Der Genozid in Gaza ist in den vergangenen Tagen in eine neue Phase eingetreten. Jetzt sterben nahezu täglich Menschen nicht nur durch israelische Bomben, Raketen und Kugeln, sondern durch Verhungern.
Am 22. Juli wurden 15 Hungertote gemeldet, am 23. Juli waren es 10, am 26. Juli waren es fünf, am 27. Juli waren es sechs. Insgesamt gibt es in Gaza nun offiziell 133 Hungertote, davon 87 Kinder.
Es gibt mehrere Arten, an Hunger zu sterben. In vielen Fällen holen sich die ausgehungerten Menschen eine Infektion, mit der der geschwächte Organismus nicht mehr fertig wird. Ein solcher Fall ist der von Zainah Abu Haleb. Das Mädchen starb im Alter von fünf Monaten. Zum Zeitpunkt ihres Todes wog sie nur knapp über 2kg. Ihr Geburtsgewicht hatte bei über 3kg gelegen. Ihre Mutter, Isra Abu Haleb, brachte Zainah ins Nasser-Krankenhaus, weil sie unter Brechdurchfall litt. Sie hätte Spezialnahrung gebraucht, die es in Gaza nicht gibt. Ihr Immunsystem brach zusammen. Sie fing sich eine bakterielle Infektion ein, erkrankte an Sepsis und verlor rapide an Gewicht, bis ihr Herz aufhörte zu schlagen. Wer (unter anderen Bildern) ein Bild von ihrer Leiche sehen möchte, findet es hier.
Doch an Hunger kann man auch ohne Infektion sterben. Wird dem Körper über einige Tage Nahrung vorenthalten, fängt er an, die Fettreserven zu verbrauchen. Wenn diese verbraucht sind, werden Muskeln abgebaut. Wenn auch diese Energiereserve verbraucht ist, kommt es zum Tod durch Organversagen. Das kann unterschiedlich lange dauern, je nachdem, wie viel Fett und Muskeln als Energiereserven zur Verfügung stehen. Kinder und alte Menschen fallen dem Hunger schneller zum Opfer als Erwachsene mittleren Alters, weil sie weniger Muskeln haben, von denen sie in der Not eine Weile zehren können.
Quellen:
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/7/26/live-israels-starvation-policy-leaves-122-dead-in-gaza-mostly-children (17.30, 17.45)
https://en.wikipedia.org/wiki/Gaza_Strip_famine
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/7/27/live-israel-intercepts-gaza-bound-handala-5-palestinians-starve-to-death (10.15, 12.15, 12.45, 13.00)
https://www.aljazeera.com/gallery/2025/7/27/not-eating-for-days-gazas-worsening-starvation-crisis
Der Druck wächst
Israel
Der israelische Parlamentsabgeordnete Ram Ben-Barek, ehemaliger stellvertretender Direktor des israelischen Geheimdienstes Mossad, sagte in einem Interview mit der israelischen Zeitung Maariv, Israel sei auf dem Weg ein Pariastaat zu werden, auf einer Ebene mit Nordkorea. Er sagte: „Wenn wir nicht echte Schritte setzen, werden wir bald Visa brauchen, um nach Europa reisen zu können – und wir werden sie nicht bekommen. Wer so leben möchte, der soll diese Regierung unterstützen.“
Quellen:
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Die Gaza Freedom Flotilla hat ein weiteres Schiff mit Hilfslieferungen an Bord nach Gaza gesandt, die Handala. Ziel war es, die Seeblockade Gazas zu durchbrechen. Wie schon Anfang Juni die Madleen, wurde auch die Handala in internationalen Gewässern von israelischen Soldaten gestürmt. Die 21 Aktivist/inn/en an Bord wurden verhaftet, darunter zwei französische Parlamentsabgeordnete und zwei Al-Jazeera-Journalisten.
Die Handala wurde in den Hafen von Ashdod gebracht. Rechtsanwält/inn/e/n des israelischen Menschenrechtszentrums Adalah ersuchten die israelische Armee mehrfach, ihnen Zugang zu den Inhaftierten zu erlauben, bis jetzt vergeblich. Ein Statement von Adalah:
„Adalah stellt zum wiederholten Male fest, dass die Aktivist/inn/en an Bord der Handala Teil einer friedlichen zivilen Mission waren, um Israels illegale Blockade von Gaza zu durchbrechen. Das Boot wurde in internationalen Gewässern abgefangen, und die Inhaftierung der Besatzung konstituiert eine klare Verletzung internationalen Rechts.“
Quellen:
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/7/27/live-israel-intercepts-gaza-bound-handala-5-palestinians-starve-to-death (11.00, 13.00)
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Eine Gruppe von 341 israelischen Akademiker/innen hat sich an die israelische Regierung, die israelische Armee und die israelische Öffentlichkeit gewandt mit der Forderung, die Gräueltaten in Gaza zu beenden. Sie schrieben, sie könnten nicht untätig zusehen, während in ihrem Namen Handlungen ausgeführt werden, die zu einer Katastrophe globalen Ausmaßes führen. Die israelische Zeitung Yedioth Ahronoth zitiert: „Beendet die humanitäre Krise im Gazastreifen. Die Einfuhr von medizinischer Hilfe, Nahrung und Wasser muss sofort erlaubt werden, und der Beschuss von unbewaffneten Zivilisten muss enden.“
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In mehreren Städten protestierten Israelis gegen den Krieg und gegen die Regierung. In Haifa hielten Demonstranten ein Banner hoch, auf dem stand: „Wir sind nicht unsere Regierung“. Einige Demonstranten forderten vorgezogene Neuwahlen.
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Die israelische NGO Standing Together protestierte gegen das Verschweigen der Gräuel in Gaza durch das israelische Fernsehen.
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International
Die Außenminister von insgesamt 28 Ländern unterzeichneten ein gemeinsames Statement, in dem sie ein sofortiges Ende des Krieges in Gaza fordern. Deutschland ist nicht darunter, aber Österreich wohl. Die anderen Länder sind: Australien, Belgien, Kanada, Zypern, Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Island, Irland, Italien, Japan, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, die Niederlande, Neuseeland, Norwegen, Polen, Portugal, Slowenien, Spanien, Schweden, die Schweiz und Großbritannien.
Das Statement spricht eine klare Sprache. Verurteilt werden die Blockade von Gaza, die permanenten Angriffe auf Zivilisten, aber auch die Siedlungspolitik im Westjordanland.
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USA
USA: Der demokratische Kongressabgeordnete John Garamendi beschuldigt Israel des Genozids in Gaza wegen der Hungerblockade. Bisher haben nur sehr wenige Kongressabgeordnete den Genozidvorwurf gegen Israel erhoben.
Quelle: https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/7/26/live-israels-starvation-policy-leaves-122-dead-in-gaza-mostly-children (18.00)
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Brasilien
Brasilien schließt sich der Klage Südafrikas vor dem Internationalen Gerichtshof gegen den Genozid in Gaza an. Aus dem Statement des brasilianischen Außenministeriums:
„Die internationale Gemeinschaft kann nicht untätig bleiben angesichts der fortgesetzten Gräueltaten. Brasilien denkt, dass es keinen Raum mehr gibt für moralische Mehrdeutigkeit oder politische Unterlassung. Straflosigkeit unterminiert die internationale Gesetzlichkeit und die Glaubwürdigkeit des multilateralen Systems.“
Quelle: https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/7/23/live-israel-pounds-gaza-as-deaths-from-starvation-mount (19.30)
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Frankreich
Präsident Macron kündigte an, sein Land werden den Staat Palästina offiziell anerkennen. Israel und die USA schäumen vor Wut.
Von den 193 Mitgliedern der UN haben 142 den Staat Palästina bereits anerkannt oder haben die Anerkennung angekündigt (Norwegen, Irland und Spanien gehören zur zweiten Gruppe). Frankreich ist aber das größte und einflussreichste Land innerhalb Europas in dieser Gruppe.
Quellen:
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Großbritannien
Mehr als 50 ehemalige britische Diplomaten und UN-Beamte unterzeichneten einen offenen Brief an Premierminister Keith Starmer. Sie fordern die Anerkennung des Staates Palästina durch Großbritannien.
Quelle: https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/7/23/live-israel-pounds-gaza-as-deaths-from-starvation-mount (18.30)
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Italien
Die italienische Supermarktkette Coop Alleanza 3.0, „Europas größte Konsumengenossenschaft“, nimmt israelische Produkte aus dem Sortiment und verkauft dafür palästinensisches Gaza Cola.
Quelle: https://italianismo.com.br/de/rede-italiana-de-supermercados-boicota-israel-e-vende-gaza-cola/
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Griechenland
Bewohner der griechischen Insel Syros hinderten die Passagiere eines israelischen Kreuzfahrtschiffes, auf ihrer Insel an Land zu gehen – aus Protest gegen den Genozid in Gaza.
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Belgien/EU
Mehr als 60 Mitglieder des Europäischen Parlaments forderten in einem Brief an die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas ein Notfalltreffen. Sie verlangen konkrete Maßnahmen gegen Israel.
Quelle: https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/7/24/live-hamas-submits-gaza-truce-response-as-israel-continues-deadly-assault (13.15)
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Deutschland
Mehr als 70 deutsche Wissenschaftler/innen unterzeichneten einen Brief an die Bundesregierung, in dem sie diese auffordern, sofort wirksame Maßnahmen zum Schutz der palästinensischen Bevölkerung in Gaza und der West Bank zu ergreifen.
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Nach Angaben des Spiegel haben sich im Außenministerium rund 130 vor allem jüngere Diplomaten zu einer Gruppe zusammengeschlossen, die eine deutlichere Kritik an der israelischen Regierung fordert. Das Motto der Gruppe laute „loyal nonkonform“.
Auch aus der SPD kommen neue Töne:
Zuletzt hatte Entwicklungsministerin Reem Alabali Radovan von der SPD gefordert, dass Deutschland eine etwa von Frankreich und Großbritannien mitgetragene Erklärung unterzeichnen solle, in der ein Ende des Gazakrieges gefordert wird – allerdings nur von Israel, nicht von der Hamas. 28 Staaten hatten sich der Erklärung angeschlossen, Deutschland ist nicht darunter.
Kanzler Merz interpretiert die deutsche Staatsräson neu:
Kanzler Friedrich Merz hatte die Situation mehrfach „inakzeptabel“ genannt und am vergangenen Freitag gesagt, dass er sich den Ausdruck „bedingungslose Unterstützung“ für Israel nicht zu eigen mache.
Und zu guter Letzt entdecken sogar Teile der Grünen ihr verschüttetes Gewissen wieder:
„Wenn Friedrich Merz seine Worte ernst meint, sollte Deutschland die Erklärung unterzeichnen“, mahnte die Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge. Gegenüber dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ sprach sie sich zudem für Sanktionen gegen die israelischen Minister Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir aus. „Beide rufen ganz offen zu Gewalt gegen die palästinensische Zivilbevölkerung und zu Vertreibung auf und unterstützen den völkerrechtswidrigen Siedlungsbau in der Westbank. Hier ist eine klare Haltung der Bundesregierung gefragt“, sagte die Grünen-Politikerin. Sie forderte zudem, keine Waffen mehr nach Israel zu exportieren, die im Gazastreifen eingesetzt werden können.
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In vielen Städten gehen lokale Initiativen für Gaza auf die Straße. Zum Beispiel Aachen: In der vergangenen Woche gab es in dieser Stadt ein halbes Dutzend Kundgebungen, zwei Demonstrationszüge und mehrere Einzelaktionen (einzelne Aktivist/inn/en, die mit Schildern in der Innenstadt unterwegs waren und mit Passant/inn/en das Gespräch suchten).
Österreich
In Salzburg stürmten jüdische propalästinensische Aktivist/inn/en eine Eröffnungsrede der Salzburger Festspiele, eines der bedeutendsten Society-Events des Landes, mit viel Prominenz aus Kultur, Politik und Wirtschaft. Sie forderten Sanktionen gegen Israel. Ein Teil des Publikums applaudierte.
Quelle: https://www.instagram.com/reel/DMkw4azIHPH/
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In Graz stellten Aktivist/inn/en am Samstag in der zentralen Fußgängerstraße Hunderte Paare von Kinderschuhen auf, im Gedenken an die ermordeten Kinder von Gaza.
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Einlenken oder Imagekorrektur?
Israels Regierung gibt sich weitgehend unbeeindruckt von der wachsenden und immer deutlicher werdenden internationalen Kritik.
In der Knesset wurde eine Konferenz abgehalten mit dem Titel „The Riviera in Gaza – From Vision to Reality“. Finanzminister Smotrich sagte, es sei geplant, zunächst mit drei Siedlungen im Norden zu beginnen. Ein anderes Knesset-Mitglied sagte, es gebe schon Entwürfe und Familien, die in Gaza bauen wollen.
Die Times of Israel berichtete, dass der israelische Minister Amichai Eliyahu in einem israelischen Radiosender sagte, dass die Regierung mit Hochdruck an der Ausrottung Gazas arbeite. Gaza werde für die israelische Besiedlung geräumt, aber die israelischen Siedlungen würden keine umzäunten Enklaven sein. Ganz Gaza werde jüdisch werden.
Am 23. Juli beschloss die Knesset formal die Annexion des Westjordanlandes.
Doch ganz ohne Wirkung blieb der internationale Druck doch nicht: Gestern verkündete die israelische Regierung „taktische Kampfpausen aus humanitären Gründen“. Diese sollen bis auf weiteres täglich für 10 Uhr morgens bis 8 Uhr abends (Ortszeit) gelten, und zwar für al-Malwasi, Deir el-Balah und Gaza Stadt. Dennoch wurden gestern in Gaza mindestens 63 Menschen von der israelischen Armee getötet, 32 davon beim Versuch, Nahrungsmittelhilfe zu erhalten.
Während der angekündigten Kampfpause ermordeten israelische Soldaten eine Frau und ihre vier Kinder in Gaza-Stadt. Außerdem gab es einen Luftangriff auf eine Bäckerei in Gaza Stadt, wo gerade Brot gebacken wurde.
Die israelische Armee hatte auch „sichere Routen“ für UN-Hilfskonvois angekündigt. Das ägyptische Staatsfernsehen berichtete, dass Hilfs-LKW sich von Ägypten aus auf den Weg nach Gaza gemacht hätten.
Der Journalist Hani Mahmoud berichtet aus Gaza-Stadt, dass in den frühen Morgenstunden ca. 10 LKWs mit Mehl in den Norden Gazas gelangten. Nicht alle schafften es jedoch bis Gaza-Stadt, wo die meisten Hilfsbedürftigen warten. Etliche wurden unterwegs geplündert. Ein Video zeigt Chaos in der Nähe eines LKWs, der mit Mehlsäcken beladen war.
Außerdem hat gestern Nahrungsmittelhilfe aus der Luft begonnen. Jordanien und die Vereinigten Arabischen Emirate gaben an, 25 Tonnen Hilfsgüter über Gaza abgeworfen zu haben. Aber nicht nur Hilfsorganisationen, sondern auch Journalisten in Gaza kritisieren die Aktion als gefährlich, ineffektiv und kontraproduktiv. Pakete fielen auf Zelte. Etliche Menschen wurden verletzt.
Quellen:
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/7/27/live-israel-intercepts-gaza-bound-handala-5-palestinians-starve-to-death (10.15, 11.30, 12.15, 12.45, 13.00, 13.30, 17.00)
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/7/26/live-israels-starvation-policy-leaves-122-dead-in-gaza-mostly-children (17.30, 18.55)
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