64 Tage Blockade, 48 Tage Bomben

Auf einem Bild sieht man eine dicht gedrängte Menge von Menschen mit leeren Töpfen vor einer Essensausgabe inmitten von Ruinen und Trümmern im Jabalia-Flüchtlingslager in Nord-Gaza. Männer, Frauen und Kinder drängen sich vor dieser Suppenküche, die vielleicht inzwischen, wie viele andere solcher Suppenküchen in Gaza, ihren Betrieb einstellen musste, weil es keine Vorräte mehr gibt.

Das Gedränge wirkt beängstigend. Die meisten Gesichter, die man erkennen kann (viele sind hinter Händen und Töpfen verborgen) sehen schmerzverzerrt aus. Die Vordersten werden von den Hinteren an eine eiserne Reling gedrückt, die offenbar die Helfer an den großen Töpfen von der hungrigen Menge abtrennt.

Wäre ich für mein Überleben darauf angewiesen, mir mein Essen auf diese Weise zu erkämpfen, wäre ich wohl verloren. In dicht gedrängten Menschenmengen überkommen mich Panikattacken. Ich könnte mir leicht vorstellen, dass in diesem Gedränge hin und wieder jemand erdrückt wird oder einen Herzanfall erleidet. Viele andere sind wahrscheinlich gar nicht in der Lage, sich stundenlang anzustellen – geschweige denn, wenn es nötig ist, die Ellenbogen auszufahren.

Die Schwachen sind also darauf angewiesen, versorgt zu werden. Aber wie schwer muss es sein, nach stundenlangem Warten in der Schlange den eigenen Hunger zu unterdrücken und den halbgefüllten Topf nach Hause zu tragen, um den Inhalt auf viel zu viele hungrige Mägen zu verteilen, so dass am Ende keiner richtig satt wird, aber doch alle die nächsten Tage irgendwie überleben können? Ist der Überlebenstrieb stärker oder die Solidarität und das Mitgefühl? Würde ich diesen Persönlichkeitstest bestehen? Ich weiß es nicht.

Nach offiziellen Behördenangaben sind seit Beginn der Blockade in Gaza mindestens 57 Menschen an den Folgen von Hunger und Dehydrierung gestorben, viele davon Kinder und Babys.

Die Kinder von Gaza sind kleine Wunder. Ich sah sie fröhlich spielen inmitten von zerbombten Häusern und in überfüllten Flüchtlingsunterkünften. Ich sah sie lachen inmitten des Leids. Ich sah sie Wasserkanister für ihre Familien schleppen. Ich sah sie, während der Bombenpause zu Beginn dieses Jahres, am ersten Schultag, von den Müttern fein herausgeputzt im Schulhof stehen, in den Gesichtern Freude und Vorfreude. Ich sah sie, in Ruinen am Boden sitzend, am Handy einem Fernunterricht folgen. Ich sah sie ermordete Brüder und Schwestern, Väter und Mütter betrauern. Ich hörte sie über ihre Wünsche sprechen: wieder zur Schule gehen, nach Hause zurückkehren, essen und trinken. Ich hörte sie über ihre Ängste sprechen: vertrieben zu werden, von einer Rakete getroffen zu werden, in Stücke zerfetzt zu werden. Ich bewunderte ihre Schönheit, und ich bewunderte und bewundere ihre Mütter dafür, dass sie in all dem Chaos und dem Elend es sich nicht nehmen lassen, das Haar ihrer Töchter hübsch zu frisieren. Ich verstehe das als Ausdruck der Liebe und Fürsorge, aber auch als Zeichen der Resilienz und des Widerstands: „Seht her, ihr kriegt uns nicht klein! Ihr könnt uns unsere Würde nicht nehmen!“

Vor wenigen Tagen sah ich ein Video (45 Sekunden). Ein Mädchen sprach in die Kamera: Sie wünsche sich, sagte sie, dass ihre Haare wieder so werden wie früher – lang, und so, dass man sie frisieren kann. Außerdem möchte sie gern wieder in die Schule gehen und im Stehen beten können. Jetzt könne sie nur noch im Sitzen beten. Dann fing sie an zu weinen. Ihre Haare waren kurz und schütter. Haarausfall ist eine mögliche Folge von Mangelernährung. Sie war extrem abgemagert und offenbar so geschwächt, dass sie nicht mehr die Kraft hatte, einige Zeit zu stehen. Sie ist eine von denen, die mit Sicherheit nicht losziehen können, um etwas Essbares zu suchen oder einen Kanister mit trinkbarem Wasser zu füllen. Wie lange wird sie überleben?

Ein anderes Video, nur wenige Sekunden lang: Ein Lastwagen mit mehreren leeren Wassertanks auf der Ladefläche fährt auf einer staubigen Straße inmitten von Schutt. Ein Kind mit einem leeren Kanister in der Hand rennt ihm schreiend hinterher.

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Doch in Gaza bringt nicht nur der Hunger den Tod. Die Bombardements der israelischen Armee gehen unvermindert weiter. Tag für Tag sterben Dutzende, zum größten Teil Zivilisten, durch Angriffe auf Hilfsorganisationen, Zeltlager und die wenigen noch halbwegs bewohnbaren Gebäude, in denen sich die Geflüchteten drängen. Rund 70 der Fläche Gazas sind inzwischen unter der Kontrolle der israelischen Armee. Schon mit 100 Prozent der Fläche war Gaza eine der am dichtesten besiedelten Regionen der Welt. Die Menschen in Gaza leben in stetig enger werdenden Räumen, auf die es ohne Unterlass Bomben regnet.

Auch auf dem Meer lauert der Tod. Fischer, die sich aufs Meer hinauswagen, um mit ihrem Fang den Unterhalt der Familie zu bestreiten, werden regelmäßig beschossen. Erst gestern wurde wieder einer von ihnen ermordet, ein weiterer verwundet.

Von 18. März (dem Ende der Bombenpause) bis Ende April starben nach offizieller Zählung 2.308 Menschen bei israelischen Angriffen, davon 595 Kinder.

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Quellen:

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/5/3/live-israels-attacks-kill-30-in-gaza-as-baby-dies-of-starvation (13.55, 14.25)

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/5/2/live-israel-kills-at-least-31-in-gaza-as-aid-blockade-starves-children (11.00, 11.45, 12.45)

https://www.wfp.org/news/wfp-runs-out-food-stocks-gaza-border-crossings-remain-closed

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/5/1/live-aid-trucks-pile-up-at-gaza-border-israel-bombs-central-south-strip (13.15)

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Zusätzlich verschärft sich die katastrophale Lage in jenen medizinischen Versorgungszentren, die zumindest noch irgendwie funktionsfähig sind, immer mehr:

Im April haben die Teams von Ärzte ohne Grenzen in der von ihnen betriebenen Klinik in Gaza-Stadt durchschnittlich über 100 PatientInnen mit Verbrennungen und Verletzungen pro Tag behandelt.

[…]

Die Kinder schreien, wenn wir gezwungen sind, verbranntes Gewebe von ihrer Haut zu schälen“, berichtet Dr. Ahmad Abu Warda, Leiter der medizinischen Aktivitäten von Ärzte ohne Grenzen im Nasser-Krankenhaus. „Sie flehen uns an, damit aufzuhören, aber wenn wir das tote Gewebe nicht entfernen, können Infektionen und Sepsis zum Tod führen. Ohne ausreichende medizinische Versorgung und angesichts der vielen PatientInnen, die wegen Brandverletzungen behandelt werden müssen, sind wir nicht in der Lage, eine angemessene Versorgung zu gewährleisten. Wir verzögern lediglich die unvermeidlichen Infektionen.“

Quelle: https://www.doctorswithoutborders.org/latest/no-relief-no-chance-recovery-gazas-burn-patients (Deutsch in: Aussendung 29 (2025) von Martha Tonsern, Palästinensische Vertretung des Staates Israel in Palästina.)

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„Ich war draußen auf der Straße und habe Kindern den Brustkorb aufgeschnitten, um Thoraxdrainagen zu legen, ohne Analgesie, ohne Sedierung, ohne Schmerzmittel, ohne Anästhetikum, nur mit einem Skalpell in der Hand, um den Brustkorb der Kinder aufzuschneiden und einen Schlauch einzulegen, und wenn sie diese traumatischen Brustverletzungen haben, braucht man einen großen Schlauch, also ein großes Loch, und manchmal steckt man auch den Finger hinein. Die Kinder sind bei Bewusstsein, wenn man das tut, und es gibt keine Beruhigungs- oder Schmerzmittel, und man kann sie schreien hören, sie greifen nach der Hand und wollen, dass man aufhört. Aber man muss weitermachen. Und es ist sehr schwer, das einem Kind anzutun, aber wir mussten das bei Dutzenden von Kindern tun. Ich habe so oft geweint und mir kommen auch jetzt die Tränen, aber ich muss damit leben. Ich muss mit dem leben, was ich diesen Kindern angetan habe, und das ist sehr schwer für mich. “

Dr. Mohammed Mustafa, britisch-australischer Arzt, berichtet in einem Interview mit der australischen Journalistin Jan Fran über seine Erlebnisse während seiner Freiwilligenmission im Al Ahli Krankenhaus in Gaza (ehe es bombardiert wurde), 24.04.2025

Quelle: Aussendung 29 (2025) von Martha Tonsern, Palästinensische Vertretung des Staates Israel in Palästina.

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In israelischen Medien nehmen sich israelische Politiker kein Blatt vor den Mund. Das Folgende ist ein Auszug aus einem Interview mit dem Knesset-Abgeordneten Moshe Saada von der regierenden Likud-Partei, welches am 25. April in israelischen Fernsehsender Channel 14 News ausgestrahlt wurde:

Saada: „Ich werde die Menschen im Gazastreifen aushungern. Es ist unsere Pflicht, die BewohnerInnen des Gazastreifens zu vertreiben. Es gibt zehn Länder auf der Welt, die sie haben wollen und bereit sind, sie aufzunehmen. Das ist unsere Aufgabe […]”

Moderator: „Knessetabgeordneter Moshe Saada, wenn Sie im israelischen Parlament sagen: „Ich will die Menschen im Gazastreifen verhungern lassen“, welche Folgen hat diese Aussage?“

Saada: „Habe ich mich nicht klar ausgedrückt? Es ist ganz einfach: Ich will den Gazastreifen komplett aushungern. Jeder, der Gaza verlassen will, kann in eine humanitäre Zone gehen, die wir verwalten werden. Eine Zone, die wir kontrollieren werden. Die israelische Armee wird in dieser Zone Lebensmittel verteilen…“

Moderator: Und wie werden Sie mit der Kritik aus aller Welt umgehen?

Saada: Ganz ehrlich? Das haben wir schon einmal erlebt. Die Kritik der Welt? Vergessen Sie das, das ist nicht ernst gemeint. Wir müssen uns um die Juden kümmern. […].“

Quelle: Aussendung 29 (2025) von Martha Tonsern, Palästinensische Vertretung des Staates Israel in Palästina.

Gegenüber dem Ausland wird hingegen gelogen, dass sich die Balken biegen:

Anfang letzter Woche wies das israelische Außenministerium die Kritik des Vereinigten Königreichs, Frankreichs und Deutschlands an der Blockade zurück, die diese als „untragbar“ bezeichneten und in einer gemeinsamen Erklärung deren sofortige Beendigung forderten. Das israelische Ministerium erklärte: „Israel überwacht die Situation vor Ort, und es gibt keinen Mangel an Hilfsgütern in Gaza.“

Wie auch in den deutschsprachigen Medien immer wieder unkritisch übernommen, behauptet das israelische Außenministerium außerdem, es sei nicht verpflichtet, Hilfslieferungen zuzulassen, weil die Hamas diese „entführt“ habe, um „ihre Terrormaschinerie wiederaufzubauen“ – eine Behauptung, für die keine Beweise vorgelegt wurden, die aber schärfstens von den internationalen Hilfsorganisationen zurückgewiesen wurde. Auch die UNO erklärte, sie habe „eine sehr gute Kontrollkette für alle Hilfsgüter, die sie geliefert hat“, die auch jederzeit nachweisbar ist.

Quelle: Aussendung 29 (2025) von Martha Tonsern, Palästinensische Vertretung des Staates Israel in Palästina.

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Was macht Deutschland unterdessen? Erstens, Deutschland schickt Waffen nach Israel. Zweitens, Deutschlands zukünftiger Kanzler erklärt öffentlich, er werde den als Kriegsverbrecher international zur Verhaftung ausgeschriebenen Premierminister Netanjahu nach Deutschland einladen, und er werde Mittel und Wege finden, um diesen vor der Strafverfolgung durch den Internationalen Strafgerichtshof zu schützen – obwohl Deutschland sowohl nach internationalem als auch nationalem Recht verpflichtet wäre, ihn festzunehmen, sobald er deutschen Boden betritt. Gab es nach dieser Ankündigung des deutschen Kanzlers in spe einen öffentlichen Aufschrei? Hagelte es Rücktrittsforderungen? Sind die Menschen in Deutschland auf die Straße gegangen, um, wenn nicht für Menschlichkeit, so doch zumindest für den Schutz des Rechtsstaates zu demonstrieren? – Nichts davon ist geschehen. Nehmen die Deutschen hin, dass ungeschminktes Unrecht zur Normalität wird?

Quellen:

https://www.tagesschau.de/inland/merz-einladung-netanjahu-100.html

https://taz.de/Waffenexporte-nach-Israel/!6069183/

Veranstaltungsankündigung

Auf Einladung des Aachener Arbeitskreis Nahost wird Prof. Dr. Abed Schokry am 22. Mai in Aachen einen Vortrag halten. Titel: „Überleben im Krieg – in der Hölle von Gaza. Bericht aus erster Hand.“

Prof. Dr. Abed Schokry kam 1990 zum Studium nach Deutschland, studierte Medizintechnik und promovierte an der TU Berlin. 2007 kehrte er zurück in seine Heimat und arbeitete an der Universität Gaza als Professor für Arbeitsschutz, Qualitätsmanagement und Ergonomie. Im Oktober 2023 wurde die Universität zerbombt. Seither unterrichtet er seine Studierenden nach Möglicheit online. Bis zur lebensbedrohlichen Flucht im Jahr 2024 wurde Schokry zu einem Zeitzeugen des Gazakrieges. Heute lebt er mit seiner Familie in Bonn.

Er erzählt: von der Angst, von der verzweifelten Suche nach Lebensmitteln, Dingen des täglichen Bedarfs und medizinischer Versorgung, aber auch vom Zusammenhalt der Menschen – Erfahrungen einer Familie von Tausenden …

Ort: Großer Saal, KHG, Pontstr. 74 – 76, Aachen.

Zeit: Donnerstag, 22. 05. 2025, 19:00 Uhr (Einlass ab 18:30 h)

Der Eintritt ist frei – um Spenden wird herzlichst gebeten!


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