Schock, Trauer und Zorn

Bild: Trauernde Frauen in der Leichenhalle des Europäischen Krankenhauses in Khan Younis, Gaza.

Am 18. März, gegen zwei Uhr nachts Ortszeit, begannen wieder die Bomben auf Gaza zu fallen. In dieser einen Nacht starben mehr als 400 Menschen, mehrheitlich Frauen, Kinder und alte Menschen.

Man kann nicht sagen, dass es aus heiterem Himmel kam. Es war seit Wochen klar, dass die israelische Regierung um jeden Preis die Fortsetzung des Krieges will. Dennoch war da die Hoffnung, dass sich doch andere Kräfte durchsetzen können, namentlich: die parlamentarische Opposition in Israel; Teile der israelischen Zivilgesellschaft; nüchterne israelische Fachleute für Militär und Wirtschaft (die schon lange warnen, dass der Krieg in Gaza für Israel kostspielig ist und selbst im Fall eines Sieges wenig einbringen würde); der amerikanische Gesandte Wittkoff (der offenbar ein großes Interesse daran hatte, Geiseln mit amerikanischer Staatsbürgerschaft frei zu bekommen); die arabischen Verhandler.

Doch nun ist es anders gekommen. Die Kräfte der Vernunft und Mäßigung (von Menschlichkeit will ich jetzt gar nicht reden) wurden wieder einmal von Hass, Sadismus, Rachsucht, Gier und Fanatismus besiegt. Die Nachricht traf mich – wie viele andere wohl auch – unvorbereitet. Nach dem ersten betäubenden Schock kam die Trauer, das Mitleiden mit den Opfern, dann der Zorn auf die Täter und ihre Unterstützer (namentlich die USA, Deutschland und Österreich).

Weltweit wurde der Angriff Israels verurteilt, auch von der EU-Außenbeauftragten Kaja Kallas und Frankreichs Präsident Macron – und sogar von der scheidenden deutschen Außenministerin Baerbock.

Die USA stehen an der Seite Israels. Trump hatte in den vergangenen Wochen wiederholt in markigen Worten mit weiteren Angriffen auf Gaza gedroht, und das Vorgehen Israels war – nach Angaben von offiziellen israelischen Stellen – mit den USA abgestimmt. In offiziellen Stellungnahmen geben die USA der Hamas die Schuld an der erneuten Eskalation.

Deutschlands kommende Regierung schweigt. Österreichs Regierung schweigt. In den 20-Uhr-Nachrichten des öffentlichen deutschen Fernsehens am 18. März kam der neuerliche Angriff auf Gaza an dritter Stelle der Hauptberichte, und es war der kürzeste dieser drei Berichte. Bomben auf Tausende schlafende Zivilisten, die sich seit Wochen nicht mehr satt essen konnten, hunderte tote Frauen und Kinder, das sind in Deutschland keine „breaking news“ – jedenfalls nicht, wenn es sich bei den Toten um Palästinenser/innen handelt.

Um es noch einmal zu sagen: Die neuen israelischen Angriffe auf Gaza wurden nicht durch die Hamas provoziert. Vielmehr hat die Hamas sich an alle Punkte der im Januar getroffenen Vereinbarung gehalten, obwoh Israel wesentliche Punkte der Vereinbarung nicht eingehalten und während des so genannten „Waffenstillstands“ praktisch täglich Zivilist/inn/en in Gaza getötet oder verletzt hat. Die Hamas war sogar zu Zugeständnissen bereit, die über die Vereinbarungen hinausgingen und erklärte stets (und erklärt immer noch), zu weiteren Verhandlungen bereit zu sein.

Doch diese israelische Regierung will keinen Frieden. Würde diese Regierung die Gewalt gegen die Palästinenser/innen beenden, wenn alle Geiseln freigelassen würden und die Hamas ihre Waffen abgeben würde? – Ich sehe kaum einen Grund dafür, das anzunehmen. Es geht offenbar weder um die Geiseln noch um Sicherheit für Israels Bevölkerung. Es geht um „ethnische Säuberung“ (was für ein furchtbarer Ausdruck!), um Land für Siedler, um gute Geschäfte für Immobilienentwickler – und es geht, so jedenfalls mein Eindruck, mehr und mehr um blanken Hass. Anders kann ich mir viele dokumentierte Grausamkeiten der israelischen Armee gegen Frauen, Kinder, alte und behinderte Menschen nicht erklären.

Selbst wenn Israel einen Friedensvertrag für Gaza unterzeichnen würde, was wäre dieser Vertrag wert? Wie sollte man darauf vertrauen, angesichts der jüngsten israelischen Brüche von Vereinbarungen nicht nur in Gaza, sondern auch im Libanon und in Syrien? Doch Israel stellt ja solche Vereinbarungen gar nicht in Aussicht. Im Gegenteil: Israelische Politiker werden nicht müde zu erklären, dass die Lösung des Problems ihrer Ansicht nach darin besteht, dass die Palästinenser/innen Palästina zu verlassen haben.

Ich hoffe aus tiefster Seele, dass das niemals geschehen wird. Aber, nur als Gedankenexperiment: Würde dann endlich Frieden im Nahen Osten einkehren? Auch das sehe ich nicht. Denn Israel führt ja nicht nur Krieg in Gaza und in der West Bank (also im Westjordanland), sondern gleichzeitig im Libanon und in Syrien. Sollen also die Libanesen und die Syrer sich auch woanders eine neue Heimat suchen? Würde Israel dann endlich Frieden geben? Wohl kaum, denn da gibt es ja noch die widerständigen Huthis im Jemen und vor allem: den Erzfeind Iran.

***

Die letzte Phase des Zionismus?

Trauer und Zorn sind gesunde Gefühle, angesichts von so viel Leid und Unrecht. Doch es ist wichtig, sich davon nicht lähmen zu lassen. Mehr und mehr bin ich davon überzeugt, dass der berühmte israelische Historiker Ilan Pappé Recht hat mit seiner Hypothese, dass der Zionismus dem Untergang geweiht ist. Mit „Zionismus“ ist hier gemeint: das Projekt eines weitgehend „ethnisch reinen“ Judenstaates, in dem Nichtjuden allenfalls als rechtlose Minderheit geduldet sind.

In einem Interview von Januar 2025 sagte Ilan Pappé unter anderem Folgendes:

1) Der Zionismus sei in eine neue Phase eingetreten, in eine Phase, die sehr viel aggressiver sei als alle vorangegangenen Phasen. Diese Phase sei sehr wahrscheinlich die letzte Phase des Zionismus. Allerdings könne diese letzte Phase noch Jahrzehnte andauern.

2) An der neuen US-Regierung mit Trump und Musk könne er nichts Positives erkennen. Die einzige Chance sei, dass diese Leute die USA wirtschaftlich und außenpolitisch herunterwirtschaften. Eine geschwächte USA würde sich weniger in die Angelegenheiten des Nahen Ostens einmischen, und das wäre gut.

3) Es brauche eine internationale Intervention. Aber diese müsse aus dem Globalen Süden kommen, nicht aus dem Globalen Norden.

4) Im Moment sieht er keine Kräfte, die die Katastrophe, in der wir uns gerade befinden, beenden könnten.

5) Er befürchtet, dass auch ein Waffenstillstand den Genozid an den Palästinensern womöglich nicht beenden wird. 

6) Er sieht eine unheilige Allianz zwischen der Neuen Rechten in Europa und dem Zionismus. Das wirkt auf den ersten Blick widersprüchlich, weil es in der Neuen Rechten auch noch den alten Antisemitismus gibt. Der Widerspruch erklärt sich einerseits durch die Islamophobie als verbindendes Band. Unabhängig davon sei dem europäischen Zionismus ein Antisemitismus inhärent: Antisemiten wollen die Juden lieber in Palästina haben als in Europa.

7) Junge Israelis seien tief indoktriniert durch ihre Erziehung.

Die Entwicklungen in den zwei Monaten, die seit diesem Interview vergangen haben, geben Pappé in mindestens zwei Punkten Recht:

1. Der „Waffenstillstand“ (der eigentlich diesen Namen nie verdient hat) hat das Morden nicht beendet, sondern nur vorübergehend verlangsamt. Es ist für die Menschen in Gaza das Schlimmste zu befürchten.

2. Die Hoffnungen, dass die Trump-Regierung für Frieden im Nahen Osten sorgen würde, haben sich als unbegründet herausgestellt. Nicht nur unterstützt die Trump-Regierung offen die israelische Kriegspolitik. Inzwischen ist sie sogar aktiv in den Krieg eingetreten – nämlich durch Bombenangriffe auf den Jemen.

Die amerikanischen Bombardements im Jemen begannen am 18. März. Trump hatte sie tags zuvor schon angekündigt. An diesem einen Tag sollen 170 Angriffe in verschiedenen Regionen des Jemen ausgeführt worden sein. Dutzende Frauen und Kinder wurden dabei getötet.

Hintergrund der Angriffe auf den Jemen ist die Solidarität der jemenitischen Huthi-Rebellen mit den Palästinensern. Die Huthi-Rebellen hatten während des Gaza-Krieges immer wieder Raketen auf Israel abgeschossen. Vor allem aber hatten sie Angriffe auf Handelsschiffe im Roten Meer ausgeführt und damit erheblichen wirtschaftlichen Druck auf Israel ausgeübt. Sie hatten ihre Angriffe mit Beginn des Waffenstillstandes in Gaza eingestellt, aber stets betont, sie würden sie wieder aufnehmen, sollte Israel die Bombardements in Gaza fortsetzen. Sie hatten überdies gedroht, ihre Angriffe auf israelische Schiffe wieder aufzunehmen, falls Israel die Blockade Gazas nicht aufhebe.

Noch in einem weiteren Punkt scheinen sich Pappés Prognosen zu bewahrheiten: Tatsächlich sieht es ganz danach aus, als würde Trump die USA politisch und vor allem wirtschaftlich gegen die Wand fahren. US-Aktienkurse sind auf Talfahrt, die Angst vor steigender Inflation geht um, ausgelöst durch Trumps aggressive Zollpolitik.

Ein Detail am Rande (doch von nicht unerheblicher symbolischer Bedeutung): Trump ist es bis jetzt auch nicht gelungen, die amerikanische „Eierkrise“ in den Griff zu bekommen. Ausgelöst wurde diese (noch während der Amtszeit Bidens) durch eine Vogelgrippe-Epidemie. Das Resultat: Massiv gestiegene Preise und leere Regale in den Supermärkten. Trump hatte im Wahlkampf Biden die Schuld daran gegeben und versprochen, für ausreichend Nachschub und günstige Preise zu sorgen. Doch nun – ausgerechnet in der Vor-Osterzeit – sind die Preise weiter gestiegen, und leere Regale gehören immer noch zum Alltag. Mittlerweile suchen die USA in halb Europa um Eierhilfe an – unter anderem auch in Dänemark, der Türkei, Österreich und Deutschland.

Dazu fällt mir ein [Achtung Witz!]:

„Warum können die Amerikaner derzeit keinen Krieg gewinnen?“ – „Weil sie keine Eier haben.“

Nun wieder ernsthaft: Wer auf Donald Trump als Freund angewiesen ist, der ist schon verloren.

Trotzdem, Hoffnung

Freilich, die jetzt lebenden Palästinenser/innen können auf das Ende des Zionismus nicht warten. Für sie geht es jetzt ums nackte Überleben. Was auch immer getan werden kann, um ihnen zu helfen, muss getan werden.

Hier in Deutschland und Österreich geht es wesentlich darum, dass die Menschen die Wahrheit erfahren. Im Moment drohen hierzulande denjenigen, die die Wahrheit über Israel und Palästina aussprechen, saftige Repressionen. In Deutschland wurde jüngst eine Beamtin im Bundesdienst entlassen, weil sie auf einem privaten Social-media-Konto geschrieben hatte, dass Israel in Gaza einen Völkermord begeht und daher gegen internationales Recht verstößt.

Trotzdem – oder gerade deshalb – darf man nicht schweigen. Darum wiederhole ich (ebenfalls deutsche Beamtin): Ich habe keinen Zweifel daran, dass Israel gegen internationales Recht verstößt, und ich folge der Einschätzung zahlreicher Experten, dass das, was gerade im Gazastreifen geschieht, ein Völkermord ist.

Immerhin, es gibt auch in Deutschland Hoffnungsschimmer: Es scheint, dass sich die Stimmung zumindest in den Medien durch die Ereignisse vom vergangenen Dienstag zu drehen beginnt. Im Nahost-Liveblog der ARD vom 18. März finden sich unter anderem folgende Schlagzeilen:

  • EU fordert Ende israelischer Militäroperationen in Gaza
  • Frankreichs Regierung fordert Ende der Gewalt
  • Arabische Staaten verurteilen israelische Angriffe im Gazastreifen
  • Geisel-Angehörige rufen zu Massenprotesten in Jerusalem auf
  • Medizinerin berichtet von überfüllten Notaufnahmen
  • Israel hat Bedingungen für zweite Waffenruhe-Phase nicht erfüllt
  • Hamas macht Israel für Scheitern der Waffenruhe verantwortlich
  • Ehemalige Geiseln kritisieren Israels Angriffe
  • Oppositionspolitiker: Netanjahu will politisches Überleben sichern
  • Ägypten wirft Israel Bruch der Waffenruhe vor
  • ARD-Korrespondentin: Viele Wohngebäude angegriffen
  • UN kritisieren Kriegsverbrechen in von Israel besetzten Gebieten
  • Kreml zeigt sich besorgt wegen hoher Opferzahl
  • Guterres schockiert über Israels Luftangriffe auf Gazastreifen
  • UN-Koordinator nennt Israels Angriffe unverantwortlich

Das ist – verglichen mit der bisherigen Berichterstattung seit Oktober 2023 – eine Sensation. Geradezu unglaublich ist dieses Detail: Unter den Eintrag mit dem Titel „US-Regierung macht Hamas für das Ende der Waffenruhe verantwortlich“ (14.18) hat die verantwortliche Redakteurin doch tatsächlich folgenden Satz geschrieben: „Die Hamas hat dieser Darstellung deutlich widersprochen“; und dieser Satz ist mit einer Meldung über die Stellungnahme der Hamas (13.32) verlinkt.

Quellen:

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/3/18/live-trump-threatens-iran-as-deadly-us-attacks-on-yemens-houthis-continue (13.20)

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/3/19/live-outrage-as-israeli-attacks-break-gaza-ceasefire-killing-hundreds (14.00)

https://www.aljazeera.com/news/2025/3/18/world-reaction-to-israels-wave-of-deadly-attacks-on-gaza

https://www.tagesschau.de/newsticker/liveblog-nahost-dienstag-236.html (09.17, 14.18)

https://www.tagesschau.de/newsticker/liveblog-nahost-mittwoch-248.html (13.02)

https://www.aljazeera.com/news/2025/1/14/israeli-historian-ilan-pappe-this-is-the-last-phase-of-zionism

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/3/19/live-outrage-as-israeli-attacks-break-gaza-ceasefire-killing-hundreds (17.05)

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/3/17/live-us-raids-on-yemen-kill-53-houthis-say-israeli-negotiators-in-cairo (18.00, 18.15)

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/3/12/live-israeli-hamas-and-us-negotiators-in-doha-for-gaza-truce-talks (17.00)

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/3/16/live-us-bombs-yemen-killing-13-after-houthis-pause-attacks-on-israel (10.30, 17.19, 18.45)

https://www.capital.de/geld-versicherungen/donald-trump-killt-das-vertrauen-der-boersen-anleger-in-amerika-35559062.html

https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/stabiler-zins-steigende-inflation-trump-drangt-us-notenbank-erneut-zu-senkung-des-leitzinses-13399678.html

https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/internationale-politik/id_100640936/usa-in-der-eier-krise-kann-deutschland-bei-der-eier-suche-helfen-.html

https://www1.wdr.de/nachrichten/eier-knappheit-usa-europa-daenemark-100.html

https://www.diepresse.com/19484452/erdogan-schickt-eier-an-trump

https://www.jungewelt.de/artikel/495226.pal%C3%A4stina-solidarit%C3%A4t-arbeitsministerium-feuert-juristin.html


Kommentare

Eine Antwort zu „Schock, Trauer und Zorn”.

  1. Avatar von galaxysweetly6a23ec0ea4
    galaxysweetly6a23ec0ea4

    Liebe Maria,

    ich bewundere ZUTIEFST deine ungeheure Kraft, DANKE, DANKE, DANKE!

    Von Herzen
    Marianne

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