Die Wahrnehmung der Anderen

Ein Bild aus Gaza-Stadt, aufgenommen am 24. April 2025. Ich sehe darauf einen Mann in einer orangen Weste mit Leuchtstreifen, wie sie von Rettungskräften im Dienst getragen werden. In den Armen hält er einen kleinen Jungen, vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Das Kind trägt kurze Hosen. Seine nackten Beine sind mit blutigen Wunden übersät. Es ist bei Bewusstsein. Es sitzt halb aufrecht auf dem rechen Unterarm des Mannes, während sein Rücken von dem linken Arm des Mannes gestützt wird. Sein T-Shirt ist ihm nach oben gerutscht, so dass sein nackter Bauch zu sehen ist. Dieser scheint nicht verletzt zu sein. Der Mann ist in Bewegung. Er trägt das Kind von einem Ort weg zu einem anderen Ort hin. Er blickt ernst. Das Kind blickt ebenfalls ernst. Es ist nicht zu erkennen, ob es weint.

Nun habe ich einigermaßen neutral und objektiv geschildert, was ich auf diesem Bild sehe. Schon in dieser ziemlich neutralen und objektiven Schilderung steckt, bei näherer Betrachtung, eine ganze Menge Interpretation. Denn jegliches Wahrnehmen ist immer schon Interpretation. Was wir sehen, hängt nicht nur davon ab, welche Sinneseindrücke auf unsere Retina treffen, sondern auch von unseren vorgängigen Erfahrungen, davon, was wir zu wissen glauben, und von unseren Erwartungen.

Es gibt eine Menge Dinge, die ich zu wissen glaube und die mit beeinflussen, was ich auf diesem Bild wahrnehme. Ich glaube zu wissen, dass dieses Kind sich seine Verletzungen nicht bei einem Sturz mit dem Fahrrad zugezogen hat, sondern bei einem Luftangriff der israelischen Armee. Vermutlich steht das Kind unter Schock. Es ist wahrscheinlich, dass es furchtbare Dinge gesehen hat, Tote, schwer Verwundete, vielleicht Menschen, die bei lebendigem Leib verbrannten. Vielleicht war es unter den Trümmern eines Hauses begraben. Vielleicht hat es seine Eltern und seine Geschwister verloren.

Ich glaube auch zu wissen, dass der Mann, der das Kind aus der Gefahrenzone bringt, bei seiner Arbeit sein eigenes Leben riskiert. Soldaten der israelischen Armee greifen in Gaza regelmäßig Rettungskräfte an, die versuchen, Verletzten zu helfen.

Ich sehe daher auf diesem Bild einen mutigen Mann, der ein verwundetes und traumatisiertes Kind aus einer Gefahrenzone bringt. Mir fällt dabei die Art auf, wie er das Kind in den Armen hält: Ich empfinde diese als zärtlich; er trägt das Kind, als wäre es sein eigenes.

So viel zu meiner Wahrnehmung. Doch was würde ein israelischer Soldat auf diesem Bild sehen?

Ich nehme an (und hoffe, dass es wahr ist), dass es israelische Soldaten gibt, die auf diesem Bild genau das sehen würden, was auch ich sehe. Doch ich denke jetzt insbesondere an jene israelischen Soldaten, die mit voller Absicht Rettungskräfte bei der Ausübung ihres Dienstes töten, und an jene, die gezielt Kinder in den Kopf und in die Brust schießen. Dies geschah in Gaza wieder und wieder. Es ist unmenschlich, grausam, barbarisch. Es steht im Widerspruch zu jeglicher Moral. Es ist ein gravierender Verstoß gegen internationales Recht. Es ist in militärischer Hinsicht sinnlos, weil es nicht den bewaffneten Arm der Hamas und andere militante Gruppierungen schwächt, wohl aber die Moral der Truppe, weil mehr und mehr Israelis in diesem Krieg keinen Sinn mehr sehen. Es gefährdet das Leben der noch in Gaza befindlichen Geiseln. Es macht Israel in den Augen des größten Teils der Welt zu einem Schurkenstaat. Es beraubt das Judentum endgültig seiner Unschuld, und es bereitet die Grundlage für eine neue Form des Antisemitismus, die nicht (wie frühere Formen) auf Legenden basiert, sondern auf historischen Tatsachen.

In Anbetracht all dieser für die Israelis negativen Auswirkungen stellt sich die Frage: Warum tun sie es trotzdem? Die Standardreaktion der israelischen Armee auf Verletzungen des humanitären Völkerrechts lautet wie folgt: „Wir halten uns strikt an das humanitäre Völkerrecht. Wir schießen nicht auf Zivilisten. Die Leute, die wir getötet haben, waren keine Rettungskräfte/Helfer/Journalisten, sondern es waren Terroristen.“

Gewiss, in der Regel sind das Propaganda-Lügen. Aber könnte es nicht sein, dass manche israelische Soldaten diese Lügen glauben? Zum Beispiel diejenigen, die am 23. März 2025 15 palästinensische Rettungskräfte und andere Mitarbeiter des Zivilschutzes ermordeten (siehe meine Blog-Beiträge vom 3. und 6. April)?

Wäre es verwunderlich, wenn manche das glaubten? Haben nicht israelische Politiker ihnen wieder und wieder eingebläut, dass es in Gaza keine Unschuldigen gibt, dass alle dort Terroristen sind? Wurde ihnen nicht von früher Jugend an eingetrichtert wird, dass alle Araber, und zuvorderst die Palästinenser, ihnen nach dem Leben trachten, dass alle – auch diejenigen, die gerade keine Waffen tragen – eine potentielle Gefahr für die Existenz Israels und seiner jüdischen Bewohner sind? Haben sie nicht gelernt, in einem palästinensischen Kind den künftigen Terroristen zu sehen, und in einer palästinensische Frau die Hervorbringerin künftiger Terroristen?

Vielleicht glaubten also jene Soldaten, die die palästinensischen Sanitäter erschossen, zu wissen, dass jeder erwachsene palästinensische Mann ein Terrorist ist, und dass aus jedem männlichen palästinensischen Kind einmal ein Terrorist werden wird. Vielleicht glaubten sie auch zu wissen, dass palästinensische Terroristen gefühllose Monster sind, die nicht einmal ihre eigenen Kinder lieben und bereit sind, diese für eine böse Ideologie opfern. Was würde ein Soldat mit diesem Weltbild auf dem obigen Bild sehen? Einen finster dreinblickenden Terroristen, der ein Kind entführt, um es zum Kämpfer auszubilden – ein Kind, das den Hass auf die Juden schon mit der Muttermilch aufgesogen hat?

Vielleicht sehen manche Israelis und Freunde Israels tatsächlich überall Terroristen: in Rettungskräften, Ärzten, Journalisten, nicht nur in Gaza, sondern auch in Ostjerusalem und im Westjordanland, im Libanon und in Syrien, in der UNO, aber auch zum Beispiel auch auf einem Universitätscampus, auf dem Studierende ein Protestcamp gegen den Krieg in Gaza aufgeschlagen haben?

Kann es sein, dass die israelische Gesellschaft unter kollektiver Paranoia leidet, also unter einem tiefgreifenden Gefühl existentieller Bedrohung durch andere Völker? Kann es sein, dass die Mehrheit der Israelis der festen Überzeugung ist, dass das palästinensische Volk als Ganzes das jüdische Volk vernichten wird, wenn nicht zuvor das jüdische Volk das palästinensische Volk vernichtet?

Wenn die Israelis mehrheitlich so denken, ist Genozid nur eine folgerichtige Konsequenz. Paranoia ist eine Krankheit, die zur Gefahr für andere werden kann, nämlich dann, wenn der Kranke auf seinen Glauben an eine Bedrohung mit präventiver Gewalt reagiert.

Natürlich ist nicht jedes Bedrohungsgefühl paranoid. Es ist völlig gesund, sich bedroht zu fühlen, wenn man in Gefahr ist. Paranoid wird es, wenn das Verhältnis zwischen dem Gefühl der Bedrohung und der tatsächlichen Gefahr nicht mehr stimmt und/oder wenn Personen oder Situationen als bedrohlich wahrgenommen werden, von denen in Wahrheit keine Gefahr ausgeht.

Ja, israelische Jüdinnen und Juden wurden Opfer von palästinensischen Terroranschlägen, die meisten von ihnen bei dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023. Das war furchtbar und ist durch nichts zu rechtfertigen – auch nicht durch Israels seit Jahrzehnten andauernde brutale Besatzungspolitik, die Tausende Palästinenser vor dem 7. Oktober 2023 das Leben kostete. Doch die jüdischen Opfer des Anschlags vom 7. Oktober rechtfertigen nicht die Zehntausenden Opfer der israelischen Kriegsführung in Gaza seit dem 7. Oktober 2023.

Die Hamas war noch nie eine Bedrohung für die Existenz Israels. Die israelische Armee hätte den Anschlag vom 7. Oktober leicht verhindern können. Sie verfügte schon Wochen vorher über detaillierte Informationen zu den Anschlagsplänen, und in den Tagen vor dem 7. Oktober gab es konkrete Anzeichen, dass ein Anschlag unmittelbar bevorsteht. Warum die israelische Armee darauf nicht adäquat reagiert hat (zum Beispiel durch eine rechtzeitige Truppenverlegung an die Grenze zu Gaza) ist mir bis heute ein Rätsel. Bezeichnenderweise hat die israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu bisher mit allen Kräften versucht, eine gründliche Untersuchung dieses Versagens zu verhindern. Kann es sein, dass es in Regierungskreisen Politiker gab, die die Tragödie nicht verhindern wollten, weil sie ihnen einen willkommenen Anlass für einen schon lange geplanen Vernichtungskrieg bot?

Aber selbst wenn die Hamas für Israel viel gefährlicher wäre, als sie tatsächlich ist, könnte das niemals einen Genozid rechtfertigen: gezielte Angriffe auf Zivilisten und zivile Einrichtungen, die gezielte Tötung von Kindern, die gezielte Zerstörung von Wasseraufbereitungsanlagen und medizinischen Einrichtungen, eine Totalblockade, die zuallererst für Kinder, Alte und Kranke lebensbedrohliche Zustände schafft.

Moralische Handlungsmaximen müssen verallgemeinerbar sein, das heißt, sie müssen für alle und jederzeit gelten. Oder, wie es der deutsche Philosoph Immanuel Kant ausdrückte: „Handle nur nach derjenigen Maxime, von der du wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde!“

Betrachten wir folgende Handlungsmaxime: „Wenn eine Gruppe A der Meinung ist, dass eine Gruppe B für sie irgendeine Art von Bedrohung darstellt (oder in Zukunft darstellen könnte), dann sollen/dürfen die Mitglieder der sich bedroht fühlenden Gruppe A die Mitglieder der vermeintlich bedrohlichen Gruppe B töten.“

Es dürfte ohne weitere Erklärung einleuchten, dass niemand, der bei klarem Verstand ist, wollen kann, dass diese Maxime zu einem allgemeingültigen Gesetz wird. Israelis fühlen sich bedroht von Palästinensern, Libanesen und Syrern. Daher werfen sie Bomben über Gaza, dem Libanon und Syrien ab und schicken Panzer ins Westjordanland. Doch muss man nicht erwarten, dass diejenigen, deren Häuser durch Israels Bomben und Panzer zerstört werden, die um von Israel getötete Angehörige trauern, sich ihrerseits von Israel bedroht fühlen? So gibt es keine Sicherheit für niemanden, nur permanente Bedrohung. Wer will in einer solchen Welt leben?

***

Lichtblicke aus Israel

Auch wenn Israel als kollektive Entität an der Seele krank ist, so gilt das nicht für alle israelischen Menschen, auch nicht für alle israelischen Jüdinnen und Juden. Das darf nie vergessen werden. Es gibt solche, bei denen das Mitgefühl stärker ist als die Angst, die die Wahrheit kennen und auch den Mut haben, sie auszusprechen. Sie mögen im Moment nur eine kleine Minderheit sein, doch jede und jeder Einzelne ist ein Licht in der Finsternis.

Hier sind ein paar aktuelle Beispiele:

Bild: Holocaust-Überlebende stehen am Holocaust-Gedenktag vor dem Holocaust-Museum Yad Vashem in Jerusalem und halten ein Banner mit der Aufschrift (auf Englisch und Hebräisch): „Wenn wir unser Mitgefühl für die anderen verlieren, haben wir unsere Menschlichkeit verloren.“ Die betagten Menschen protestieren auf diese Weise gegen den Krieg in Gaza.

[Quique Kierszenbaum] Quelle: https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/4/25/live-israeli-strikes-kill-over-60-in-gaza-as-entire-families-targeted (06.30)

Bild: In Jerusalem protestiert eine Gruppe von Israelis gegen den Krieg in Gaza. Auf einem Plakat steht (in Englischer Sprache): „Palästinensische Leben zählen“. Bei dieser Demonstration kam es zu Festnahmen durch die israelische Polizei.

Bild: Tel Aviv, 24. April 2025. Eine Gruppe von schwarz gekleideten Israelis steht am Rand einer Straße. Eine Frau hält ein schwarzes Schild mit der Aufschrift (auf Englisch und Hebräisch): „Aushungern ist ein Kriegsverbrechen“. Die anderen halten leere Töpfe in den Händen.

Mögen diese Menschen Israel erleuchten!


Kommentare

Eine Antwort zu „Die Wahrnehmung der Anderen”.

  1. Avatar von galaxysweetly6a23ec0ea4
    galaxysweetly6a23ec0ea4

    Liebe Maria,

    DANKE und wieder DANKE für deinen Beitrag!

    Kennst du das Buch /Die Welt nach Gaza /von Pankaj Mishra? Kennst du
    Nurit Peled-Elhanan über /Palestine in Israeli Schoolbooks/ ?

    Es ist – so furchtbar es sich anhört – kein Wunder, dass diese IDF so
    tickt …

    Liebe Grüße
    Marianne

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