Blutiges Brot

Der vergangene Dienstag war der bislang blutigste Tag in der noch jungen Geschichte der sogenannten Gaza Humanitarian Foundation (GHF): Mehr als 70 Menschen, die in der Hoffnung auf einen Sack Mehl oder einen Karton mit Nudeln und Keksen gekommen waren, wurden ermordet, Hunderte wurden verletzt. Israelische Soldaten schossen auf sie mit Panzergeschoßen, Maschinengewehren und Drohnen. Ein Zeuge berichtet, das sich tausende Menschen vor dem GHF-Verteilpunkt versammelt hatten, als zwei israelische Bomben direkt über der dicht gedrängten Menge abgeworfen wurden. Die Soldaten schossen auch auf Flüchtende. Mediziner aus dem Nasser-Krankenhaus sagten, viele der Todesopfer seien nicht mehr identifizierbar gewesen, weil sie in Stücke zerfetzt worden seien.

Am Tag davor, am Montag, dem 16. Juni, waren es 39 Menschen gewesen, die ihren Mut der Verzweiflung mit dem Leben bezahlten. Am Tag danach, am 18. Juni, wurden 38 Tote und mehr als 100 Verletzte gezählt.

Inzwischen beläuft sich die Bilanz der „humanitären Tätigkeit“ des GHF auf mehr als 300 Tote und mehr als 2.000 Verwundete.

Die israelische Armee ist inzwischen von der Strategie des Leugnens zur Strategie der Pseudo-Rechtfertigung übergegangen: Sie bestreitet jetzt nicht mehr, dass ihre Soldaten geschossen haben, behauptet dafür nun, dies sei notwendig gewesen, weil ein „Sicherheitsrisiko“ bestanden habe. Menschen hätten sich den Soldaten „auf verdächtige Weise“ genähert.

Ein Mitarbeiter der GHF berichtet:

Eine Episode ist mir besonders im Gedächtnis geblieben. Wir überwachten den ganzen Tag ein leeres Gelände; irgendwann nach Einbruch der Dunkelheit brachten Dutzende von Pritschenwagen schließlich Hilfsgüter. Bald darauf meldete das israelische Militär über Funk, dass sich 200 bis 300 Zivilist*innen ein paar Kilometer nördlich näherten. Wir beobachteten dann, wie eine israelische Drohne dorthin flog.

Kurz darauf wurde das Gebiet mit Artillerie beschossen.

Die wohlwollendste Interpretation? Vielleicht haben die Israelis zwischen unserer Position und den Menschen geschossen, um sie am Weiterkommen zu hindern.

Ich glaube jedoch nicht, dass das der Fall ist. Schließlich feuern die Panzer den ganzen Tag lang in der Nähe dieser Hilfseinrichtungen. Scharfschützen feuern von einem ehemaligen Krankenhaus aus. Bomben und Kugeln fliegen den ganzen Tag in eine Richtung – auf die Palästinenser*innen.

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In einer Pressekonferenz am 4. Juni erklärten Vertreter des Auswärtigen Amtes (also des Außenministeriums) Deutschlands, man sehe bisher keine Verletzung des Völkerrechts durch Israel in Gaza. Man habe dazu bislang keine „eigenen Erkenntnisse vorliegen“ und müsse die Frage daher noch weiter prüfen. Damit widersprachen die Vertreter des Auswärtigen Amtes sogar ihrem obersten Chef, nämlich dem gewiss nicht der Israelfeindlichkeit verdächtigen Bundeskanzler Merz.

Vielleicht haben die Herren in der Zwischenzeit ja neue Erkenntnisse gewonnen. Wenn nicht, dann frage ich mich, welche Beweise eigentlich vorliegen müssten, damit die Gestalter deutscher Außenpolitik zu dem Schluss gelangen, dass Israel sich nicht hundertprozentig ans Völkerrecht hält.

Aber vielleicht kann es solche Beweise überhaupt nicht geben? Ich versuche jetzt, mich in die Denkweise dieser Spitzenbeamten hineinzuversetzen und ein Argument zu rekonstruieren, das ihre Aussagen verständlich machen würde – ohne dass ich annehmen muss, dass sie einfach lügen:

  1. Die Aussage, dass Israel das Völkerrecht bricht, könnte als Infragestellen des Existenzrechts Israels interpretiert werden.
  2. Das Existenzrecht Israels in Frage zu stellen, ist antisemitisch.
  3. Jede Aussage, die als antisemitisch interpretiert werden könnte, ist antisemitisch.
  4. Also: Die Aussage, dass Israel Völkerrecht bricht, ist antisemitisch. (Folgt aus 1, 2 und 3)
  5. Eine antisemitische Aussage kann niemals wahr sein.
  6. Also: Es kann nicht wahr sein, dass Israel das Völkerrecht bricht. (Folgt aus 4 und 5)

Dieses Argument ist logisch schlüssig, das heißt: Die Konklusion (dass es nicht wahr sein kann, dass Israel Völkerrecht bricht) folgt logisch aus den Prämissen (1 bis 5). Dies bedeutet, dass die Konklusion zwingend wahr ist, sofern alle Prämissen wahr sind.

Ich weiß nicht, ob die Herren vom Auswärtigen Amt so denken. Aber falls Sie so denken, ist zu befürchten, dass keine wie auch immer geartete empirische Evidenz ihre Meinung ändern kann: keine Zeugenaussagen, keine Fotos und Videos, keine naturwissenschaftliche Untersuchung. Wenn die Prämissen des obigen Arguments als unumstößlich angenommen werden, dann müssen Zeugenaussagen, die zu einem anderen Ergebnis führen, unwahr sein, Fotos und Videos, die etwas anderes zeigen, gefälscht, inszeniert oder aus dem Zusammenhang gerissen; gerichtsmedizinische Untersuchungen fehlerhaft usw. In der philosophischen Ideologiekritik nennt man so etwas eine Immunisierungsstrategie.

Es gibt aber einen Weg, das Immunisierungs-Bollwerk zu durchbrechen. Denn wenn auch nur eine einzige der Prämissen des obigen Arguments falsch ist, bricht das Argument zusammen. Man muss daher das Argument vom Kopf auf die Füße stellen. Das geht ganz einfach, nämlich so:

  1. Dass Israel das Völkerrecht bricht, ist empirisch so gut bestätigt, dass kein vernünftiger Zweifel daran möglich ist.
  2. Die Konklusion des Arguments ist also falsch.
  3. Daher muss mindestens eine der verwendeten Prämissen falsch sein.

Meiner Meinung nach sind mindestens zwei der Prämissen als falsch zurückzuweisen: Erstens ist nicht jede Aussage, die als antisemitisch interpretiert werden könnte, auch tatsächlich antisemitisch. Zweitens ist es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass eine antisemitische Aussage der Wahrheit entspricht.

Quellen:

(Video) https://www.aljazeera.com/video/newsfeed/2025/6/17/israel-massacres-palestinians-on-deadliest-day-at-gaza-aid-sites#flips-6374481900112:0

https://www.aljazeera.com/news/2025/6/17/israeli-soldiers-shoot-dozens-in-latest-massacre-at-gaza-aid-sites

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/6/18/live-israel-iran-attacks-continue-trump-demands-unconditional-surrender (08.45, 13.00)

Aussendung 41/2025 von Martha Tonsern, Vertretung des Staates Palästina in Wien. [Englischer Originalbeitrag: https://zeteo.com/p/exclusive-american-security-contractor]

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„Nicht für euch!“

Gegenwärtig erfahren auch die Menschen in Israel, wie es ist, im Krieg zu leben. Die iranischen Raketen auf Israel richten zwar bei weitem nicht so viel Schaden an wie die israelischen Raketen auf den Iran, aber das Alltagsleben in Israel ist empfindlich gestört. Schulen sind geschlossen. Mehr als 1.300 Israelis haben ihr Zuhause durch die iranischen Vergeltungsschläge verloren. Mehr als 18.000 Anträge auf Schadenersatz wurden von Israelis an ihre Verwaltung gestellt, aufgrund der durch iranische Schläge erlittenen Schäden. Raketenalarm treibt die Menschen in Schutzräume. Doch die Schutzräume sind nicht für alle da.

Laut Gesetz stehen zwar Schutzräume allen israelischen Staatsbürgern zur Verfügung. Doch die Realität ist eine andere. Einer alleinerziehenden palästinensischen Frau mit israelischer Staatsbürgerschaft und ihrer fünfjährigen Tochter wurde während eines iranischen Luftangriffs von ihren Nachbarn der Zugang zum Schutzraum ihres Wohnhauses verwehrt. Die Frau spricht fließend Hebräisch. Sie wohnt in einer überwiegend von jüdischen Israelis bewohnten Siedlung. Die Nachbarn bemerkten ihre arabische Herkunft, weil sie beruhigende Worte auf Arabisch an ihre kleine Tochter richtete, während die beiden, zusammen mit anderen Hausbewohnern, die Treppe zum Schutzraum hinuntereilten. Ein Nachbar versperrte ihnen den Weg, sagte „Für euch nicht“ und schlug ihnen die Türe vor der Nase zu.

Das ist kein Einzelfall. Es gibt viele Berichte über Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft, denen der Zugang zu Schutzräumen verweigert wurde. Zudem gibt es in überwiegend palästinensischen Ortschaften oder Stadtvierteln von Haus aus weniger Schutzräume. Es kommt auch vor, dass jüdische Bewohner/innen ärmerer Stadtviertel, die anderswo Schutz suchen, vor verschlossenen Schutzraum-Türen um ihr Leben fürchten müssen.

Quellen:

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/6/18/live-israel-iran-attacks-continue-trump-demands-unconditional-surrender (02.40)

https://www.aljazeera.com/news/2025/6/17/not-for-you-israeli-shelters-exclude-palestinians-as-bombs-rain-down

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Buchtipp:

Johannes Zang, Kein Land in Sicht? Gaza zwischen Besatzung, Blockade und Krieg (PapyRossa 2024), 279 Seiten, 19.90 Euro (https://shop.papyrossa.de/Zang-Johannes-Kein-Land-in-Sicht)

Johannes Zang lebte und arbeitete viele Jahre in Israel und Palästina – als Erntehelfer in einem Kibbuz, als Altenpfleger, Musiklehrer, Reiseleiter und Journalist. Gaza besuchte er ca. 30 Mal. Er ist Autor mehrerer Bücher über Palästina und Israel. Kein Land in Sicht? ist sein neuestes Werk.

Das Buch ist in sieben große Kapitel gegliedert: I. Von der frühesten Zeit bis 1967; II. Die israelische Militärbesatzung 1967 bis heute; III. Die Blockade bzw. die Verschärfung der Blockade; IV. Die Hamas; V. Vom widerständigen Alltag in Gaza; VI. Der 7. Oktober 2023; VIII. Der Krieg ab dem 7. Oktober 2023 und seine Folgen.

Eine formale Besonderheit ist, dass jedes Kapitel in zahlreiche kleine Abschnitte gegliedert ist, die jeweils nur 1 bis 2 Seiten lang sind. Das macht das Buch, trotz der in vielerlei Hinsicht schwierigen Thematik, leicht lesbar. Um einen kleinen Einblick in die Vielfalt der behandelten Themen zu geben, hier ein paar Beispiele für Abschnittstitel:

  • Wann fuhr der letzte Zug nach Gaza?
  • Wie ist das Leben in einem Flüchtlingslager?
  • Warum sollte jemand aus Jerusalem nicht nach Gaza heiraten?
  • Was bedeutet Administrativhaft?
  • Welche Nebenwirkungen hat der dauernde Stromausfall in Gaza?
  • Was bedeutet Armut in Gaza?
  • Wann griff die Hamas erstmals zur Gewalt?
  • Wann schrieb die Hamas US-Präsident Obama einen Brief?
  • Bekommt man in Gaza Bier oder Wein?
  • Hatten Israelis Kontakt zu Menschen in Gaza?
  • Was genau geschah am 7. Oktober?
  • Wer traf sich zur „Vertreibungskonferenz“?

Das Buch enthält mehr als 500 Quellenverweise in Form von Endnoten am Ende des Buches. Auch das ist sehr leserfreundlich. Es stören keine Fußnoten den Lesefluss, aber man hat die Möglichkeit, die Quellen selber zu sichten.

Zusätzlich zu den Quellenverweisen gibt es noch eine 10 Seiten lange Liste mit kommentierten Literaturempfehlungen sowie Filmempfehlungen. Das Buch schließt mit einer Zeittafel über „Kriege, militärische Operationen und tödliche Auseinandersetzungen in bzw. gegen Gaza“, von 1917 bis 2024. Die Darstellung der gegenwärtigen „militärischen Operation“ in Gaza geht bis zum Sommer 2024.

Das Buch bietet eine unglaubliche Menge an Daten und Fakten. Doch mindestens ebenso stark sind die Schilderungen persönlicher Begegnungen mit Menschen in Gaza, und wie diese ihr Leben unter Besatzung beschreiben.

Viele der erzählten Geschichten haben mich sehr berührt. Zum Beispiel diese: Johannes Zang und seine Frau erhalten bei einem Besuch in Gaza von einem Bauern drei Kilo Erdbeeren als Geschenk. Sie nehmen es nur zögernd an, wissen sie doch, wie wertvoll diese Erdbeeren sind, zumal im Vorjahr die israelische Armee die Anbauflächen zerstört hatte. An der Grenze müssen sie, wie üblich, ihr Gepäck zur Kontrolle abgeben. Auf der anderen Seite der Kontrollstation sind die Erdbeeren nicht mehr dabei. Auf Nachfrage gibt ihnen der israelische Grenzsoldat den Bescheid, dass die Ausfuhr von Nahrungsmitteln aus Gaza verboten sei. Die Erdbeeren seien daher vorschriftsgemäß vernichtet worden. (Die Geschichte geht noch weiter und endet mit einem kleinen Sieg.)

Oder die Geschichte von dem falschen Zebra: Bei einem israelischen Angriff wurden viele Tiere des Zoos in Gaza getötet, unter anderem die Zebras. Neue Zebras zu importieren war wegen der Blockade nicht möglich. Da kam der Zoodirektor auf die Idee, zwei Esel glatt zu scheren und ihnen schwarze und weiße Streifen aufzumalen. Die Kinder bemerkten den Betrug nicht und waren begeistert.

Dieses Buch ist für Menschen ohne Vorkenntnisse ebenso zu empfehlen wie für jene, die schon einiges wissen. Es sollte unbedingt weite Verbreitung finden. Um dem ein wenig nachzuhelfen, habe ich inzwischen ein paar zusätzliche Exemplare nachbestellt, die ich in öffentlich zugängliche Bücherboxen zur freien Entnahme einstellen werde.


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