ich denke, dass diese Verschiebung bereits im Gange ist.
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