
Bild: Abdel Kareem Hana. Quelle: Aussendung 46/2025 von Dr. Martha Tonsern, Vertretung des Staates Palästina in Österreich.
Deir al-Balah, Gaza, am 10. Juli, gegen 9.00. Vor dem Altayara-Gesundheitszentrum (das von einer Unterorganisation der UNICEF geführt wird) hat sich eine große Menschenmenge versammelt, hauptsächlich Frauen und Kinder. Es ist dies einer der Plätze in Gaza, an denen man vielleicht für ein paar Augenblicke vergessen könnte, dass Krieg ist (jedenfalls gewann ich diesen Eindruck von den Bildern, die ich gesehen habe). Hier stehen noch Häuser. Es gibt keine Krater im Boden. Es gibt noch Bürgersteige mit Randsteinen. Es gibt sogar Bäume, die in der Sommerhitze Schatten spenden.
Die Menschen warten darauf, dass sich das Tor des Gesundheitszentrums öffnet. Es heißt, es gebe Nahrungsergänzungsmittel zu verteilen. Dafür stellen sich viele in die Schlange. Den Menschen in Gaza fehlen nicht nur Kalorien. Es fehlen ihnen auch Vitamine und andere lebenswichtige Nährstoffe. Obst und frisches Gemüse gibt es in Gaza seit Monaten nicht mehr, ebenso wenig wie Milch, Fleisch und Eier. Der Mangel macht die Menschen müde, kraftlos und anfällig für Infektionskrankheiten.
9.15. Der Angriff der israelischen Armee erfolgt ohne Vorwarnung. Es sterben dabei 15 Menschen, davon neun Kinder. Weitere 30 Menschen werden verletzt (teilweise schwer), darunter 19 Kinder. Ein Zeuge berichtet: „Plötzlich hörten wir das Geräusch einer sich nähernden Drohne, und dann geschah die Explosion. Die Erde bebte unter unseren Füßen, und alles um uns herum verwandelte sich in Blut und ohrenbetäubende Schreie.“
Das Bild zu Beginn dieses Beitrags zeigt zwei der Kinder, die nach dem Angriff ins Al-Aqsa-Krankenhaus gebracht wurden. Ob sie zum Zeitpunkt der Aufnahme noch lebten, weiß ich nicht. Die vielen kleinen Wunden auf den Beinen des Mädchens könnten ein Hinweis auf Streumunition sein. Deren Einsatz gegen Zivilisten ist nach internationalem Recht verboten, weil sie besonders viele Todesfälle und schwere Verletzungen verursachen. Selbst wenn das Kind den Angriff überlebt hat, könnte es dennoch an den Folgen sterben. Wegen der Mangelernährung heilen Wunden schlecht. Wegen der schlechten Hygiene in den überfüllten Unterkünften und weil es kaum noch Wasser gibt, ist die Gefahr groß, dass sich Wunden entzünden. Antibiotika gibt es in Gaza nicht.
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Am selben Tag: Während in Deir al-Balah inmitten von ausgehungerten Menschen eine israelische Splitterbombe explodiert, spricht in Wien der israelische Außenminister Gideon Saar mit dem deutschen Außenminister Johann Wadephul und seiner österreichischen Amtskollegin Beate Meinl-Reisinger.
Das Datum des Treffens ist wohl eher kein Zufall. Wenige Tage später, am 15. Juli, wird in Brüssel der „Rat für auswärtige Angelegenheiten“ tagen. Der wichtigste Tagesordnungspunkt: Suspendierung des EU-Israel-Assoziierungsabkommens und andere Sanktionen gegen Israel. Einige EU-Mitgliedsstaaten, insbesondere Irland und Spanien, drängen schon seit längerem darauf. Beim letzten Treffen wurde dies durch den Widerstand einiger Staaten, allen voran Deutschland und Österreich, verhindert. Doch der Druck wächst, in ganz Europa, und auch in Deutschland und Österreich.
Der Punkt ist von allergrößter Bedeutung – für Gaza, für das Westjordanland und für Israel. Eine Suspendierung des Abkommens würde Israels Wirtschaft empfindlich treffen. Es könnte daher ein wirksamer Hebel sein, um Israels Politik zu beeinflussen. Es könnte ein wesentlicher Beitrag sein für einen Waffenstillstand in Gaza, für humanitäre Hilfe, die diesen Namen verdient, für wirksame Maßnahmen gegen die Siedlergewalt im Westjordanland und einen Stopp des Siedlungsbaus. Selbstverständlich möchte Israel die Suspendierung des Abkommens unbedingt verhindern.
Das Treffen in Wien ist Teil einer diplomatischen Offensive des israelischen Außenministers. Er will seine Amtskollegen wohl sicherheitshalber an ihre „historische Verantwortung“ gegenüber Israel erinnern.
Am selben Tag: Wenige Stunden nach dem Massaker an hungrigen und kranken Zivilisten in Deir al-Balah geben Meinl-Reisinger, Saar und Wadephul eine gemeinsame Pressekonferenz. Wadephul bedankt sich bei seiner österreichischen Amtskollegin für ihre Gastfreundschaft und zeigt sich begeistert vom feudalen Ambiente. Er spricht über die Wichtigkeit weiterer Sanktionen gegen Russland. Er spricht über Antisemitismus in Deutschland. Er betont, dass es der deutschen Regierung „gerade in diesen Zeiten“ besonders wichtig sei, Solidarität mit Jüdinnen und Juden zu zeigen. Dann dankt er dem „lieben Gideon“ für das „gute Gespräch“, das sie heute Morgen über die „Lage im Nahen Osten“ führen konnten, und versichert , dass „Deutschland und Österreich fest an der Seite Israels“ stehen, „gegen die Raketenangriffe aus dem Iran, gegen Terrorgruppen wie Hamas, Hisbollah und Huthis“. Israels Sicherheit sei für Deutschland nicht verhandelbar.
Dann spricht er über das Hamas-Massaker vom 7. Oktober und über das Leiden der israelischen Geiseln. Man müsse dringend Druck auf die Hamas ausüben, damit die Geiseln endlich freigelassen werden.
Aus deutscher Sicht ist Israel also niemals der Aggressor, sondern immer das Opfer. Kein Wort davon, dass Israel den Iran angegriffen hat – nicht umgekehrt. Kein Wort davon, dass Israel den Waffenstillstand mit der Hamas gebrochen und damit den Gefangenenaustausch beendet hat. Kein Wort von Israels Verletzungen des Waffenstillstands mit der Hisbollah. Kein Wort davon, dass die Huthis jederzeit bereit sind, ihre Angriffe auf Israel einzustellen – wenn das Morden in Gaza aufhört. Kein Wort natürlich auch über Israels Invasion in Syrien und die aktuellen Versuche, das Land weiter zu destabilisieren.
Und dann, endlich, kommt Wadephul auf Gaza zu sprechen: „Gleichzeitig macht uns allen der Hunger und das Sterben in Gaza größte Sorgen.“ Israel wisse, dass es eine Verantwortung für „diese Menschen“ habe. Deshalb sei es ein „gutes Zeichen, dass jetzt alle internationalen Hilfsorganisationen Zugang bekommen können und dass die Einschränkungen auch zurückgenommen werden“. (Hier bezieht sich Wadephul auf eine kürzlich getroffene Vereinbarung mit der EU.) Danach macht er klar, dass die deutsche Regierung entschieden gegen eine Suspendierung des Assoziierungsabkommens ist.
Ensprechend war klar, was am 15. Juli geschehen würde: Es wurden erneut (wie schon beim vorigen Treffen in Juni) keine Sanktionen gegen Israel beschlossen. Sind Sanktionen vielleicht wirklich nicht mehr nötig, weil Israel jetzt eingelenkt hat? Hat die europäische Diplomatie einen Erfolg erzielt, zugunsten der Menschen in Gaza? Mehrere Wochen alt ist die Vereinbarung bereits, aber von einer Verbesserung der Lage in Gaza kann keine Rede sein, im Gegenteil – auch wenn die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas von „einigen guten Zeichen“ in Gaza spricht, weil nun ein paar mehr LKWs mit Hilfsgütern die israelischen Grenzposten passieren dürfen.
Der Chef der norwegischen NGO Norwegian Refugees Council (NRC) kommentiert dies wie folgt:
„Für NRC und viele andere gibt es seit 142 Tagen keine Hilfe. Nicht einen LKW. Nicht eine Lieferung.“ Egeland hält fest, dass 85 Prozent der Hilfs-LKWS niemals an ihrem Bestimmungsort ankommen, weil sie vorher geplündert werden. Dazu ist zu sagen, dass die Plünderer in den meisten Fällen bewaffnete Banden sind, die mit der Hamas verfeindet sind und die mit Unterstützung der israelischen Armee operieren. Egeland schreibt:
„Das als ,gute Zeichen‘ zu bezeichnen, ist nicht nur irreführend. Es verzerrt die Realität, die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und Zivilisten jeden Tag erfahren. […] Das ist kein Fortschritt. Es ist Scheitern mit einem falschen Etikett.“
Der palästinensische Journalist Ahmed Al-Najjar sagt in einem Video:
„Die Bomben fallen immer weiter, und zugleich finden hier noch andere Formen der Quälerei und des Leidens statt, die nicht weniger verheerend sind. Die ganze Stadt Rafah ist unter der Kontrolle der israelischen Besatzungsmacht, militärisch und logistisch, und daher können sie entscheiden, wo diese Hilfs-LKWs hinfahren können. Zu unserem Elend und unserem brutalen Unglück, gelangen die sehr begrenzten Hilfs-LKWs nicht zu uns, weil sie vorher schon von Banden geplündert werden, bewaffneten Banden, die direkt von der Besatzungsmacht unterstützt werden.
[…]
Nahrung ist nicht länger ein Begriff der Humanität und der Hilfe, sondern ein Instrument der Quälerei, ein Werkzeug des Genozids, der sich weiter entfaltet in den tragischsten und brutalsten Weisen. Wir müssen nur unser Augenmerk richten auf das, was hier geschieht, um zu sehen, dass es nicht einfach um Nahrung geht. Wir sind jetzt an einem Punkt, wo wir glauben, dass es um Nahrung geht, aber darum geht es nicht. Es geht um einen Genozid, der viele Facetten hat, und der gestoppt werden muss, ein für alle Mal.“
Es gibt viele Berichte über plündernde Banden. Die bekannteste ist die von Yasser Abu Shabab. Es handelt sich um einen kriminellen Familienclan, sozusagen eine palästinensische Mafia-Organisation. Mit der Hamas hat diese Organisation nichts zu tun – im Gegenteil: Abu Shabab war in einem Hamas-Gefängnis inhaftiert und betrachtet die Hamas als seinen Feind. Die israelische Armee hat die Abu-Shabab-Bande mit Waffen ausgestattet (was Netanjahu selbst öffentlich zugegeben hat). Seine Leute plündern ganze Konvois von Hilfs-LKWs und verkaufen die Waren zu exorbitanten Preisen auf lokalen Märkten.
Es lohnt sich, sich anzusehen, wie das neue Abkommen für mehr Hilfe in Gaza in Israel bewertet wird. Hier ein paar Auszüge aus der Times of Israel vom 16. Juli:
„Die Außenpolitik-Chefin der Europäischen Union, Kaja Kallas, verkündete am Dienstag, dass die EU keine Strafmaßnahmen gegen Israel wegen dessen militärischer Vorgehensweise in Gaza verhängen wird. Das sagte sie nach einem Treffen der EU-Außenminister.
Außenminister Gideon Sa’ar bejubelte diese Nachricht als ,einen wichtigen diplomatischen Sieg‘. Er sagte, sein Büro habe aggressiv daran gearbeitet, Länder der EU davon zu überzeugen, sich nicht den Sanktionsforderungen von Irland, Spanien und anderen Ländern anzuschließen. Wegen Israels Vorgangsweise im Gazastreifen und im Westjordanland hatten diese Länder auf Sanktionen gedrängt.
[…]
Sa’ar feierte die Entscheidung [der EU-Außenbeauftragten] Kallas und schrieb in einem Post auf X, diese sei das Ergebnis einer ,komplizierten und äußerst strapaziösen diplomatischen Schlacht an zahlreichen Fronten.‘
,Der Versuch, Sanktionen gegen ein demokratisches Land zu verhängen, welches sich gegen Versuche verteidigt, es zu zerstören, ist ungeheuerlich‘, sagte Sa’ar, und dankte Israels Verbündeten in Europa, die halfen, die Strafmaßnahmen zu vereiteln.“
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Gestern, am 20. Juli, durfte ein großer Konvoi aus 25 LKWs des WFP (World Food Programm) einen Grenzübergang nach Nordgaza passieren – das erste Mal seit Monaten. Als der Konvoi in bewohntes Gebiet gelangte, wurde er von zahlreichen verzweifelten hungernden Menschen aufgehalten. Es wurde auf die Menschen in der Menge geschossen. Es gab zahlreiche Opfer, Tote und Verletzte. An diesem Tag starben in Gaza 73 Menschen bei dem Versuch, Nahrungsmittelhilfe zu erhalten.
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Inzwischen brechen die Menschen vor Schwäche auf der Straße zusammen. In den Krankenhäusern kann man ihnen nicht einmal eine Mahlzeit geben. Mindestens 86 Menschen starben bislang an Hunger und Mangelernährung, davon 76 Kinder. In den vergangenen 24 Stunden waren es 18.
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Die andauernde Blockade von Sanktionen gegen Israel auf EU-Ebene, insbesondere durch Deutschland und Österreich, ist eine Schande. Die ausgehandelten „Verbesserungen“ sind ein feiges Feigenblatt, nicht groß genug, um das stinkende Abszess des moralischen Bankrotts zu verdecken. Doch mit Sicherheit ist das letzte Wort in dieser Angelegenheit noch nicht gesprochen. Es ist wichtig, weiterhin Druck zu machen.
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Quellen:
Aussendung 46/2025 von Dr. Martha Tonsern, Vertretung des Staates Palästina in Österreich, Slowenien und Kroatien und ständige Beobachtermission des Staates Palästina bei der UN und den internationalen Organisationen in Wien.
https://www.bbc.com/news/articles/c4gd01g1gxro
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/7/15/live-israel-bombs-gaza-refugee-camp-settlers-attack-west-bank-village (13.45, 16.45)
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