Der leise, langsame Tod

Seit Beginn des Krieges am 7. Oktober 2023 starben in Gaza offiziell 51.000 Menschen direkt durch israelische Angriffe. Von 18. März (dem Ende der Bombenpause) bis 15. April starben durch israelische Angriffe mehr als 1.600 Menschen. Die Opfer sind mehrheitlich Frauen, Kinder und alte Menschen. Mitgezählt sind dabei nur diejenigen Opfer, die in offizielle Todeslisten eingetragen wurden, deren Leichen also geborgen wurden und identifiziert werden konnten. Nicht gezählt sind diejenigen, deren Körper durch Explosionen zerfetzt wurden, und diejenigen, deren Körper noch unter den Trümmern liegen. Niemand kennt deren genaue Zahl, aber es handelt sich zweifellos um Tausende.

Nicht mitgezählt sind aber auch alle diejenigen, die nicht durch Panzerfeuer, Drohnen, Raketen oder Bomben starben, sondern an Krankheiten, an denen sie wegen des Krieges sterben mussten. Viele der Ungezählten werden Opfer einer tödlichen Kombination aus Krankheit, Hunger, Mangel an sauberem Trinkwasser und fehlender oder unzureichender medizinischer Versorgung. Dabei ist jeder einzelne Bestandteil dieser toxischen Mischung eine direkte Folge der israelischen Kriegsführung, namentlich eine Folge der Blockade von Hilfslieferungen, der Abschaltung von Wasser und Strom, der Zerstörung medizinischer Infrastruktur, der gezielten Ermordung von Helferinnen und Helfern, des Zusammenpferchens von hunderttausenden Menschen auf engstem Raum ohne grundlegende sanitäre Infrastruktur und ohne Schutz vor Nässe, Kälte und Hitze.

Derzeit gibt es in Gaza 35.000 Verwundete und chronisch Kranke, die auf einer Liste für eine Ausreise zur medizinischen Behandlung stehen. „Nach Angaben des Gaza-Gesundheitsministeriums sind mindestens 40 Prozent derjenigen, die seit Kriegsbeginn eine Behandlung im Ausland beantragt haben, während der Wartezeit gestorben – Opfer der geschlossenen Grenzen, eines zusammengebrochenen Krankenhaus- und eines nicht mehr funktionierenden Gesundheitssystems.“

Ein Arzt berichtet über die Zustände in den Krankenhäusern: „Die Leute verbluteten auf den Fluren […]. Es gab kein Morphium. Keine Antibiotika. Manchmal nicht einmal Verbandsmaterial.“ […] „Ich habe gesehen, wie PatientInnen – Kinder und ältere Menschen – starben, während sie in der Schlange auf Hilfe warteten, die nie kam.“

Eines der vielen Opfer, die auf keiner Todesliste aufscheinen, ist Haithm Hasan Hajaj. Er war 41 Jahre alt, von Beruf Bauingenieur, verheiratet und Vater von drei Kindern. Als der Krieg ausbrach, war er kurz davor, seine Doktorarbeit fertigzustellen. Für seine Familie hatte er ein Haus gebaut, das kurz nach Beginn des Krieges zerstört worden war. Das warf ihn nicht aus der Bahn. Er würde nach dem Krieg das Haus wieder aufbauen, versprach er seiner Frau Mona.

Im Juli 2024 erkrankte Hajah an Zöliakie, einer entzündlichen Darmerkrankung, die durch Gluten-Unverträglichkeit hervorgerufen wird. Gluten ist ein Bestandteil von Weizen und einigen anderen Getreidearten. Zöliakie kann unter anderem Verdauungsbeschwerden, Magenschmerzen und chronische Müdigkeit hervorrufen. Bleibt sie längere Zeit unbehandelt, treten schwere Mangelerscheinungen auf, die zu Organschäden führen. Mona Hajaj berichtet, dass ihr Mann kaum noch stehen konnte. Sie sagt: „Wir fuhren von Ort zu Ort, aber jedes Krankenhaus war überlastet. Sie sagten uns: ,Wir behandeln nur Kriegsverletzungen.‘ Keiner hatte Zeit für jemanden, der nicht blutete.“ „Eines Tages gingen wir zum Baptistenkrankenhaus […]. Wir warteten von 6 Uhr morgens bis 22 Uhr abends – 16 Stunden in einer Schlange. Aber sie wiesen uns ab. Das Labor hatte kein Material. Sie konnten nicht einmal einen Bluttest machen.“

Die Behandlung für Zöliakie ist eigentlich simpel: Man darf nichts mehr essen, das Gluten enthält. Dann heilt die Infektion von selber aus. Doch wie soll man eine glutenfreie Diät einhalten, wenn die einzige Alternative zum Weizenbrot das Hungern ist?

Haithm Hasan Hajaj starb am 2. März 2025. Er ist einer von Tausenden, die in Gaza einen langsamen, leisen Tod gestorben sind. Täglich werden es mehr. Die durch Mangelernährung und permanenten Stress geschwächten Körper können Krankheitserregern (die sich in überfüllten Flüchtlingslagern ohne Abwasserentsorgung besonders gut vermehren) nichts mehr entgegensetzen. Besonders betroffen sind Kinder, schwangere und stillende Frauen, chronisch Kranke, Behinderte und alte Menschen.

Quellen:

https://www.972mag.com/slow-quiet-death-gaza-hospitals/ Deutsche Übersetzung in: Aussendung 24/2025 von Martha Tonsern, Palästinensische Vertretung in Österreich, 11. April.

Splitter aus Gaza und aller Welt

Gaza

Am 13. April bombardierte die israelische Armee das al-Ahli-Krankenhaus in Gaza-Stadt. Aufgrund der massiven Zerstörungen ist das Krankenhaus nun außer Betrieb.

Quelle: https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/4/13/live-israel-threatens-more-attacks-as-it-cuts-off-rafah-from-rest-of-gaza (15.50, 17.15, 17.45)

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Sechs Brüder, im Alter von 10 bis 34, sterben bei einem israelischen Luftangriff auf ihr Auto. Sie waren als freiwillige Helfer in Deir el-Balah unterwegs, um Lebensmittel an hungrige Menschen zu verteilen. Der Vater sagt, sie hätten keiner Partei angehört. Sie trugen keine Waffen.

Quelle: https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/4/14/live-israel-pounds-gaza-sick-child-dies-after-attack-on-al-ahli-hospital (18.00)

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Bericht von Dr. Riyad Mansour, palästinensischer Botschafter bei den Vereinten Nationen: „Am 9. April griff die israelische Armee das Viertel Shujaiya in Gaza-Stadt mit Raketen an, die wissentlich, absichtlich und brutal auf verzweifelte ZivilistInnen zielten. Ersten Berichten zufolge wurden bei diesem Angriff mindestens 35 Palästinenserinnen und Palästinenser ermordet und weitere 55 Menschen schwer verletzt, darunter viele verstümmelt. 80 Kinder, Frauen und Männer in Shujaiya werden noch immer in den massiven Zerstörungen, unter den Trümmern und dem Schutt, vermisst.“

Quelle: Aussendung 24/2025 von Martha Tonsern, Palästinensische Vertretung in Österreich, 11. April.

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Bericht des australischen Arztes Dr. Mohammed Mustafa aus Gaza, 18. März 2025: „Die Bombardierung ist unaufhörlich. […] Uns sind alle Schmerzmittel ausgegangen. Wir können niemanden mehr betäuben. […] Sieben Mädchen werden die Beine amputiert, ohne Anästhesie.“

Quelle: Aussendung 24/2025 von Martha Tonsern, Palästinensische Vertretung in Österreich, 11. April.

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Die sog. „Pufferzone“ entlang der israelischen Grenze ist inzwischen an manchen Stellen schon 3 Kilometer breit. Die „Pufferzone“ bestand schon vor dem Krieg, und sie befand sich immer schon zur Gänze auf palästinensischem Gebiet (wie auch die Mauer, die am 7. Oktober 2023 von Hamas-Kämpfern durchbrochen wurde). Im Laufe des Krieges wurde die Pufferzone stetig verbreitert. Palästinensern ist es nicht erlaubt, diese Zone zu betreten. Dies soll, nach den Plänen der israelischen Armee, auch nach dem Krieg so bleiben. Innerhalb der „Pufferzone“ wird systematisch alles zerstört: Wohngebäude, Gewerbegebiete, landwirtschaftliche Flächen. Inzwischen kontrolliert die israelische Armee mindestens 50 Prozent von Gaza, und sie richtet überall Verwüstung an. Gaza gehörte auch vor dem Krieg schon zu den Gebieten der Welt mit der größten Bevölkerungsdichte.

Quelle: https://zeitung.faz.net/faz/politik/2025-04-11/ausweitung-der-pufferzone/1152982.html [Bezahlschranke]

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Die israelische Armee zerstört systematisch Wohnhäuser im Osten von Gaza, im sog. Netzarim-Korridor und in Khan Younis.

Quelle: https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/4/15/live-israel-hamas-say-negotiations-underway-as-israel-attacks-gaza-tents (16.15)

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Israelische Kampfflugzeuge bombardieren ein Feldspital in al-Malwasi. Al-Malwasi wurde von Israel als „humanitäre Zone“ ausgewiesen. Kürzlich wurden die Bewohner/innen von Rafah und später auch jene von Khan Younis dort hingetrieben. Bei dem Angriff stirbt mindestens ein Mediziner, neun Menschen werden verletzt. Alle Verletzten waren entweder Patienten oder gehörten zum medizinischen Personal.

Quellen:

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/4/15/live-israel-hamas-say-negotiations-underway-as-israel-attacks-gaza-tents (16.00)

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/4/13/live-israel-threatens-more-attacks-as-it-cuts-off-rafah-from-rest-of-gaza (17.15)

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Das Rote Kreuz schätzt, dass seit Oktober 2023 5000 bis 6000 Bewohner/innen von Gaza Arme und/oder Beine verloren haben, darunter sehr viele Kinder. Es gibt nicht genug Prothesen für alle. In einer kleinen Werkstatt wird versucht, Prothesen aus recyceltem Material herzustellen.

Quelle: https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/4/15/live-israel-hamas-say-negotiations-underway-as-israel-attacks-gaza-tents (14.45)

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Gaza/Ukraine

In Gaza bombardiert die israelische Armee Krankenhäuser, in der Ukraine tut die russische Armee dasselbe. Das Risiko, bei einem Angriff auf ein Krankenhaus zu sterben, ist aber für medizinisches Personal in Gaza 150 Mal höher als für medizinisches Personal in der Ukraine. Das sagt ein amerikanischer Arzt, der in der Ukraine als freiwilliger Helfer tätig war und nun in Gaza arbeitet.

Quelle: Beitrag in der ZIB 2 im ORF, 14. April 2025.

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Westjordanland

Nördlich von Jericho werfen Siedler Steine auf palästinensische Autos. Westlich von Jericho greifen Siedler Schafhirten an. Südlich von Hebron zerstören Siedler Steinzäune und schneiden Bäume auf palästinensischem Land um. Anderswo eröffnen Siedler das Feuer auf Schafhirten.

Allein für die letzten beiden Wochen wurden 40 Siedlerangriffe dokumentiert. Rund die Hälfte davon betrafen Beduinen. Die Siedler brachen in Häuser ein und setzten Eigentum in Brand. 35 palästinensische Gemeinschaften waren davon betroffen. 25 Palästinenser wurden dabei verletzt, davon fünf Kinder und ein Ausländer. Zwei israelische Kinder wurden von Palästinensern im Zuge von Siedlerangriffen verletzt.

Quellen:

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/4/14/live-israel-pounds-gaza-sick-child-dies-after-attack-on-al-ahli-hospital (18.15)

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/4/13/live-israel-threatens-more-attacks-as-it-cuts-off-rafah-from-rest-of-gaza (15.15)

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Israelische Invasion in Tulkarem. Israelische Soldaten stürmen ein Einkaufszentrum, verhaften und verhören Menschen. In der Nähe eines Krankenhauses werfen israelische Soldaten Blendgranaten. Innerhalb des Krankenhauses werden Menschen verhört. Im Flüchtlingslager von Tulkarem stürmen und durchsuchten israelische Soldaten Wohnungen.

Im Nur-Shams-Lager in der Nähe von Tulkarem werden Menschen gezwungen, ihre Häuser zu verlassen, ohne ihre persönlichen Dinge mitzunehmen.

Quelle: https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/4/14/live-israel-pounds-gaza-sick-child-dies-after-attack-on-al-ahli-hospital (16.45)

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Israel

Statement von Oren Marmorstein, Sprecher des israelischen Außenministeriums, am 8. April 2025: „Es gibt keinen Mangel an humanitärer Hilfe im Gazastreifen.“

Quelle: Aussendung 24/2025 von Martha Tonsern, Palästinensische Vertretung in Österreich, 11. April.

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Am 22. März starb Walid Khalid Abdullah Ahmad, 17, in israelischer Haft im Megiddo-Gefängnis im Norden Israels. „Der Autopsiebericht eines 17-jährigen palästinensischen Häftlings, der Ende März in israelischem Gewahrsam starb, deutet darauf hin, dass er wahrscheinlich an einer Kombination aus Hunger, Dehydrierung durch kolitis-bedingten Durchfall und infektiösen Komplikationen starb, die durch anhaltende Unterernährung und die Verweigerung lebensrettender medizinischer Maßnahmen noch verschlimmert wurden.“

Quellen:

https://www.dci-palestine.org/17_year_old_palestinian_child_prisoner_starved_to_death_by_israeli_prison_guards Deutsche Übersetzung in: Aussendung 24/2025 von Martha Tonsern, Palästinensische Vertretung in Österreich, 11. April.

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Heute erklärte der israelische Verteidigungsminister, die israelische Armee werde sich aus den derzeit kontrollierten Gebieten Gazas nie mehr zurückziehen.

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/4/16/live-israeli-forces-systematically-destroying-homes-in-gaza

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Israel/Gaza

Am 14. April wurden neun palästinensische Gefangene aus israelischen Gefängnissen entlassen. Sie wurden ins Al-Aqsa-Krankenhaus in Gaza gebracht. Sie waren vor sechs Monaten an einem Checkpoint im Lager Jabalia verhaftet worden. Ihre Körper wiesen Spuren von Folter auf. Ihre Familien wussten nicht, wo sie waren.

Quelle: https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/4/14/live-israel-pounds-gaza-sick-child-dies-after-attack-on-al-ahli-hospital (15.45)

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Israel/Malediven

Israelische Reisebüros müssen bis auf weiteres die Malediven aus ihrem Programm nehmen: Das Land hat beschlossen, aus Solidarität mit den Palästinensern keine Israelis ins Land zu lassen.

Quelle: https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/4/15/live-israel-hamas-say-negotiations-underway-as-israel-attacks-gaza-tents (16.00)

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USA

Die Harvard University hat erklärt, bestimmte Forderungen der US-Regierung nicht zu erfüllen. Das kostet sie nun (vorerst) 2,3 Milliarden Dollar an Fördermitteln. Es steht aber noch wesentlich mehr Geld auf dem Spiel. Die Trump-Regierung verlangte von der Universität unter anderem, ausländische Studenten bei Verstoß gegen Verhaltensregeln den Bundesbehörden zu melden, bei der Einstellung von Universitätspersonal die politische Gesinnung der Bewerber/innen zu überprüfen sowie die Zulassung von Studenten und die Einstellung von Mitarbeitern nach Diversitätskriterien zu beenden. Insbesondere möchte die US-Regierung pro-palästinensischen Aktivist/inn/en von amerikanischen Universitäten verbannen.

Quellen:

https://www.zeit.de/politik/ausland/2025-04/us-hochschulen-harvard-bundesmittel-entzogen?utm_source=firefox-newtab-de-de

https://www.zeit.de/politik/ausland/2025-04/elite-uni-harvard-professoren-klage-gegen-us-regierung

https://www.aljazeera.com/news/2025/4/15/harvards-2-3bn-gamble-what-trump-demanded-how-the-university-resisted

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Niederlande

Auf einem Platz in Leiden sollen tausende Kinderschuhe an die in Gaza getöteten Kinder erinnern.

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Medientipps

Mehrseitiger Instagramm-Post des israelisch-amerikanischen Künstlers Addam Yekutieli (Künstlername „Know Hope“) über seine Eindrücke beim Besuch eines israelischen Militärgerichts. Prägnant und sehr erhellend.

Quellen:

https://www.instagram.com/p/DIHLDfYMmio/?img_index=3 (Deutsche Übersetzung in: Aussendung 24/2025 von Martha Tonsern, Palästinensische Vertretung in Österreich, 11. April.)

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Hervorragende Kurz-Doku (8 Minuten) zum Thema „Siedlergewalt im Westjordanland“ in der Sendung Kulturzeit auf 3Sat. Ausstrahlung am 10. April 2025. Verfügbar in der Mediathek bis 10. Juli 2025.

Quelle: https://www.3sat.de/kultur/kulturzeit/israelische-siedler-gewalt-nach-dem-7-oktober-sendung-vom10-04-2025-100.html


 


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