
Bild: Dieses Bild wurde im Mai 2023 im Flüchtlingslager Al-Shati in Gaza aufgenommen. Es zeigt die damals 89jährige Ibtihaj Dawlah. [Mahmoud Ajjour, The Palestine Chronicle] Quelle: https://www.palestinechronicle.com/would-crawl-back-to-yaffa-an-old-palestinian-woman-and-her-four-rusty-keys-photos/
Die alte Frau hält vier große rostige Schlüssel in ihrer Hand. Es sind Schlüssel zu ihrem Haus in Jaffa, aus dem sie mit ihrer Familie 1948 vertrieben wurde – so wie ca. 750.000 andere Palästinenser/innen zwischen 1947 und 1949. Diese Ereignisse (die massenhafte Vertreibung und Enteigung, in vielen Fällen auch Ermordung) von Palästinenser/innen im Zuge der Staatsgründung Israels wird Nakba genannt. Das ist arabisch und bedeutet „Katastrophe“, „Unglück“. (Zur Nakba siehe auch meinen Blog-Beitrag vom 27. Februar 2025.)
Jedes Jahr am 15. Mai gedenken Palästinenser/innen auf der ganzen Welt dieser Ereignisse. Der 15. Mai wird daher Nakba-Tag genannt. Heute jährt sich der Nakba-Tag zum 77. Mal. 77 Jahre ist es jetzt her, dass der Staat Israel gegründet wurde. Für viele Palästinenser waren es 77 Jahre Enteignung, Flucht und Heimatlosigkeit.
Viele der damals Vertriebenen haben die Schlüssel zu ihren Häusern behalten – als äußeres Zeichens ihres Willens zur Rückkehr in ihre Heimat. Der Schlüssel wurde zu einem palästinensischen Symbol für die emotionale Bindung zu den verlorenen Dörfern und Städten und zum Anspruch auf Rückkehr. Große Schlüssel-Nachbildungen finden sich an den Eingangstoren zu vielen Flüchtlingslagern, wie hier bei einem der Tore zum Flüchtlingslager Aida in Bethlehem.

Bild: Emilywilder1, Wikimedia.
Ibtihaj Dawlah war 1948 14 Jahre alt und ging in die sechste Klasse. Sie kam gerade von der Schule nach Hause, als Pritschenwagen mit bewaffneten Zionisten in ihr Viertel einfielen. Sie begannen auf die Menschen zu schießen, um sie zur Flucht zu bewegen. Ihr Bruder wurde dabei verwundet. Kameraden konnten ihn gerade noch retten.
Ibtihaj rannte mit ihrer Familie in Panik zum Hafen von Jaffa. Sie waren barfuß und mussten ihr ganzes Hab und Gut zurücklassen. Ein kleines Boot brachte sie, zusammen mit anderen Geflüchteten, nach Port Said in Ägypten. Von dort gingen sie zu Fuß in die Wüste Sinai. Dort blieben sie ein Jahr, bevor sie nach Gaza gingen, zunächst in das Flüchtlingslager Maghazi und später in das Lager Shati. Sie lebten zunächst in einem Nylon-Zelt. „Wir waren unter den ersten Palästinensern, die sich in diesem Lager niederließen. Es dauerte lange, bis die Menschen anfingen, Ziegelhäuser anstelle ihrer Zelte zu errichten“, erzählt Ibtihaj. Sie berichtet auch, dass es schwierig war, an Wasser zu gelangen, und dass es nur eine Toilette für das ganze Lager gab, so dass sich davor lange Schlangen bildeten.
Die Erinnerung an Jaffa ist für sie sehr emotional: „Ich will nach Jaffa zurückkehren. Ich werde zurückkehren, und wenn ich kriechen muss.“
Der Artikel, den ich hier zitiert habe, erschien am 16. Mai 2023, also vor dem Angriff Israels auf Gaza im Oktober 2023. Ob Ibtihaj Dawlah noch am Leben ist, weiß ich nicht. Vielleicht starb sie in ihrem Haus aus Ziegeln, in ihrem Bett, im Kreis ihrer Kinder und einer Horde fröhlicher Enkel, mit dem festen Glauben, dass diese eines Tages nach Jaffa zurückkehren werden.
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Ibtihaj Dawlahs Geschichte ist eine von Hunderttausenden. Von 1947 bis 1949 haben zionistische paramilitärische Truppen bzw. später die israelische Armee
- ca. 15.000 Palästinenser/innen ermordet;
- mehr als 750.000 Palästinenser/innen vertrieben;
- mindestens 530 palästinensische Ortschaften zerstört.
Sie verübten Dutzende Massaker an der Zivilbevölkerung, unter anderem in
- al-Khisas (18. Dezember 1947),
- Baldat al-Sheikh (31. Dezember 1947),
- Sa’Sa’ (14. Februar 1948),
- Deir Yassin (9. April 1948),
- Nasir al-Din (12. April 1948),
- al-Abbasiyah (4. Mai 1948),
- Abu Shusha (9. bis 12. Mai 1948),
- Lyyda (9. bis 18. Juli 1948).
Besondere Bekanntheit erlangte das Massaker von Deir Yassin. Es herrschte Bürgerkrieg in Palästina. Mehrere zionistische Verbände (Irgun, Lechi, Palmach und Hagana) kämpften gegen arabische Milizen, die sich der jüdischen Landnahme widersetzten. Das Dorf Deir Yassin (in der Nähe von Jerusalem) hatte mit einer benachbarten jüdischen Siedlung einen Friedenspakt geschlossen. Die Dorfbewohner waren nicht nur selber keine Kämpfer, sondern verpflichteten sich auch, bewaffnete arabische Gruppen auf ihrem Territorium nicht zu dulden. Mehrfach versuchten solche, in Deir Yassin Stellung zu beziehen, doch die Dorfbewohner hielten ihr Wort gegenüber den jüdischen Nachbarn und verteidigten ihr Dorf sogar mit Waffen gegenüber arabischen Kämpfern. Die jüdischen Kampfverbände wussten das. Dennoch wurde beschlossen, Deir Yassin zu überfallen.
Ein Augenzeuge berichtet:
„Ich sah, wie Gruppen von Irgun- und Lehi-Truppen von Haus zu Haus gingen und mit Tommy[-Pistolen] jeden erschossen, den sie darin fanden. […] Ich sah fast keine Männer – ich vermute, die meisten von ihnen waren zu Beginn des Kampfs davongerannt –, sondern überwiegend Frauen, Alte und Kinder. Sie wurden gruppenweise ermordet: Sie drängten sie in die Ecken von Räumen zusammen und schossen dann Salven auf sie. Um die Mittagszeit fingen sie 15 oder 20 Männer, die, als ich sie sah, unbewaffnet waren. Sie setzten sie auf Lastwägen und fuhren in Richtung Jerusalem davon. Später hörte ich, dass sie die Araber in einer Art Siegesprozession durch die Jerusalemer Gegend gefahren hätten. […] Sie brachten diese Araber zum Dorf zurück und ermordeten sie im Steinbruch zwischen Givat Shaul und dem Dorf. Das sah ich am Nachmittag mit meinen eigenen Augen. Das Massaker im Dorf zog sich einige Stunden hin. Nicht einer der Offiziere schrie oder verhinderte es. […].“
Das Ziel dieser Massaker war, Angst und Schrecken unter der palästinensischen Bevölkerung zu verbreiten und sie somit zur Flucht aus ihrer Heimat zu veranlassen. Es war also Terror, mit dem Ziel der „ethnischen Säuberung“. Die obige Liste der Massaker zeigt, dass der Terror schon viele Monate vor der israelischen Staatsgründung (am 14. Mai 1948) begann, und damit auch vor dem Eingreifen der arabischen Staaten Ägypten, Syrien, Libanon, Irak und Jordanien.
Quellen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Massaker_von_Deir_Yasin
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Viele Palästinenser sehen inzwischen die Nakba nicht als ein abgeschlossenes historisches Ereignis, sondern als etwas, das 1947 begann und bis heute andauert. Tatsächlich war der Krieg von 1947 bis 1949 die erste große Welle der „ethnischen Säuberung“ Palästinas, aber nicht die letzte. Die zweite große Welle kam 1967 im Zuge des Sechs-Tage-Krieges zwischen Israel einerseits und Ägypten, Jordanien und Syrien andererseits. Im Verlauf dieses Krieges eroberte Israel das Westjordanland (das bis dahin zu Jordanien gehörte, Gaza und den Sinai (die zu Ägypten gehörten) sowie Ostjerusalem und die Golanhöhen. Insbesondere nach Gaza und in das Westjordanland waren viele der 1948 vertriebenen Palästinenser geflohlen. 1967 wurden insgesamt weitere ca. 300.000 Palästinenser/innen vertrieben (manche Quellen sprechen von 500.000). 130.000 davon waren Vertriebene von 1948. Diese zweite große „ethnische Säuberungswelle“ wird von den Palästinensern Naksa genannt.
Was wir jetzt gerade erleben, sowohl in Gaza als auch im Westjordanland, könnte die dritte große „ethnische Säuberungswelle“ sein. Wenn es nicht gelingt, Israel zu stoppen, könnte diese noch verheerender als die ersten beiden ausfallen. Was die Anzahl der Todesopfer betrifft, so ist diese bereits jetzt mehr als drei Mal so groß wie während der Nakba 1947–1949.
Quellen:
https://www.pbs.org/wgbh/americanexperience/features/hijacked-wars-threats-responses/
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Auf der ganzen Welt finden in diesen Tagen Nakba-Gedenkveranstaltungen statt, auch in Deutschland und Österreich. In vielen Städten gibt es Kundgebungen und Gedenkmärsche. Auch an Universitäten gibt es Aktionen, selbst in Israel. Der israelische Bildungsminister Yoav Kisch verlangt in einem offenen Brief an Finanzminister Smotrich, dass diesen Universitäten Mittel gestrichen werden.
An der University Ann Arbor in Michigan haben Studierende ein Protestcamp errichtet. Die Universitätsleitung hat sie aufgefordert, das Camp zu räumen. Die Studierende haben nicht die Absicht, dieser Aufforderung Folge zu leisten.
Quelle: https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/5/13/live-israeli-forces-resume-gaza-attacks-after-us-israeli-soldier-released (17.45)
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Vor wenigen Tagen starb Margot Friedländer, die Holocaust-Überlebende aus Theresienstadt, im Alter von 103 Jahren in ihrer alten Heimat Berlin, wohin sie in fortgeschrittenem Alter aus der neuen Heimat USA zurückkehrte.
Friedländer hat sich sehr um das Erinnern an den Holocaust verdient gemacht, erzählte in unzähligen Schulen über ihre Erfahrungen. Sie war keine pro-palästinensische Aktivistin, aber sie hat kluge Dinge gesagt. Auf die Frage, ob sie auf der Seite der Palästinenser oder auf der Seite Israels stehe, sagte sie einmal in einem Interview: „Schaut nicht auf das, was euch trennt. Schaut auf das, was euch verbindet. Seid Menschen. Seid vernünftig.“ Bei anderer Gelegenheit sagte sie:
„Was war, können wir nicht mehr ändern, aber es darf nie wieder geschehen. Nie wieder soll auch nur einem Menschen das zugefügt werden, was damals mit Menschen gemacht wurde, weil Menschen nicht als Menschen anerkannt wurden.“
Quellen:
Rheinische Post vom 10. Mai 2025. https://rp-online.de/panorama/leute/margot-friedlaender-eine-mahnende-stimme-ist-verstummt_aid-127188393?utm_source=firefox-newtab-de-de
Zur aktuellen Lage
In Gaza sterben die Menschen weiterhin an den Folgen der israelischen Angriffe und an der verheerenden humanitären Lage. In der Nacht von 13. auf 14. Mai bombardierte die israelische Armee ein Haus voller schlafender Menschen in Jabalia: 50 Tote. Vom Morgen bis zum Abend des 14. Mai starben mindestens 84 Menschen in Gaza durch israelische Angriffe.
Die israelische Armee hat einen Evakuierungsbefehl für Teile von Gaza-Stadt ausgegeben. Betroffen sind unter anderem das Al-Shifa-Krankenhaus und mehrere Schulen, die vielen Menschen als Notunterkünfte dienen.
Am 13. und 14. Mai gab es einen Angriff auf das Nasser-Krankenhaus in Khan Younis sowie neun Raketenangriffe auf das Europäische Krankenhaus. Es gab mindestens 16 Todesopfer und 70 Verwundete. Etliche Einrichtungen des Spitals wurden beschädigt. Die israelische Armee behauptet, sie habe vor dem Angriff gewarnt, um Zivilisten zu verschonen. Die Auswertung von Überwachungskameras hat diese Behauptung inzwischen widerlegt. Überdies rechtfertigte die israelische Armee den Angriff mit der Existenz eines Tunnels unter dem Gebäudekomplex. Als Beweis für diese Behauptung wurde ein Video vorgelegt, welches aber – so das Ergebnis einer Analyse von Experten – die Behauptung der Armee nicht zu stützen vermag.
Unterdessen mehren sich die Anzeichen dafür, dass Israels Regierung von unerwarteter Seite unter Druck gerät, nämlich von der US-Regierung unter Trump. Der US-Präsident ist diese Woche unterwegs in der Region, um mit arabischen Staaten ein paar gute „Deals“ zu machen. Nach Israel kommt er nicht, obwohl Israel sich hinter den Kulissen bemühte, den Präsidenten zu einem Besuch zu bewegen. Vertreter der US-Regierung verhandeln offenbar auch über Gaza, ohne Israel einzubeziehen. Mehrfach kamen von amerikanischer Seite Statements, die darauf schließen lassen, dass die Amerikaner ein baldiges Ende des Krieges wünschen. Die Hamas ließ den amerikanisch-israelischen Soldaten Edan Alexander frei, als „Geste des guten Willens“ gegenüber Trump. Damit düpierte die Hamas einmal mehr Netanjahu und seine Kumpane, wurde damit doch erneut offensichtlich, dass die Geiseln eben nicht durch die Vernichtung Gazas zu retten sind, sondern durch Diplomatie. Genau so wurde es auch in Israel aufgenommen.
Netanjahu gestand den Druck der Amerikaner indirekt ein, indem er erklärte, einem unbefristeten Waffenstillstand werde er auf keinen Fall zustimmen. Es scheint, dass die Angriffe auf Gaza in den letzten Tagen noch intensiviert wurden, als wolle die israelische Regierung noch möglichst viel Tod und Zerstörung über das Land bringen, ehe sie womöglich erneut von den Amerikanern in einen Waffenstillstand gedrängt wird.
Keine Frage: Zwischen Trump und Netanjahu hängt der Haussegen gerade schief. Ob das dauerhaft so bleibt, und was es für die Palästinenser bedeutet, wird sich erst zeigen.
Quellen:
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/5/14/live-israel-attacks-gaza-hospitals-as-trump-says-working-to-end-war-soon (14.15, 15.00, 16.45, 17.30)
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/5/13/live-israeli-forces-resume-gaza-attacks-after-us-israeli-soldier-released (16.30, 18.35)
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