„Gaza interessiert niemanden mehr […]. Es ist ein Ort mit eigenen Regeln geworden.
Der Verlust von Menschenleben bedeutet nichts. Es ist nicht einmal ein ‚unglücklicher
Vorfall’, wie sie früher sagten.“(Ein israelischer Reservist in der Zeitung Haaretz vom 27. Juni 2025)
Vor wenigen Tagen erschien in der israelischen Tageszeitung Haaretz ein Bericht, in dem israelische Soldaten – anonym – über ihren Einsatz im Gaza-Streifen berichteten. Insbesondere ging es um die Erschießungen von Palästinenser/innen, die sich zu den GHF-Verteilpunkten begeben hatten, in der Hoffnung, dort Lebensmittelhilfe zu erhalten. Die Soldaten berichteten, es sei ihnen befohlen worden, auf die Menschen zu schießen, obwohl diese offenbar unbewaffnet waren und keinerlei Gefahr von ihnen ausging. Der Befehl sei von sehr hoher Stelle gekommen.
„Wo ich stationiert war, wurden jeden Tag
zwischen einem und fünf Menschen getötet. Sie werden wie eine feindliche Streitmacht
behandelt – keine Maßnahmen zur Kontrolle der Menschenmenge, kein Tränengas – nur scharfe Munition mit allem, was man sich vorstellen kann: schwere Maschinengewehre, Granatwerfer, Mörser. Sobald das Zentrum öffnet, hört das Schießen auf, und sie wissen, dass
sie sich nähern können. Unsere Form der Kommunikation ist Schusswaffenfeuer.“
Die Soldaten berichten, Schüsse mit scharfer Munition und Granaten auf die Wartenden seien routinemäßig eingesetzt worden, um die Menschenmassen zu lenken. Die Palästinenser dürften sich nur in einem sehr kleinen Zeitfenster den Verteilpunkten nähern, nämlich erst unmittelbar vor der Öffnung und danach ca. eine Stunde. Wann genau geöffnet wird, wird ihnen aber nicht mitgeteilt. Wenn sie zu früh dran sind, wird auf sie geschossen. Sehr viele Menschen machen sich aber schon in der Nacht auf den Weg. Sie wollen die ersten in der Schlange sein, weil die verfügbaren Nahrungsmittel nie für alle reichen.
„Einmal hörten die Mörser auf zu schießen, und wir sahen, wie sich Menschen näherten. Also nahmen wir das Feuer wieder auf, um klar zu machen, dass sie nicht näher kommen durften. Am Ende landete eine der Granaten auf einer Gruppe von Menschen.“
„[Wir feuerten] mit Maschinengewehren aus Panzern und warfen Granaten. Es gab einen Vorfall, bei dem eine Gruppe von Zivilisten getroffen wurde, als sie unter dem Schutz des Nebels vorrückte. Das war nicht beabsichtigt, aber solche Dinge passieren.“
Die Aussagen der Soldaten widersprechen den bisherigen offiziellen Erklärungen der IDF (Israeli Defence Forces). Diese hatte die Vorfälle zunächst rundheraus geleugnet. Später hatte sie behauptet, man habe auf Verdächtige geschossen, die ein „Sicherheitsrisiko“ für die Soldaten dargestellt hätten.
„Wir eröffnen früh am Morgen das Feuer, wenn jemand aus einigen hundert Metern Entfernung versucht, sich in die Schlange zu stellen, und manchmal stürmen wir sie einfach aus nächster Nähe. Aber es besteht keine Gefahr für die Streitkräfte. [Es] ist mir kein einziger Fall von Gegenfeuer bekannt. Es gibt keinen Feind, keine Waffen.“
Die israelische Armee ist also wieder einmal einer blanken Lüge überführt. Doch für alle, die nicht grundsätzlich jeder palästinensischen Quelle misstrauen, lag die Wahrheit schon lange vorher offen zutage. Die Berichte von Augenzeugen und Ärzten ließen keinen vernünftigen Zweifel daran zu, dass an den GHF-Verteilpunkten hilfesuchende Zivilisten regelmäßig mit tödlicher Waffengewalt angegriffen wurden. (Ich habe in diesem Blog mehrfach darüber berichtet.)
Ich glaube jedoch nicht, dass die in der Haaretz zitierten Soldaten die ganze Wahrheit sagen. Die Zitate erwecken den Eindruck, man habe zwar ohne Rücksicht auf Verluste, aber ohne Tötungsabsicht blindlings in die Menge geschossen, um diese zu zerstreuen oder zurückzudrängen oder am weiteren Vordringen zu hindern. Augenzeugen berichten hingegen, Menschen wären gezielt erschossen worden. Ärzte sagen aus, sie hätten auffällig viele Schusswunden in Kopf und Oberkörper gesehen. Augenzeugen berichten außerdem, dass auch auf Flüchtende geschossen wurde.
Ich kenne mich zwar mit dem Kriegshandwerk nicht aus, aber ich meine doch so viel zu verstehen: Wenn man absichtlich eine Granate in eine dicht gedrängte Menschenmenge wirft, dann will man Menschen töten. Wenn man mit einem Maschinengewehr in eine dicht gedrängte Menschenmenge schießt, dann will man Menschen töten. Das ist keine „Form der Kommunikation“. Das ist Mord.
Die IDF hat inzwischen eine interne Untersuchung der Vorfälle angekündigt. Auch das ist ein altbekanntes Muster: Wenn Leugnen nicht mehr geht und die Ausreden widerlegt sind, kündigt man eine interne Untersuchung an. Damit will die IDF die Forderung nach einer unabhängigen Untersuchung vermeiden. Konsequenzen haben die internen Untersuchungen der Armee in der Regel nicht.
Die IDF kündigte außerdem an, man werde aus dem Geschehenen Lehren ziehen und den Soldaten neue Instruktionen erteilen. Wenige Tage nach dieser Ankündigung wurden bei einem GHF-Punkt in Khan Younis 15 Menschen ermordet. Sie wurden allerdings dieses Mal nicht von Scharfschützen erschossen, sondern starben bei einem Luftangriff. 50 weitere Menschen wurden bei diesem Angriff verletzt. Welche Lehre mag die israelische Armee wohl gezogen haben? Vielleicht die, dass es für die eigenen Soldaten weniger belastend ist, die Menschen von einem Flugzeug aus zu bombardieren als durch ein Zielfernrohr ihren Opfern in die Augen zu sehen?
Die israelischen Soldaten berichten außerdem, dass die israelische Armee mit kriminellen palästinensischen Banden zusammenarbeitet. Das stimmt überein mit den Aussagen von Palästinensern, die von Überfällen durch diese Banden berichten. Die Kriminellen wurden, auf Anweisung des israelischen Premierministers, von der israelischen Armee mit Waffen versorgt, und sie operieren unter dem Schutz der israelischen Armee.
Offiziell ist das Kalkül dahinter, dass die kriminellen Banden Gegner der Hamas sind und daher mithelfen, die Hamas zu bekämpfen. Ich habe keine Informationen darüber, ob sie sich wirklich mit der Hamas Kämpfe liefern. Jedenfalls unterstützen sie aber die israelische Armee dabei, die Zivilbevölkerung zu terrorisieren. Außerdem kann man praktischerweise die von ihnen begangenen Übeltaten (z. B. den Diebstahl von Hilfsgütern) der Hamas in die Schuhe schieben.
Für Israel sind diese Banden also in jedem Fall ein Gewinn – zumindest so lange, wie sie ihre Waffen nicht auf israelische Zivilisten richten. Aber für Netanjahu und seine Truppe wäre sogar das vorteilhaft: Es würde ihnen auf dem Silbertablett den nächsten Vorwand für einen Krieg gegen das palästinensische Volk liefern, einen weiteren „Beweis“ für die barbarische Natur der Palästinenser, der nur mit extremer Gewalt beizukommen ist. Netanjahu will um jeden Preis Krieg, egal mit wem, egal warum. Das schützt ihn (noch) vor Strafverfolgung im eigenen Land, vor unbequemen Untersuchungsausschüssen, vor einem Erstarken der Kritiker im eigenen Land. Darum darf es auf keinen Fall Frieden in Gaza geben.
Quellen:
https://www.haaretz.com/israel-news/2025-06-27/ty-article-magazine/.premium/idf-soldiers-ordered-to-shoot-deliberately-at-unarmed-gazans-waiting-for-humanitarian-aid/00000197-ad8e-de01-a39f-ffbe33780000 (Deutsche Übersetzung: BIP)
Europas Schandflecken
Am 25. Juni fand in Brüssel ein Gipfeltreffen der EU-Regierungschefs statt. Es ging unter anderem um Israel und das Assoziierungsabkommen. Es wurde ein Bericht „zur Kenntnis genommen“, aus dem hervorgeht, dass Israel „wahrscheinlich“ die Menschenrechtsklausel in dem EU-Assoziierungsabkommen verletzt.
Eigentlich müsste das Assoziierungsabkommen in diesem Fall ausgesetzt werden. Das wäre ein potentiell wirksames Druckmittel gegen Israel, denn es würde Israel wirtschaftlich spürbar treffen. Mit anderen Worten: Es wäre eine Maßnahme, die wesentlich dazu beitragen könnte, Israel auf den Pfad der Zivilisation zurückzuführen.
Trotzdem konnten sich die EU-Länder nicht auf eine Aussetzung des Abkommens einigen. Für eine Aussetzung machten sich unter anderem Spanien, Irland und Slowenien stark. Ungarn, Österreich und Deutschland blockierten den Beschluss. So war das Ergebnis des Gipfels nur eine lauwarme Erklärung ohne irgendwelche Konsequenzen.
Deutschland und Österreich machen sich gemein mit dem autoritär regierten Ungarn. Ich bin gerade nicht stolz darauf, Österreicherin zu sein; und ich bedaure es gerade gar nicht, keine deutsche Staatsbürgerin zu sein (obwohl ich in Deutschland wohne und arbeite). Irgendwie schäme ich mich trotzdem für beide Länder. Mein kleiner persönlicher Trost: Mein Geburtsort liegt beinahe in Slowenien.
Europa hätte Möglichkeiten, Israel unter Druck zu setzen. Deutschland und Österreich verhindern es. Damit sind wir mitverantwortlich für das, was in Gaza geschieht, und für das, was im Westjordanland geschieht. Außer wir stehen auf und erheben unsere Stimme dagegen.
Quellen:
https://de.euronews.com/my-europe/2025/06/27/eu-gipfel-eu-findet-keine-gemeinsame-haltung-zu-israel
Das Wunder von New York

Bild: Der demokratische Bürgermeister-Kandidat für New York, Zohran Mamdani. File Photo by Paul Frangipane] Quelle: https://www.amny.com/news/mayoral-mamdani-affordable-homes-plan/
Die New Yorker Demokraten haben Zohran Mamdani zum Kandidaten für das Bürgermeisteramt gewählt. Das ist sehr außergewöhnlich, denn Mamdani ist nicht nur Muslim, sondern auch dezidiert propalästinensisch. Sein innerparteilicher Gegenkandidat, Andrew Cuomo, ist hingegen ein aufrechter Verteidiger Israels. Er galt als Favorit.
Unter den Wählern der Demokraten macht sich zunehmend eine pro-palästinensische Stimmung breit. Laut Umfragen haben drei Viertel der demokratischen Wähler mehr Sympathien für die Palästinenser als für die Israelis. Insgesamt haben in den USA weniger als 50 Prozent der Befragten eine günstige Meinung über Israel. Das gab es bisher noch nie.
Mamdani ist mit einem sehr sozialen Wahlprogramm angetreten. Er will hunderttausende leistbare Wohnungen bauen und spricht sich für die kostenlose Benutzung der New Yorker U-Bahn aus.
Mamdani nannte Israels Krieg in Gaza einen Genozid. Er sagte, Israel habe das Recht zu existieren – „als Staat mit gleichen Rechten für alle“. Damit lehnt Mamdani dezidiert die zionistische Konzeption eines jüdischen Staates als eines Staates mit jüdischer Vorherrschaft ab. Die zionistische Konzeption Israels sieht ein gleichberechtigtes Zusammenleben mit nichtjüdischen Bürger/inne/n nicht vor. Einer Umfrage zufolge konnte Mamdani dennoch überdurchschnittlich viele jüdische Demokraten überzeugen.
Es ist wenig überraschend, dass Mamdani Antisemitismus vorgeworfen wurde – auch von seinem Konkurrenten aus der eigenen Partei. Doch wie es scheint, verliert der reflexartige Antisemitismus-Vorwurf zunehmend seine Wirkung.
Mamdanis Erfolg ist natürlich nicht wirklich ein Wunder, denn Wunder gibt es nicht. Der Erfolg ist einfach Ausdruck des Wählerwillens. Auch wenn Mamdani wohl nicht in erster Linie wegen seiner Palästina-Solidarität gewählt wurde, gibt das doch ein wenig Anlass zur Hoffnung.
Quelle:
https://www.theguardian.com/us-news/2025/jun/26/zohran-mamdani-mayoral-race-gaza
https://www.theguardian.com/us-news/2025/apr/19/zohran-mamdani-andrew-cuomo-new-york-city-mayor
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