Kampf gegen „Terroristen“

Israel hat vor zwei Tagen einen Krieg gegen den Iran begonnen. Warum, und warum gerade jetzt, ist eine Frage, die sicherlich die Analytiker beschäftigt. Vielleicht um von den Verbrechen in Gaza und dem Westjordanland abzulenken? Ich werde aber auch heute genau darüber schreiben. Denn Israels Krieg gegen das palästinensische Volk macht inzwischen keine Pause.

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Vor wenigen Tagen, am 10. Juni, führte die israelische Armee in der Altstadt von Nablus (im Westjordanland) eine Großrazzia durch. Nidal Umairah wollte zu seinem Haus, um seine Familie aus der Gefahrenzone zu bringen. Ein Foto eines Augenzeugen zeigt ihn von hinten (einen Mann mittleren Alters in dunkler Hose, weißem Polohemd und roter Kappe), wie er in einer schmalen Gasse mit erhobenen Händen auf zwei israelische Soldaten zugeht, die ihre Waffen auf ihn richten. Es existiert ein Video, das wenige Sekunden nach dem auf diesem Foto festgehaltenen Augenblick beginnt. Darauf sieht man Nidal Umairah, wie er mit den Soldaten spricht. Seine Körpersprache wirkt völlig ruhig. Dann tritt ihm einer der Soldaten in den Bauch, andere Soldaten fallen über ihn her und schlagen ihn. Ein anderer Zivilist (Nidal Umairahs Bruder) eilt zu ihm. Dann fallen die ersten Schüsse. Die Person mit der Kamera verschwindet hinter einer Hausecke. Mehrere Gewehrsalven sind zu hören.

Zeugen berichten, die beiden Männer wären danach tot am Boden gelegen. Die israelische Armee habe die Leichen konfisziert. Die israelische Armee behauptete später, sie habe zwei Terroristen getötet. Die Männer hätten versucht, einem der Soldaten die Waffe zu entreißen, daher habe man das Feuer eröffnen müssen.

Unter den Zeugen sind mehrere Sanitäter. Einer von ihnen, Ghassan Hamdan, berichtet: „Sie waren mindestens 12 Soldaten, und sie feuerten ihre automatischen Maschinengewehre alle auf einmal. Als die beiden Männer auf dem Boden lagen, fragten [wir] die Soldaten, ob wir ihre Wunden behandeln können. Sie antworteten, indem sie auf uns zu schießen begannen.“

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Am 30. Mai hatte die israelische Armee mit einem präzisen Drohnenangriff in Khan Younis (Südgaza) einen Mann getötet. Die israelische Armee behauptete, er wäre ein Hamas-Kämpfer gewesen. Nun berichtet die israelische Tageszeitung Haaretz: Das Opfer war ein Zivilist namens Mohammed al-Farra, der unter Zerebralparese litt. Die Familie al-Farra hat seit Beginn des Krieges sieben Menschen verloren.

Es gibt ein von der israelischen Armee aufgenommenes Video von der Ermordung des Mannes, das ein israelischer Journalist noch am 30. Mai ins Netz gestellt hatte. Man kann deutlich die Bewegungsbehinderung des Mannes erkennen, während er langsam und hinkend einen Platz überquert. Im nächsten Augenblick verschwindet er in einer großen Rauchwolke. Tausende Israelis schickten positive Reaktionen auf dieses Video.

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Das ist nicht der einzige dokumentierte Fall von Gewalt gegen einen behinderten Menschen durch die, laut Eigendefinition, „anständigste Armee der Welt“. In einem anderen Video sieht man, wie israelische Soldaten einen geistig behinderten jungen Mann attackieren. Man sieht zunächst einen korpulenten jungen Mann, der offenbar vor etwas oder jemandem davonläuft. Er verschwindet um die Ecke in einer Gasse und ist dann nicht mehr zu sehen. Dann sieht man vier israelische Soldaten, mit Gewehren im Anschlag. Sie laufen in dieselbe Richtung wie der junge Mann, verschwinden auch um die Ecke. Schnitt. Dann tauchen sie wieder auf. Der junge Mann liegt am Boden. Sie schleifen ihn über den Boden. Einer der Soldaten tritt auf den am Boden Liegenden ein. Dieses Video ist ohne Ton und in schwarz-weiß. Schnitt.

Dann kommt ein neues Video, mit Ton und Farbe. Der junge Mann sitzt jetzt am Boden, wo ihn die Soldaten offenbar liegengelassen haben, an ein Auto gelehnt. Er stöhnt. Ein Zivilist ist zu ihm geeilt, um ihm zu helfen. Die Soldaten gehen vorbei. Der Zivilist spricht sie an und fragt sie körpersprachlich, ob sie verrückt sind. Das war in der Nähe von Hebron (Westjordanland).

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Am 3. Juli 2024 stürmten israelische Soldaten eine Wohnung in Gaza. Sie hatten einen Kampfhund dabei, der den 24jährigen Muhammed Bhar schwer verletzte. Der junge Mann litt unter dem Down Syndrom und unter Autismus. Er brauchte Hilfe beim Essen und Trinken. Seine Mutter musste ihm täglich die Windeln wechseln. Er konnte sich kaum bewegen. Die lauten Geräusche des Krieges um ihn herum machten ihm Angst. Er konnte nicht verstehen, was vorging. Er konnte sicher auch nicht verstehen, warum fremde Männer einen Hund auf ihn hetzten.

Die Mutter machte die Soldaten auf die Behinderung ihres Sohnes aufmerksam und bat, ihn zu verschonen. Sie und die übrigen Mitglieder der Familie mussten zu sehen, wie sich der Hund in Muhammed verbiss. Er fügte ihm stark blutende Wunden zu. Der Familie war es nicht erlaubt, sich dem zu Tode Verängstigten zu nähern. Er wurde von seiner Familie getrennt und in ein anderes Zimmer gebracht. Die Familie wurde mit vorgehaltener Waffe gezwungen, das Haus zu verlassen und ihren hilflosen Sohn/Bruder/Cousin unter der Obhut der Soldaten zurückzulassen.

Aufgrund der Kämpfe konnte die Familie erst nach einer Woche in die Wohnung zurückkehren. Sie fanden Muhammed Bhar tot auf dem Boden liegend. Er war offenbar verblutet.

Quellen

https://www.aljazeera.com/news/2025/6/11/unarmed-palestinian-brothers-killed-in-israeli-raid-on-west-banks-nablus

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/6/12/live-israeli-troops-kill-13-wound-200-in-gaza-in-latest-aid-seeker-attack (07.15, 09.15)

https://www.aljazeera.com/program/newsfeed/2025/3/2/israeli-soldiers-assault-intellectually-disabled-man-in-west-bank-raid#flips-6369522095112:0

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Ich möchte nun Auszüge aus einem Text des lateinamerikanischen Autors Eduardo Galeano präsentieren. Galeano stammt aus Uruguay und starb 2015. Der folgende Text stammt aus dem Jahr 2009. Er wurde wohl unter dem Eindruck des Krieges von 2008/9 geschrieben (in israelischer Diktion: Militäroperation Gegossenes Blei). Dabei kamen ca. 1.400 Palästinenser ums Leben. Es war einer von acht Kriegen, die Israel zwischen 2006 und dem 6. Oktober 2023 gegen Gaza führte. Leider ist Galeanos Text – fast ein halbes Dutzend Gaza-Kriege später – noch immer aktuell.

Um sich zu rechtfertigen, produziert der Staatsterrorismus Terroristen; der Staatsterrorismus sät Hass und erntet Alibi. Es weist alles darauf hin, dass diese Schlächterei in Gaza, die laut ihrer Autoren mit den Terroristen Schluss machen wird, sie vervielfachen wird.

Seit 1948 erleiden die Palästinenser ununterbrochen Demütigungen. Ohne Erlaubnis dürfen sie nicht einmal atmen. Sie haben ihr Vaterland verloren, ihren Boden, ihr Wasser, ihre Freiheit, alles. Sie haben nicht einmal das Recht, ihre Regierung zu wählen. Wenn sie die wählen, die sie nicht wählen sollen, werden sie bestraft. Gaza wird bestraft. Seit Hamas bei sauberen Wahlen im Jahr 2006 an die Macht kam, wurde Gaza in ein Rattenloch ohne Ausgang verwandelt. […]

[…]

Israel ist das Land, welches niemals die Empfehlungen und Resolutionen der UNO einhält, das Land, welches nie das Urteil der internationalen Gerichtshöfe befolgt, das Land, das sich über internationale Gesetzgebung lustig macht, und Israel ist zudem das einzige Land, welches die Folterung von Gefangenen legalisiert hat. Wer hat ihnen das Recht gegeben, alles Recht mit Füßen zu treten? Woher kommt die Straflosigkeit, mit der Israel in Gaza morden darf? Zum Beispiel hätte Spanien nicht ohne Strafe das Baskenland bombardieren dürfen, um mit der ETA Schluss zu machen, Großbritannien hätte Irland nicht zerstören dürfen, um mit der IRA Schluss zu machen. Heißt das, dass die Tragödie des Holocaust ein Freibrief für ewige Straffreiheit darstellt? Oder kommt das grüne Licht von jener Weltmacht, die in Israel ihren treuesten Vasallen hat?

[…]

Das alte Europa, so fähig zur Schönheit und zur Perversität, vergießt die eine oder andere Träne, während es insgeheim dieses Meisterstück bewundert. Denn die Jagd nach den Juden war immer ein europäischer Brauch, aber seit einem halben Jahrhundert wird diese historische Schuld an den Palästinensern beglichen, denn auch sie sind Semiten, und sie waren nie Antisemiten. Sie zahlen mit ihrem Blut eine fremde Rechnung.

Quelle: Ich habe den Text (im spanischen Original sowie in deutscher Übersetzung) von Christine Hödl (unermüdliche Kämpferin für die Palästinenser) zugesandt bekommen. Der Text wurde vielfach publiziert. Eine digitalisierte Fassung der Originalversion findet sich hier: https://brecha.com.uy/operacion-plomo-impune/

Ebenfalls von Christine Hödl habe ich den folgenden Text, der auch 2009 geschrieben wurde, und zwar von dem Anführer der Zapatisten, der sich Subcomandante Insurgente Marcos nannte. In diesem Fall stammt die Übersetzung definitiv von Christine Hödl. Den vollständigen Originaltext nebst Übersetzungen in mehrere Sprachen kann man hier finden: https://enlacezapatista.ezln.org.mx/2023/10/16/de-siembras-y-cosechas/

Vom Säen und Ernten

[…]

Nicht weit von hier, an einem Ort, der Gaza heißt, in Palästina, im Nahen Osten, hier nebenan, setzt das stark bewaffnete und gut ausgebildete Heer der israelischen Regierung seinen Weg des Todes und der Zerstörung fort.

[…]

Den Fotos, die in der Presse erscheinen, entnehmen wir, dass es sich bei den ,neuralgischen Punkten‘, die von der israelischen Luftwaffe zerstört wurden, um Wohnhäuser, Hütten und Zivilgebäude handelt. Wir haben weder einen Bunker, noch eine Kaserne noch einen Militärflughafen oder gar Waffenlager zerstört gesehen. Daher glauben wir – und wir bitten unser Unwissen zu verzeihen – dass entweder die Artilleristen in den Flugzeugen schlechte Schützen sind und ihr Ziel verfehlen oder aber, dass in Gaza diese ,neuralgischen Punkte‘ nicht existieren.

Leider haben wir nicht das Vergnügen, Palästina zu kennen, aber wir nehmen an, dass in diesen Häusern, Hütten und Gebäuden Menschen wohnten, Männer, Frauen, Kinder und Alte, und keine Soldaten.

Wir haben auch keine Festungen des Widerstands gesehen, nur Schutt.

[…]

Aber warten Sie einmal. Jetzt fällt uns etwas ein. Vielleicht sind für die israelische Regierung diese Männer, Frauen, Kinder und Alte feindliche Soldaten und daher sind die Hütten, Häuser und Gebäude, in denen sie wohnen Kasernen, die man zerstören muss.

Dann dienten also die Artilleriefeuer, die heute früh über Gaza niedergegangen sind, dazu, die eindringende Infanterie vor diesen Männern, Frauen, Kindern und Alten zu schützen.

Und die feindliche Garnison, die sie durch die Belagerung des Gazastreifens schwächen wollen, ist niemand anderer als die palästinensische Zivilbevölkerung, die hier wohnt. Und durch den Angriff versuchen sie, diese Bevölkerung auszurotten.

[…]

Vielleicht ist unsere Denkweise sehr einfach, vielleicht fehlen uns die Feinheiten und Kenntnisse, die für eine Analyse so wichtig sind, aber für uns Zapatisten steht fest, dass in Gaza ein Berufsheer unschuldige Zivilbevölkerung mordet.

[…]

Im Übrigen wird geschehen, was geschehen muss. Die israelische Regierung wird erklären, dass sie dem Terrorismus einen heftigen Schlag versetzt hat, sie wird dem eigenen Volk die Größe des Massakers verbergen, die großen Waffenproduzenten werden in Zeiten dieser Krise wirtschaftlich Luft holen können, und die ,Meinung der Weltöffentlichkeit‘, dieses Wesen, das sich je nach Notwendigkeit manipulieren lässt, wird seinen Blick abwenden und wo anders hinsehen.

Aber nicht nur das. Es wird auch so sein, dass das palästinensische Volk widersteht und überlebt und weiterkämpft, und dass es weiterhin die Sympathie der von Unten genießen wird.

Und vielleicht wird auch ein Mädchen oder ein Bub aus Gaza überleben. Vielleicht werden sie wachsen, und Wut, Zorn und Empörung werden in ihnen mitwachsen. Vielleicht werden sie später Soldaten oder Widerstandskämpfer in einer der Gruppen, die in Palästina kämpfen, werden. Vielleicht werden sie gegen Israel kämpfen. Vielleicht werden sie ein Gewehr abdrücken. Vielleicht werden sie sich mit einem Dynamitgürtel um den Leib aufopfern.

Und dann werden die da oben über die Ursachen der Gewaltanwendung der Palästinenser schreiben und sie werden Erklärungen abgeben, die diese Gewalt verurteilen, und sie werden wieder über Zionismus oder Antisemitismus diskutieren.

Und dann wird niemand fragen, wer säte, was wir jetzt ernten.

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