Todesfallen

Über die Lebensmittelverteilung der sogenannten Gaza Humanitarian Foundation (GHF) habe ich bereits in den letzten beiden Beiträgen berichtet („,Hilfe‘ als Waffe“ vom 28. Mai und „Tod statt Brot“ vom 2. Juni). Nahezu jeden Tag seit der Eröffnung des ersten Verteilzentrums am 27. Mai wurde von israelischen Soldaten auf Menschen geschossen, die sich in der Nähe der Verteilzentren versammelt hatten oder auf dem Weg dorthin waren.

Inzwischen wurde ein neuer Leiter für die GHF bestellt. Der ursprüngliche Leiter war Ende Mai von seinem Amt zurückgetreten, weil er die Einhaltung von Grundprinzipien humanitärer Hilfe bei der GHF nicht gewährleistet sah. Der neue Leiter ist der politisch weit rechts stehende Pastor Johnny Moore. Moore ist ein Fan von Trumps Plan, Gaza in eine „Riviera des Nahen Ostens“ zu verwandeln, was auf eine Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung hinausläuft.

Von 27. Mai bis 3. Juni wurden in der Nähe der Verteilzentren bzw. auf dem Weg dorthin 102 Menschen erschossen und mehr als 460 verwundet. Die meisten von ihnen waren zu einem der drei Verteilzentren im Süden gegangen. Allein am 3. Juni waren es mindestens 27 Todesopfer. Das Rote Kreuz berichtete dazu: „Heute bekamen wir so viele Patienten mit Verletzungen durch Waffen durch ein einziges Ereignis wie noch nie zuvor, seit der Eröffnung unseres Feldspitals vor mehr als einem Jahr.“ Am Morgen des 3. Juni seien 184 Patienten zu dem Spital gebracht worden. Alle von denjenigen, die ansprechbar waren, berichteten, sie hätten versucht, ein Hilfsverteilzentrum zu erreichen.

Zeugen berichten, dass die israelischen Soldaten vor allem auf den Kopf und den Oberkörper zielten. Einige wurden ermordet, als sie Lebensmittelpakete wegtrugen. Eine Frau wurde ermordet, als sie versuchte, ihren Kindern etwas aus einem Paket zu essen zu geben.

Ärzte sagen, dass die meisten Verwundeten in einem kritischen Zustand sind. Es gibt nicht genug Blutkonserven für die Verwundeten.

Das Massaker der israelischen Armee begann etwa um 3.00 morgens. Viele Menschen hatten sich auf dem Weg zu einem der Verteilpunkte gemacht. Die israelische Armee versperrte den Zugang mit Panzern. Wenn Menschen sich den Panzern näherten, wurden sie beschossen. Die Menschen wurden von einem Hubschrauber aus und von Drohnen beschossen. Zeugen berichten, dass sie das Verteilzentrum nicht erreichen konnten und also keine Lebensmittel bekamen.

Im Englischen gibt es für Menschen, die an (oder auf dem Weg zu) diesen mörderischen Hilfszentren ums Leben kommen, bereits einen eigenen Namen: „aid victims“ („Hilfeopfer“).

Sowohl die israelische Armee als auch die GHF leugneten zunächst rundheraus, dass Schüsse auf die Menschen abgegeben wurden: Das seien Lügen, die von der Hamas verbreitet würden. Nach einigen Tagen wurde die Kommunikationsstrategie geändert. Dann hieß es plötzlich, man habe auf „Verdächtige“ gezielt, die sich dem Militär genähert hätten und eine „Bedrohung“ dargestellt hätten. Leute hätten sich nicht an die vorgegebene Route gehalten. Damit gesteht die israelische Armee indirekt ein, dass die Leugnung der Schüsse eine Lüge war. Jetzt sollen also die Hilfesuchenden eine „Bedrohung“ für israelische Soldaten gewesen sein.

Außerdem wird jetzt behauptet, die angegeben Opferzahlen wären übertrieben. Doch die von den Behörden in Gaza angegeben Opferzahlen stimmen sehr gut überein mit Berichten des Roten Kreuzes und anderer medizinischer Einrichtungen. Überdies sind die Behörden in Gaza während des gesamten Krieges mit den Angaben zu Opferzahlen stets deutlich unter den Schätzungen von Experten gewesen.

Die israelische Kommunikationsstrategie erinnert an diejenige nach dem Massaker an mehr als einem Dutzend Sanitätern und anderen Zivilschutz-Mitarbeitern (siehe meine Blogbeiträge vom 3. und 6. April). Auch damals wurde zunächst alles geleugnet, und nachdem das nicht mehr ging, wurden allerhand Lügen in die Welt gesetzt, die bald darauf eine nach der anderen widerlegt wurden.

Gestern, am 4. Juni, wurden alle Verteilzentren geschlossen – für einen Tag, hieß es zunächst. Es wurden also überhaupt keine Lebensmittel verteilt. Die Gazaner wurden davor gewarnt, sich den Verteilpunkten zu nähern. Inzwischen wurde bekanntgegeben, dass die Schließung um einen weiteren Tag verlängert werde. Begründet wurde der Schritt mit „renovation, reorganisation and efficiency improvement work“. Ist tatsächlich die „Renovierung und Reorganisation“ aller vier Verteilzentren am selben Tag nötig, nach sage und schreibe drei bis acht Tagen Betrieb? Ist das nur Pfusch – oder doch eher ein wohlüberlegtes Mittel, die Qualen der hungernden Menschen noch zu steigern? Jedenfalls ist klar, dass solche unvorhersehbaren Schließungen (und die gestrige war nicht die erste) die Verunsicherung der Menschen und das Chaos noch vergrößern.

Manchmal, nach langen Verhandlungen und allerlei Schikanen, lässt die israelische Armee doch ein wenig Hilfe von seriösen Hilfsorganisationen durch. Von Freitag auf Samstag konnten 77 LKWs des World Food Programs (WFP) nach Gaza fahren. Sie waren mit Mehl beladen. Kein Sack Mehl erreichte das Warenlager. Alle LKWs wurden vorher angehalten und von hungrigen Menschen geplündert. Eine Sprecherin des WFP sagte, man habe sich entschieden, gar nicht zu versuchen, die Menschen am Plündern zu hindern.

***

Die Menschen sterben nicht nur an den Verteilpunkten, sondern überall in Gaza. Reporter vor Ort berichten, dass die Intensität der Luftangriffe zugenommen hat. Vom 1. auf den 2. Juni wurden innerhalb von 24 Stunden mindestens 51 Palästinenser/innen durch israelische Angriffe getötet und mehr als 500 verletzt. Vom 3. auf den 4. Juni wurden innerhalb von 24 Stunden mindestens 95 Palästinenser/innen von der israelischen Armee ermordet und 440 verwundet. Angriffe gab es in verschiedenen Gebieten Gazas, auch in al-Malwasi, dem seinerzeit als „humanitäre Zone“ ausgewiesenen Gebiet an der Küste, wo die Geflüchteten in überfüllten Zeltlagern leben.

Gemordet wird nicht nur mit schweren Bomben und Raketen, sondern auch mit Drohnen. Gestern starben zwei Kinder bei einem Drohnenangriff in Gaza-Stadt. Drohnen sind, wenn ich richtig informiert bin, mit Kameras ausgestattet. Das heißt: Irgendwo sitzt jemand an einem Bildschirm, auf dem er oder sie genau sieht, wer oder was sich im Zielbereich der Drohne befindet; und wenn die Drohne feuert, kann dieser jemand zuschauen, wie Menschen Gliedmaßen abgerissen werden, wie sie zu Boden geschleudert werden, wie sie verbluten. Diese zwei Kinder sind also keine „Kollateralschäden“, sondern wurden bewusst als Ziele eines tödlichen Angriffs ausgewählt.

Drohnen sind nicht nur tödliche Waffen, sondern auch ein Instrument des Terrors. Sie sind überall, sie quälen die Menschen Tag und Nacht mit einem sehr unangenehmen Geräusch, sie schweben über Häusern, Straßen, Zelten, und sie erzeugen ein permanentes Gefühl der Bedrohung.

Seit Oktober 2023 starben in Gaza durch israelische Angriffe nach offizieller Statistik 54.510 Menschen; zusätzlich wurden 124.901 Verletzte gezählt. Die wahre Anzahl der Opfer ist mit Sicherheit wesentlich größer, da viele Tote nicht geborgen werden konnten. Außerdem sind in dieser Zählung diejenigen nicht erfasst, die durch Hunger und/oder fehlende medizinische Versorgung ihr Leben verloren haben.

Vor wenigen Tagen wurde Gazas letzte Dialysestation zerstört.

Heute wurde das al-Ahli-Krankenhaus in Gaza-Stadt erneut bombardiert. Dabei kamen drei Journalisten ums Leben. Allein in den Morgenstunden des heutigen Tages wurden 23 Menschen in Gaza von israelischen Soldaten ermordet.

Zentren, an denen Lebensmitteln verteilt werden, sind Todesfallen. Krankenhäuser sind Todesfallen. Zu Flüchtlingsunterkünften umfunktionierte Schulen sind Todesfallen. Zeltlager sind Todesfallen. Straßen, auf denen die Menschen vor israelischen Kampfjets und Bomben fliehen, sind Todesfallen. Ganz Gaza ist eine Todesfalle.

Quellen:

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/6/4/live-israel-stops-food-distribution-for-whole-day-in-gaza-amid-starvation (14.55, 16.40)

https://www.bbc.com/news/articles/czxy33z7p2lo

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/6/3/live-israel-kills-24-palestinians-at-aid-site-in-southern-gazas-rafah (14.00, 14.15, 14.30, 16.28, 16.50, 17.15)

https://www.theguardian.com/world/2025/jun/03/gaza-humanitarian-foundation-chair-johnnie-moore

https://www.theguardian.com/world/2025/jun/03/gaza-humanitarian-foundation-chair-johnnie-moore

https://www.bbc.com/news/articles/c8xg7rv9g4yo

https://www.aljazeera.com/video/newsfeed/2025/6/2/video-israel-demolishes-the-only-kidney-dialysis-centre-in-gaza

https://www.palestinechronicle.com/live-blog-new-rafah-massacre-at-aid-site-ansarallah-warns-against-investing-in-israel-day-604/ (12.05 PM; 3.42 PM)

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/6/5/live-us-blocks-un-gaza-ceasefire-resolution-israel-pounds-southern-strip (08.45)

Umfragen

82 Prozent der jüdischen Israelis befürworten die gewaltsame Vertreibung der Palästinenser aus Gaza. Nichtreligiöse jüdische Israelis befürworten dies zu 69 Prozent, ultaorthodoxe Juden zu 97 Prozent.

56 Prozent der jüdischen Israelis befürworten die gewaltsame Vertreibung der ca. zwei Millionen Palästinenser/innen, die nicht in den besetzten Gebieten leben, sondern innerhalb Israels anerkannter Grenzen. Von den nichtreligiösen Juden befürworten dies 38 Prozent, von den Ultraorthodoxen 91 Prozent.

31 Prozent der nichtreligösen israelischen Juden sind der Meinung, dass alle Einwohner einer eroberten feindlichen Stadt ermordet werden sollen. Unter den Ultraorthodoxen stimmen 63 Prozent dem zu.

Das sind zutiefst erschreckende Zahlen. Sie beweisen, dass das israelische Problem nicht allein ein Problem der derzeitigen rechtsextremen Regierung ist, sondern ein Problem einer in weiten Teilen der jüdischen Gesellschaft tief verwurzelten rassistischen Ideologie.

Es gibt eine Korrelation zwischen Rechtsextremismus und Religiosität: Je religiöser jüdische Israelis sind, desto stärker befürworten sie ethnische Säuberung und Genozid. Außerdem: Je jünger jüdische Israelis sind, desto stärker befürworten sie ethnische Säuberung und Genozid.

Die Umfrage zeigt überdies klar und deutlich, dass es nicht allein um Gaza geht, sondern auch um das Westjordanland und sogar um die ca. zwei Millionen Palästinenser, die nicht in den besetzten Gebieten, sondern in Israel leben. Es soll sich also niemand der Täuschung hingeben, dass das Problem erledigt wäre, wenn die gesamte Bevölkerung Gazas tot oder in andere Länder „umgesiedelt“ worden ist. Als nächstes kommt dann die „ethnische Säuberung“ des Westjordanlands (die längst begonnen hat) und schließlich die Vertreibung der israelischen Araber – falls diese Fahrt zur Hölle nicht gestoppt wird.

Gerade eben habe ich ein Video mit Bildern eines brennenden palästinensischen Dorfes im Westjordanland gesehen. Israelische Siedler haben in dem Dorf Deir Dibwan Häuser in Brand gesetzt, während sich Menschen darin befanden. 10 Dorfbewohner wurden verletzt. Es ist nicht der erste Siedler-Überfall auf Deir Dibwan.

***

Ich weigere mich, zu verzweifeln. Ich weigere mich auch, zynisch zu werden, einfach die Füße hochzulegen und auf den Tag zu warten, an dem das faschistische Israel zusammenbricht (und ich habe keinerlei Zweifel daran, dass dieser Tag kommen wird). Ich will ein Mensch bleiben. Daher will ich mir mein Mitgefühl bewahren und nicht aufhören, mich mit aller meiner Kraft einzusetzen gegen den jüdischen Faschismus und für seine Opfer.

Was Hoffnung gibt: Weltweit wächst die Zahl derjenigen, die offenbar ähnlich empfinden – auch in Westeuropa und sogar in Deutschland.

75 Prozent der Deutschen befürworten einen vorübergehenden Stopp der deutschen Waffenlieferungen nach Israel. Nur 14 Prozent wollen, dass weiterhin Waffen an Israel geliefert werden. Elf Prozent haben keine Meinung dazu oder wollen sich nicht äußern.

Eine Umfrage in sechs westeuropäischen Ländern (Großbritannien, Dänemark, Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien) ergab folgendes Stimmungsbild: In den sechs untersuchten Ländern hatten 13 bis 21 Prozent der Befragten eine positive Sicht auf Israel; 63 bis 70 Prozent gaben an, eine negative Meinung von Israel zu haben. In Deutschland, Frankreich und Dänemark hatte Israel noch nie seit Beginn dieser Umfrage im Jahr 2016 so schlechte Sympathiewerte wie jetzt.

Quellen:

https://www.stern.de/politik/deutschland/waffenexporte-nach-israel–die-meisten-deutschen-sind-dagegen-35774238.html

https://www.stern.de/politik/deutschland/waffenexporte-nach-israel–die-meisten-deutschen-sind-dagegen-35774238.html

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/5/23/live-israeli-attacks-kill-85-in-gaza-as-starvation-related-deaths-hit-29 (16.45)

https://www.haaretz.com/israel-news/2025-05-28/ty-article-magazine/.premium/yes-to-transfer-82-of-jewish-israelis-back-expelling-gazans/00000197-12a4-df22-a9d7-9ef6af930000

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/6/5/live-us-blocks-un-gaza-ceasefire-resolution-israel-pounds-southern-strip (10.16)

https://www.btselem.org/node/215074

https://geopoliticaleconomy.com/2025/05/30/poll-israelis-expel-palestinians-gaza-genocide/


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