Wind der Veränderung

Ich spüre den Wind der Veränderung. Es verändert sich, wie die Welt Israel sieht. Das Bild von der „einzigen Demokratie im Nahen Osten“, die „mit dem Rücken zur Wand um ihre Existenz kämpft“ und Gewalt ausschließlich zur unumgänglichen Selbstverteidigung einsetzt, dieses Bild hat inzwischen so viele Risse, dass es nie mehr restaurierbar sein wird. An seine Stelle treten die Bilder der Wahrheit: Bilder von Kindern, denen Arme und Beine fehlen, durch deren fahle und schorfige Haut die Knochen hervortreten, deren Haare aufgrund von Mangelernährung ausgefallen sind, die vor Schwäche kaum mehr stehen können; Bilder von Ruinen-Landschaften; Bilder von zerstörten Krankenhäusern; Bilder von ausgebrannten Rettungsfahrzeugen; Bilder von Familien in Zelten; Bilder von verzweifelten Menschenmengen mit leeren Töpfen vor den wenigen Suppenküchen, die noch etwas zu verteilen haben; Bilder von in weiße Tücher gehüllten Leichnamen, die auf dem Boden liegen, und trauernden Angehörigen … Die Menschen, die all dies sehen, werden mehr.

Immer weniger Menschen glauben die Lügen: „Es geht um die Rettung der Geiseln …“ „Wir halten uns an das Völkerrecht …“ „Wir tun alles, um Zivilisten zu schützen …“ „Die Menschen hungern nur deshalb, weil die Hamas alle Lebensmittel klaut …“ „Wir haben die Neugeborenen-Station zerstört, weil die Hamas in den Inkubationskästen für die Frühgeborenen Waffen versteckt hat …“ „Wir haben keine Ahnung, wo eure Sanitäter abgeblieben sind …“ „Wir haben keine Journalisten / humanitären Helfer / Sanitäter erschossen, sondern Terroristen, die sich als Journalisten / humanitäre Helfer / Sanitäter verkleidet haben …“ „Gut, es waren vielleicht nicht alle Terroristen, aber das konnten wir nicht erkennen, sie hatten ihre Signallichter nicht eingeschaltet …“ „Ok, sie hatten ihre Signallichter eingeschaltet, da hat wohl jemand nicht so genau hingeschaut, jedem kann einmal ein Fehler passieren …“

Immer mehr Menschen erkennen die Wahrheit: Dass viel zu viele Israelis das gesamte palästinensische Volk als Feind sehen, auch die Alten, die Frauen, die Kinder; dass die Zehntausenden toten Frauen und Kinder kein „Kollateralschaden“ sind, sondern gewollt; dass der Hunger als Waffe eingesetzt wird; dass für die Regierenden Israels Menschenleben keine Bedeutung haben, nicht einmal die ihrer eigenen Leute; dass das Kriegsziel die Vertreibung oder sogar Auslöschung des palästinensischen Volkes ist.

Ich spüre den Wind der Veränderung, wenn wir, eine Handvoll Frauen und Männer, mit Plakaten in der Fußgängerzone stehen. Ich spüre ihn in den kleinen Gesten all jener, die anscheinend nicht wagen, ihre Zustimmung offen zu zeigen, in dem verstohlenen „Daumen hoch“ der Frau, die auf der anderen Seite vorbeigeht; in dem Lächeln des schwarzhaarigen Jungen vor dem Kiosk; in einem scheuen Kopfnicken; aber natürlich auch in den Begegnungen mit jenen, die offen mit uns sprechen, uns zustimmen, uns ihren Respekt ausdrücken, ihren Gefühle und Gedanken mit uns teilen. Natürlich, es gibt sie immer noch: diejenigen, die ihren Blick abwenden und schnell vorbeigehen; und es gibt welche, die uns beschimpfen. Doch die schönen Begegnungen überwiegen.

Ich spüre den Wind der Veränderung, wenn ich mit 200 anderen durch die Innenstadt ziehe, wenn wir über Lautsprecher die Wahrheit über Gaza verkünden und die Menschen am Straßenrand stehen und uns mit ernsten Gesichtern zuhören.

Der Wind der Veränderung, er weht auch in deutschen und österreichischen Redaktionsstuben (zumindest in manchen) und in Fernsehstudios; er erfasst sogar vereinzelt Politiker/innen und politische Fraktionen – oder jedenfalls Teile derselben.

Einige Beispiele aus der internationalen Politik:

Der italienische Außenminister Antonio Tajani sagte in einem öffentlichen Statement in Richtung Israel: „Genug mit den Angriffen. Wir wollen das palästinensische Volk nicht länger leiden sehen. Lasst uns zu einem Waffenstillstand kommen, lasst uns die Geiseln befreien, aber lasst die Leute, die Opfer der Hamas sind, in Ruhe.“

Italiens Premierministerin Giorgia Meloni bezeichnet die humanitäre Lage in Gaza als „nicht zu rechtfertigen“.

Frankreichs Präsident Macron nannte Netanjahus Gaza-Politik „beschämend“ und drohte mit einer Überprüfung der EU-Kooperationsabkommen mit Israel.

Die kanadische Außenministerin Anita Anand bezeichnet es als „inakzeptabel“, dass Nahrung als politisches Instrument benutzt wird, wie Israel das tut. Sie nennt die Kriegsführung Israels in Gaza eine „Aggression gegen die Palästinenser“.

Am vergangenen Freitag fand der spanische Top-Diplomat Josep Borrell (ehemaliger EU-Außenminister) folgende Worte: „Wir haben es hier mit der größten ethnischen Säuberungsaktion seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu tun, mit dem Ziel eine luxuriöse Feriendestination zu schaffen, nachdem all die Milionen Tonnen von Schutt in Gaza weggeräumt wurden und die Palästinenser gestorben oder weggegangen sind. Europa hat die Fähigkeit und die Mittel, nicht nur zu protestieren gegen das, was hier vor sich geht, sondern auch Israels Verhalten zu beeinflussen. Aber es geschieht nicht. Wir liefern die Hälfte der Bomben, die auf Gaza fallen. Wenn wir wirklich glauben, dass zu viele Menschen sterben, dann wäre die natürliche Reaktion, weniger Waffen zu liefern und den Hebel des Assoziierungssabkommens einzusetzen […].

Am 16. Mai unterzeichneten sieben europäische Länder eine gemeinsame Erklärung, in der Israel aufgefordert wird, die Angriffe auf Gaza unverzüglich einzustellen und humanitäre Hilfsgüter ins Land zu lassen, die von internationalen humanitären Organisationen verteilt werden sollen. Diese Länder sind Island, Irland, Luxemburg, Malta, Slowenien, Spanien und Norwegen.

Einige Beispiele aus deutschen und österreichischen Medien:

In Österreich äußerte sich der (üblicherweise mit Äußerungen zur Tagespolitik sehr zurückhaltende) ehemalige Bundespräsident Heinz Fischer gegenüber einer Presseagentur über den Gaza-Krieg: Er sehe mit „Empörung, in welcher Weise ein Ministerpräsident Netanjahu mit seinem sogenannten Kriegskabinett (…) aus rechtsextremen, ihren Zionismus vor sich hertragenden Regierungsmitgliedern den Krieg gegen die Bevölkerung des Gazastreifens führt“. Mehrere wichtige österreichische Zeitungen berichteten ausführlich und neutral über dieses Interview. Die Reaktionen der Leser in den Online-Kommentaren waren gemischt, aber tendenziell erhielt der Ex-Präsident Zuspruch. Eine andere österreichische Zeitung veröffentlichte einen kritischen Kommentar über Fischers Äußerungen. Einige Tage darauf erschienen jedoch in derselben Zeitung Leserbriefe, die den kritischen Kommentar kritisierten – eine kleine Sensation.

Bei Markus Lanz darf ein Rettungssanitäter, der in Gaza im Einsatz war, unzensiert über seine Erfahrungen sprechen, und der CDU-Politiker, der in der Talk-Runde ganz allein Israel verteidigen soll, geriet schwer in die Defensive.

Das Auslandsjournal im ZDF porträtiert eine Familie in Gaza in ihrem Kampf ums tägliche Überleben und interviewt einen israelischen Soldaten, der über Kriegsverbrechen im Libanon berichtet und den Einsatz in Gaza verweigert.

Der ARD-Weltspiegel sendet eine schonungslose Reportage über die humanitäre Lage in Gaza, am Beispiel eines Kleinkindes mit Kinderlähmung. Es wird explizit gesagt, dass Israel den Waffenstillstand gebrochen hat.

Die Tagesthemen senden am 12. Mai einen Kommentar der großartigen Sophie van der Tann. Sie sagt: Deutschland hat historische Verantwortung für die Aufrechterhaltung des Völkerrechts.

Im Grunde sollte man meinen, dass all das in einer pluralistischen demokratischen Gesellschaft mit unabhängigen Medien selbstverständlich sein sollte. Doch seit geraumer Zeit ist es das nicht mehr. Man sollte sich auch nicht darauf verlassen, dass es so bleiben wird. Doch man darf sich darüber freuen, dass es jetzt so ist.

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Ein weiteres positives Moment ist die Tatsache (was immer dafür die Ursache sein mag), dass Trump im Moment Israel die kalte Schulter zeigt und ostentativ verhandlungsbereit gegenüber Ländern ist, die Israel gerne in Schutt und Asche bombardieren würde:

Die USA haben die Sanktionen gegen Syrien aufgehoben, einen Separat-Waffenstillstand mit den jemenitischen Houthis geschlossen (die weiterhin in Israel für häufigen Raketenalarm sorgen), und sie verhandeln mit dem Iran ein Nuklear-Abkommen – alles, ohne Israel einzubeziehen.

In Doha unterzeichneten Trump und der Emir von Katar Abkommen über Wirtschafts- und Verteidigungsbeziehungen. Es ging unter anderem um amerikanische Waffenlieferungen an Katar, die aus israelischer Sicht besorgniserregend sein müssen, weil sie Israels militärtechnologische Überlegenheit in der Region untergraben könnten.

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Quellen:

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/5/17/live-israel-kills-95-in-gaza-as-it-launches-new-ground-invasion (13.30)

https://www.aljazeera.com/news/2025/5/17/seven-european-nations-urge-israel-to-reverse-its-current-policy-on-gaza

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/5/16/live-israeli-attacks-kill-more-than-100-palestinians-across-gaza (14.40)

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/5/15/live-israel-kills-at-least-115-in-gaza-as-palestinians-commemorate-nakba (18.50)

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/5/14/live-israel-attacks-gaza-hospitals-as-trump-says-working-to-end-war-soon (15.00, 15.50, 17.15, 17.30)

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/5/13/live-israeli-forces-resume-gaza-attacks-after-us-israeli-soldier-released (16.36)

https://www.derstandard.de/story/3000000268643/fischer-214sterreich-soll-stellung-beziehen-gegen-israels-gaza-krieg

https://kurier.at/politik/inland/heinz-fischer-israel-gaza-krieg-netanjahu-oevp-spoe-neos/403038700

https://www.zdf.de/play/talk/markus-lanz-114/markus-lanz-vom-14-mai-2025-100 (Die ersten fünf Minuten und dann ab Minute 42.)

https://www.zdf.de/play/magazine/auslandsjournal-138/auslandsjournal-vom-14-mai-2025-100

https://www.ardmediathek.de/video/weltspiegel/gaza-humanitaere-katastrophe/ard/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL3dlbHRzcGllZ2VsLzM4MmZmZTEyLTk3ZWQtNGE1Yi04NzFmLWFmMjkzZGUyOTJhMw

https://www.ardmediathek.de/video/tagesthemen/tagesthemen-22-15-uhr/das-erste/Y3JpZDovL3RhZ2Vzc2NoYXUuZGUvZDJjZjFmNTEtYzRmOC00NTIzLThjMDAtZjY3MDJlNDQ4MGQyLVNFTkRVTkdTVklERU8 (ab Minute 18)

Bomben und Hunger

Der Wind der Veränderung, er ist erquickend für uns, die wir mit dem palästinensischen Volk mitleiden, er lässt uns leichter atmen. Doch den Menschen am Boden, in Gaza, verschafft er keine Erleichterung. Im Gegenteil. Die israelische Armee hat ihre Angriffe im Gazastreifen intensiviert. Bombardiert werden Krankenhäuser und andere Gebäude, die bis unters Dach mit Geflüchteten belegt sind. Bombardiert wird überall, wo Menschen sind, auch in Gebieten, für die es gerade keine Evakuierungsbefehle gibt. Meist gibt es keine Vorwarnungen. Vielfach werden die Menschen im Schlaf ermordet. Gestern, am 17. Mai, starben in Gaza mindestens 66 Menschen durch israelische Angriffe, am 16. Mai waren es mehr als 100, am 15. mindestens 115. In der Nacht von 13. auf 14. Mai starben bei einem Luftangriff auf ein Haus mindestens 50 Menschen. Die Explosion habe sich angefühlt wie ein gewaltiges Erdbeben, sagte ein Überlebender. Der Angriff überraschte die Menschen im Schlaf. Eine israelische Zeitung berichtet, dass an einem einzigen Tag durchschnittlich alle 4 Minuten eine Bombe auf Gaza fiel.

In den Krankenhäusern gibt es keine Leichentücher mehr. Die Menschen sind nicht mehr in der Lage, ihre Angehörigen ordentlich zu bestatten.

Infolge massiver Angriffe ist das Europäische Krankenhaus in Khan Younis jetzt nicht mehr in Betrieb. Die israelische Armee zerstörte Straßen, die zu dem Krankenhaus führen. Verschiedene Abteilungen wurden schwer beschädigt. Die wiederholten Angriffe machen den Aufenthalt dort sowohl für das Personal als auch für die Patienten zu gefährlich.

Es gibt einige medizinische Leistungen, die das Europäische Krankenhaus zuletzt als einzige medizinische Einrichtung in Gaza angeboten hat. Dazu gehören Neurochirurgie, Herzchirurgie und Augenchirurgie. Das bedeutet, dass diese medizinischen Leistungen für die Menschen in Gaza jetzt nicht mehr verfügbar sind. Außerdem war das Europäische Krankenhaus die letzte Einrichtung in Gaza für die Nachsorge für Krebspatienten. Das Krankenhaus hatte mehrere Hundert Betten für stationäre Behandlungen. Diese gibt es jetzt nicht mehr.

Ein anderes Krankenhaus, in Jabalia, wurde ebenfalls angegriffen. Dabei kamen 15 Menschen ums Leben, etliche weitere wurden verwundet.

Der Hunger greift immer mehr um sich. Wer in Gaza Glück hat, ergattert eine Mahlzeit pro Tag: Reis oder Linsen. Viele Menschen bekommen nicht einmal das. Kinder essen schimmliges Brot, wenn sie welches finden.

Immer neue Evakuierungsbefehle oder einfach die Intensität der Angriffe auch ohne Evakuierungsbefehl zwingen Tausende Menschen zur Flucht aus dem Norden in den Süden oder in die andere Richtung. Sicherheit gibt es nirgends.

Der Wind der Veränderung, er ist noch zu schwach. Wir brauchen einen Sturm. Außerdem sollten wir uns keine Illusionen machen: Die Gegenseite ist sicher schon dabei, ihre Windmaschinen gegen uns in Stellung zu bringen.

Quellen:

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/5/17/live-israel-kills-95-in-gaza-as-it-launches-new-ground-invasion (14.25)

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/5/16/live-israeli-attacks-kill-more-than-100-palestinians-across-gaza (16.15, 17.15, 17.30, 19.00)

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/5/15/live-israel-kills-at-least-115-in-gaza-as-palestinians-commemorate-nakba (18.37, 19.00)

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/5/14/live-israel-attacks-gaza-hospitals-as-trump-says-working-to-end-war-soon (14.15)


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