Jüdische Stimmen gegen israelische Barbarei

„Es ist ein Konzentrationslager. Es tut mir leid.“

(Ehud Olmert, israelischer Ministerpräsident von 2006 bis 2009, im Guardian am 13. Juli 2025)

Nicht erst seit Kurzem gibt es jüdische Stimmen, die die Verbrechen Israels in Gaza und im Westjordanland klar benennen und verurteilen. Die meisten davon sind dem sogenannten antizionistischen“ Lager zuzurechnen.

Sehr grob gesagt ist Antizionismus eine negative Einstellung gegenüber Israel. Für diese negative Einstellung kann es verschiedene Gründe geben. Doch insbesondere unter den nichtreligiösen Antizionisten in Europa und den USA ist sie in der Regel durch historische Tatsachen begründet, namentlich durch folgende: Das Projekt der Gründung des Staates Israel auf dem Gebiet Palästinas sah von der frühesten Planungsphase an nicht die friedliche Koexistenz mit den Palästinensern vor, sondern deren Verdrängung bzw. Vertreibung aus dem Land. Dieser Plan wurde auch umgesetzt, und das mit großer Brutalität. Es gab mehrere gewalttätige Vertreibungswellen, beginnend mit der Gründungsphase Israels 1947–1949. Aber auch in Phasen relativer Ruhe wurde die Vertreibungspolitik fortgesetzt, nämlich durch systematische Diskriminierung und Entrechtung, die den Palästinensern nach und nach die Lebensgrundlagen entzogen. Somit gründet die Existenz Israels von den Anfängen bis heute auf schwerstem Unrecht gegenüber dem palästinensischen Volk.

Nach dieser Auffassung ist das, was wir jetzt gerade erleben, die bisher gewaltsamste Phase des Zionismus, der Versuch, ein Groß-Israel zu errichten, in dem für einen palästinensischen Staat kein Platz mehr ist, die Palästinenser aber auch auf keinen Fall als mit den Juden gleichberechtigte Bürger in einem gemeinsamen Staat leben dürfen.

Es ist selbstverständlich, dass antizionistisch gesinnte Jüdinnen und Juden die Verbrechen Israels in Gaza und im Westjordanland nach dem 7. Oktober 2023 jederzeit klar benannt und dagegen ihre Stimme erhoben haben. Doch in jüngster Zeit gibt es auch unter den zionistischen Jüdinnen und Juden (also unter denen, die den Staat Israel schätzen und erhalten wollen) mehr und mehr Stimmen, die sich mit sehr deutlichen Worten gegen die Vorgangsweise der israelischen Regierung und Armee stellen. Der interessante Punkt ist: Sie tun dies nicht trotz, sondern wegen ihrer Liebe zu Israel.

Ich möchte in diesem Beitrag drei dieser Stimmen zu Wort kommen lassen, nämlich den ehemaligen israelischen Premierminister Ehud Olmert und das amerikanisch-jüdische Künstlerehepaar Kathryn Grody und Mandy Patinkin. Den Anfang macht Ehud Olmert.

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Vor wenigen Tagen (am 13. Juli) erschien in der britischen Tageszeitung The Guardian ein bemerkenswerter Text, der auf einem Interview mit Ehud Olmert basiert. Ich bringe im Folgenden Auszüge daraus (die Übersetzung ins Deutsche stammt von mir). Olmert spricht über Gaza, über die Siedlergewalt im Westjordanland und über Antisemitismus und Israel-Hass.

Zum Plan einer humanitären Stadt“ in Gaza

Die „humanitäre Stadt“, die laut Vorschlag des israelischen Verteidigungsministers auf den Ruinen von Rafah errichtet werden soll, wäre ein Konzentrationslager, und die Palästinenser dort hineinzuzwingen wäre ethnische Säuberung, sagte Israels ehemaliger Premierminister Ehud Olmert dem Guardian.

Israel habe in Gaza und im Westjordanland bereits Kriegsverbrechen begangen, sagte Olmert, und das Konzentrationslager würde eine Eskalation darstellen.

„Es ist ein Konzentrationslager. Es tut mir leid“, sage er, als er über die Pläne befragt wurde, die Israel Katz vergangene Woche dargelegt hatte.

[…]

Olmert sagte, dass nach Monaten gewaltvoller Rhetorik, einschließlich Aufrufen von Ministern, Gaza zu „säubern“ und dort israelische Siedlungen zu errichten, die Behauptungen der Regierung, dass die „humanitäre Stadt“ dem Schutz der Palästinenser dienen soll, nicht glaubwürdig seien.

„Wenn sie ein Lager bauen, wobei der Plan ist, mehr als die Hälfte von Gaza zu ,säubern‘, dann kann man diese Strategie nur so verstehen, dass es nicht darum geht, die Palästinenser zu retten. Es geht darum, sie zu deportieren, sie vorwärtszutreiben und sie hinauszuwerfen. Ich jedenfalls kann das nicht anders verstehen.“

Zur Siedlergewalt im Westjordanland

Olmert sprach mit dem Guardian am selben Tag, an dem im besetzten Westjordanland zwei palästinensische Männer begraben wurden, einer von ihnen ein amerikanischer Bürger, der von israelischen Siedlern ermordet worden war.

Die jüngsten Todesfälle kamen nach einer Kampagne von gewaltvoller Einschüchterung, welche im Laufe der vergangenen zwei Jahre die Einwohner mehrerer Dörfer gezwungen hatten, aus ihren Häusern zu fliehen.

Die Angriffe seien Kriegsverbrechen, sagte Olmert. „[Es ist] unverzeihlich. Inakzeptabel. Es gibt kontinuierliche Operationen, organisiert und orchestriert in der allerbrutalsten und kriminellen Weise durch eine große Gruppe.“

[…]

„Sie könnten unmöglich in so einer konsistenten, massiven und weitverbreiteten Weise operieren, wenn sie nicht Unterstützung und Schutz durch die [israelischen] Behörden in den [besetzten palästinensischen] Gebieten erhalten würden“, sagte er.

Über Israel-Hass und Antisemitismus

In den Vereinigten Staaten kommt immer häufiger Israel-Hass zum Ausdruck“, sagte er. „Wir gewähren uns selbst Rabatt, indem wir sagen: ,Sie sind Antisemiten.‘ Ich denke nicht, dass sie nur Antisemiten sind, Ich denke, viele von ihnen sind anti-israelisch wegen dem, was sie im Fernsehen sehen, was sie auf sozialen Netzwerken sehen.

„Das ist eine schmerzhafte, aber normale Reaktion von Menschen, die sagen: ,Hej Leute, ihr habt jede Grenze überschritten.‘“

Am Ende fordert Ehud Olmert die internationale Gemeinschaft zu Sanktionen gegen Israel auf:

Die Einstellung innerhalb Israels könnte sich nur dann ändern, wenn die Israelis die Last internationalen Drucks spüren, sagte er, und forderte stärkere internationale Intervention, in Ermangelung von ernsthafter politischer Opposition zu Hause. Er kritisierte auch israelische Medien für ihr Schweigen über die Gewalt, die den Palästinensern angetan wird.

Das musste ich zwei Mal lesen, bevor ich es verstanden habe: Ein ehemaliger israelischer Premierminister fordert von der internationalen Gemeinschaft spürbare Sanktionen. Die Suspendierung des EU-Israel-Assoziierungsabkommens wäre eine solche.

Quelle: https://www.theguardian.com/world/2025/jul/13/israel-humanitarian-city-rafah-gaza-camp-ehud-olmert

Über den Guardian-Bericht berichteten auch etliche deutsche Zeitungen, unter anderem:

https://www.zeit.de/politik/ausland/2025-07/ehud-olmert-israel-kriegsverbrechen-lager-ethnische-saeuberungen

https://www.spiegel.de/ausland/gaza-israels-ex-premier-ehud-olmert-warnt-vor-umsiedlung-und-spricht-von-konzentrationslager-a-323b3aaa-b96d-4515-9564-ade5d275ccb4

https://www.sueddeutsche.de/politik/israel-news-nahost-regierung-kriegsverbrechen-vorwurf-konzentrationslager-olmert-li.3280192

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Kathryn Grody und Mandy Patinkin in der New York Times

Mandy Patinkin und Kathryn Grody, beide über 70, sind ein in den USA populäres Schauspielerehepaar. Sie gaben der New York Times ein Interview. Ich habe im Folgenden die politisch relevanten Passagen übersetzt (mit gelegentlicher Hilfe von DeepL).

Kathryn Grody:

Ich hasse es, wie Leute den Antisemitismus-Vorwurf benutzen gegen jeden, der kritisch gegenüber einer gewissen Politik ist. Soweit es mich betrifft, ist Mitleid mit jeder Person in Gaza sehr jüdisch, und die Tatsache, dass ich die Politik des Führers dieses Landes verabscheue, bedeutet nicht, dass ich eine selbsthassende Jüdin bin oder dass ich antisemitisch bin.

Die Politik, die [Netanjahu] macht, ist das Schlimmste, was dem jüdischen Volk passieren kann. Es ist, als würde man eine Kerze anzünden für jeden, der antisemitische Gefühle hat. Es schafft eine Generation von verwundeten und verletzten Kindern, die aus verständlichen Gründen sehr wütend sein werden. Ich bin beunruhigt und entsetzt über das, was in meinem Namen geschieht. Also bin ich sehr stolz auf jede jüdische Person, die aufsteht für die Menschlichkeit der Menschen im Nahen Osten.

Mandy Patinkin:

Und ich bitte die Juden auf der ganzen Welt sich anzuschauen, was dieser Mann, Benjamin Netanjahu, und seine rechte Regierung dem jüdischen Volk auf der ganzen Welt antun. Sie bringen nicht nur den Staat Israel in Gefahr, der mir sehr am Herzen liegt, und von dem ich möchte, dass er existiert, sondern sie bringen die gesamte jüdische Bevölkerung auf der ganzen Welt in Gefahr.

Er ist die gefährlichste Sache, nicht erst seit 7. Oktober. Es war eine zutiefst unruhige Situation. Zu beobachten, was gerade geschieht, und zuzulassen, dass das jüdische Volk Kindern und Zivilisten jeden Alters in Gaza dies antut, aus welchem Grund auch immer, ist unzumutbar und unvorstellbar. Und ich bitte euch, Juden überall auf der Welt, ein bisschen Zeit allein zu verbringen und nachzudenken: Ist das akzeptabel, und kann man es aufrechterhalten? Wie konnte man es euch und euren Vorfahren antun, und ihr dreht euch um und tut es jemand anderem an?

Es lohnt sich, die kurze Videoaufnahme dieser zuletzt zitierten Interview-Passage anzuschauen. Während er diese Worte spricht ist Patinkin so erregt, dass man sich Sorgen um seine Gesundheit macht. Seine Frau empfand das offenbar auch so: In einem berührenden Moment schiebt sich ihre Hand ins Bild und legt sich beruhigend auf seine Schulter.

Quellen:

https://www.aljazeera.com/video/quotable/2025/7/15/aje-onl-qt-patinkin-150725#flips-6375666517112:0

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Ich fasse zusammen: Jüdinnen und Juden innerhalb und außerhalb Israels, die Israel lieben, verurteilen die Politik der Netanjahu-Regierung als Kriegsverbrechen, weil sie darin eine existentielle Bedrohung für den Staat Israel sehen (und überdies für alle Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt). Wenn ihre Analyse stimmt (und ich bin geneigt, dies zu glauben), dann wäre Folgendes m. E. die logische Konsequenz: Die israelfreundlichen Politiker in Europa und den USA müssten alle Hebel in Bewegung setzen, um die gegenwärtige israelische Regierung zu stoppen, einschließlich der Verhängung von Boykotten und Sanktionen. Die Frage ist: Warum tun sie es nicht? Haben sie nicht verstanden, was Olmert, Grody und Patinkin dargelegt haben? Oder glauben sie wirklich, dass Israel bis in alle Ewigkeit seine Existenz mit brutaler Gewalt – nach innen und außen – sichern kann, gegen den Willen der Mehrheit der Weltbevölkerung? Oder ist ihre bedingungslose Unterstützung Israels in Wirklichkeit Ausdruck von Antisemitismus und Antizionismus?

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Update zu Dr. Hussam Abu Safiyah

Dr. Husssam Abu Safiyah ist der Mann in dem weißen Mantel auf dem ikonischen Bild auf der Titelseite meines Blogs, der zwischen den Ruinen seines Krankenhauses ganz allein auf einen israelischen Panzer zugeht. Er war der Leiter des Kamal-Adwan-Krankenhauses und über Monate der wohl bekannteste Arzt Gazas. Ende Dezember wurde er verhaftet, und seit Anfang Januar ist er im israelischen Ofer-Gefängnis inhaftiert – ohne Anklage und auf unbestimmte Zeit. Ich habe in diesem Blog vielfach über ihn berichtet (siehe die Beiträge vom 4. Januar, 8. Januar, 12. Januar, 18. Januar, 2. Februar, 16. Februar, 27. Februar, 6. April und 24. April). Nun gibt es – seit langer Zeit – wieder Nachrichten von ihm, doch leider keine guten:

Gestern besuchte ihn Rechtsanwältin Gheed Kassem im Ofer-Gefängnis und berichtete, dass Abu Safiya und andere Gefangene vor zwei Wochen von den Sicherheitsbeamten des Gefängnisses körperlich aggressiv angegriffen und verprügelt wurden. Abu Safiya wurde fast 30 Minuten lang ununterbrochen auf seinen Rücken, sein Gesicht und seinen Hals geschlagen. Dabei wurde auch seine Brille zerbrochen, die ihm erst kürzlich nach längerer Zeit auf Ersuchen seines Anwalts zur Verfügung gestellt worden war.

Rechtsanwältin Kassem wies auch auf die äußerst schlechten Bedingungen hin, unter denen Abu Safiya und andere Gefangene festgehalten werden. Sie werden weiterhin medizinisch vernachlässigt, und die ihnen zur Verfügung gestellte Nahrung ist äußerst gering und entspricht nicht ihren Bedürfnissen. Abu Safiya und andere Gefangene sind in einer unterirdischen Zelle eingesperrt. Abu Safeya hat erheblich an Gewicht verloren, fast 40 Kilo.

Dr. Abu Safiyah leidet unter chronischen Krankheiten. Er wäre nicht der erste palästinensische Arzt aus Gaza, der in einem israelischen Gefängnis zu Tode kommt. Es läuft eine Unterschriftenaktion für seine Freilassung Unterschreiben kann man hier:

https://www.change.org/p/freilassung-von-dr-hussam-abu-safiya-direktor-am-kamal-adwan-krankenhaus-gaza

Quelle:

Zu guter Letzt

Im April 2024 hätte der britische Arzt Ghassan Abu-Sittah am Palästina-Kongress in Berlin über seine Erlebnisse als Arzt in Gaza sprechen sollen. Ihm wurde zunächst am Flughafen die Einreise nach Deutschland verweigert, und dann wurde ein politisches Betätigungsverbot“ gegen ihn erlassen. Das Berliner Verwaltungsgericht hat nun entschieden, dass Letzteres rechtswidrig war.

Das Einreiseverbot für Abu-Sittah war schon im Mai 2024 für rechtswidrig erklärt worden.

Quelle: https://taz.de/Palaestina-Kongress-in-Berlin/!6100913/


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