Mord in Umm al-Khair

Bild: Odeh Hadalin, Menschenrechtsaktivist aus Umm al-Khair, mit seinem Sohn Watan, 2024, ermordet am 28. Juli 2025 von einem israelischen Siedler. Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/Killing_of_Awdah_Hathaleen

Umm al-Khair ist ein Dorf im Westjordanland, südlich von Hebron. Es liegt in den Hügeln von Masafer Yatta. Masafer Yatta ist heute vielen Menschen auf der ganzen Welt ein Begriff, und zwar durch den Oscar-gekrönten israelischen Dokumentarfilm No Other Land.

Einer von denen, der in No Other Land mitwirkte, war Odeh Hadalin (alternative Schreibweise: „Awdah Hathaleen“). Hadalin wohnte in Umm al-Khair. Er war 31 Jahre alt, verheiratet, Vater von drei Kindern, Englischlehrer und Fußballnarr. Er war außerdem seit vielen Jahren als Aktivist engagiert gegen die Gewalt der israelischen Besatzungsarmee und der israelischen Siedler in Masafer Yatta. Er dokumentierte die Übergriffe und schrieb Artikel in internationalen Zeitschriften darüber, um die Welt aufmerksam zu machen auf das schreiende Unrecht und das Leid, das sein Volk seit Jahrzehnten erdulden muss.

Noch am 22. Juli, eine knappe Woche vor seinem Tod, veröffentlichte er einen Artikel in dem Online-Magazin +972: „In Umm al-Khair verurteilt uns die Besatzung zum multigenerationalen Trauma“. Er berichtete darin über die jüngsten Häuserdemolierungen in seinem Dorf. Am 26. Juni wurden im Umm al-Khair 10 Häuser und ein Zelt von israelischen Bulldozern niedergewalzt und wichtige Infrastruktur zerstört. Hadalin hatte als 13jähriger das erste Mal solche Zerstörungen erlebt. Diese Erfahrung hatte ihn tief traumatisiert. Ein solches Trauma wollte er seinem vierjährigen Sohn ersparen. Aber das gelang ihm nicht.

Auch nach dem Überfall vom 26. Juni kam Umm al-Khair nicht zur Ruhe. Hadalin berichtet:

„Am Nachmittag des ersten Juli, fünf Tage nach den Demolierungen, drang eine Gruppe von Siedlern des illegalen israelischen Außenpostens von Havat Shorashim in unser Dorf ein. Dort fütterte gerade eine Gruppe älterer Frauen ihre Schafe. Die Siedler kamen in das Haus meiner Mutter […] und verlangten von ihr, für sie Kaffee zu kochen. Als die Frauen die Siedler baten zu gehen, fing von einer von ihnen an, mit scharfer Munition in die Luft zu schießen. Andere schlugen die Frauen mit Stöcken und sprühten Pfefferspray in ihre Augen.

[…] Insgesamt wurden sechs Einwohner von den Siedlern verletzt: vier Frauen, ein fünfjähriges Mädchen und ein 17jähriger Junge. Wir riefen die Rettung, aber als diese das Dorf erreichte, blockierten die Siedler die Straße. So wurde die dringend nötige medizinische Versorgung der Verwundeten verzögert.“

Am 28. Juli fuhr ein Bagger über das Land von Umm al-Khair. Sein Zielort war eine nahegelegene israelische Siedlung. Begleitet wurde das Baufahrzeug von Yinon Levi, einem jüdischer Siedler. Levi ist schon lange kein Unbekannter. Er gehört zu jenen radikalen jüdischen Siedlern im Westjordanland, die von Großbritannien, der EU (und vor Trump auch von den USA) mit Sanktionen belegt wurden.

Die Dorfbewohner hatten darum gebeten, dass der Bagger auf der Fahrt durch ihr Dorf das Eigentum der Bewohner schonen möge. Der Bagger jedoch nahm nicht die befestigte Straße, sondern zerstörte unter anderem eine Wasserleitung und eine Olivenpflanzung. Levi drohte, man werde noch mehr Zerstörungen anrichten. Als Odeh Hadalins Bruder Ahmed versuchte zu intervenieren, schlug er ihn mit der Baggerschaufel gegen den Kopf.

Andere Dorfbewohner stellten sich dem Bagger entgegen. Manche warfen mit Steinen. Levi zog eine Handfeuerwaffe und begann, wild um sich zu schießen. Auf einem Video sieht man, wie er zwei Schüsse in verschiedene Richtungen abgibt.

Odeh Hadalin war nicht im Zentrum des Geschehens. Er stand ein Stück entfernt hinter dem Zaun des Fußballplatzes und filmte mit seinem Handy. Eine Kugel aus der Waffe von Yinon Levi traf ihn in die Brust und verwundete seine Lunge. Er wurde ins Krankenhaus gebracht. Die Ärzte dort konnten aber nur noch seinen Tod feststellen. Seine Leiche wurde daraufhin von der israelischen Armee beschlagnahmt. Das bereitet den Hinterbliebenen zusätzlichen Schmerz, denn im Islam ist eine rasche Beisetzung üblich.

Die Armee erschien am Tatort, verhaftete Levi, aber auch fünf von Odeh Hadalins Verwandten. Levi soll sich unmittelbar nach der Tat mit dem Mord gebrüstet haben.

Ein jüdischer Aktivist, der vor Ort war, um die Dorfbewohner vor den Siedlern zu schützen, erzählt, er hätte versucht, mit den Soldaten zu sprechen, die am Tatort erschienen. Drei von ihnen hätten zu ihm gesagt, es täte ihnen leid, dass nicht sie selber den Palästinenser erschossen haben.

Einen Tag später, am 29. Juli, wurde Levi in den Hausarrest entlassen, die Verwandten von Odeh Hadalin blieben jedoch in Haft. Am selben Tag versammelten sich das Dorf und etliche Aktivist/inn/en zu einer Trauerfeier – ohne die Leiche des Ermordeten. Die israelische Armee löste die Veranstaltung gewaltsam auf. Sie griff Trauernde an, zerrte sie gewaltsam aus dem Trauerzug, sperrte den Zugang zum Dorf ab, um Menschen aus anderen Dörfern und Mitgliedern von NGOs an der Teilnahme an dem Trauerzug zu hindern, und verhaftete zwei der anwesenden Aktivistinnen. Später schützte das Militär die Siedler bei Arbeiten zur Erweiterung der illegalen Siedlung Carmel.

Am 30. Juli erreichte mich folgende Mail der israelisch-palästinensischen NGO The Villages Group:

Wir informieren Sie hiermit, dass wir in Khirbet Umm al-Khair gegenwärtig extrem schwierige Umstände erleben, nämlich:

 • Wir konnten unseren Märtyrer Awdah Hathaleen bisher nicht beerdigen, weil uns die Rückgabe seines Leichnams verweigert wurde.

 • Vierzehn junge Männer wurden bisher verhaftet.

 • Alle Journalisten und Aktivisten der internationalen Solidarität wurden aus dem Dorf vertrieben.

 • Die Besatzungsmacht insistiert darauf, dass das Trauerzelt für unseren Märtyrer entfernt wird.

Diese Nachricht ist ein Appell und eine Aufklärung über die harten Umstände und das Leid, das wir gerade durchmachen.

Wir bitten Sie dringend, unsere Nachricht über alle Plattformen und mit allen Mitteln zu verbreiten, damit die Welt erfährt, was in Khirbet Umm al-Khair geschieht – das Leiden und der Versuch, die Bewohner mit Gewalt von ihrem Land zu entfernen.

Vertreter des lokalen Rates von Umm al-Kair

https://villagesgroup.wordpress.com/

https://www.facebook.com/villagesgroup/

Einen Tag später, am 31. Juli, besuchten einige Vertreter der EU das Dorf Umm al-Khair. Sie forderten Israel auf, „konkrete Schritte“ zu unternehmen, um die palästinensische Bevölkerung vor Siedlergewalt zu schützen.

Einen Tag später, am 1. August, ordnete ein Jerusalemer Gericht die Freilassung des Mörders Levi an. Begründung: Die Beweislage reiche nicht aus für einen Mordverdacht.

Am 3. August demonstrierten Israelis in Tel Aviv und Jerusalem in Solidarität mit den Angehörigen von Odeh Hadalin und gegen die ethnischen Säuberungen im Westjordanland. In Tel Aviv wurden einige der Demonstranten von der Polizei festgenommen.

6. August: Die israelische Armee hat den Leichnam von Odeh Hadalin noch immer nicht freigegeben. Sie knüpft die Freigabe gegenüber der Familie an eine Reihe von Bedingungen. Unter anderem sollen höchstens 15 Personen an der Beerdigung teilnehmen dürfen, und Odeh Hadalins Körper soll nicht auf dem Friedhof von Umm al-Khair beerdigt werden. Inzwischen sind 60 Frauen aus Umm al-Khair in den Hungerstreik getreten. Sie wollen so lange nichts essen, bis der Leichnam freigegeben wird.

Die Geschichte dieses Verbrechens ist kein tragischer Einzelfall. Seit Oktober 2023 wurden mehr als 1.000 Palästinenser im Westjordanland von israelischen Soldaten und/oder Siedlern ermordet. Allein im vergangenen Juni starben mindestens 14 Palästinenser durch Angriffe von Soldaten oder Siedlern, mehr als 350 wurden verletzt. Ebenfalls im vergangenen Juni wurden 129 Siedlerangriffe registriert, die jeweils Sach- und/oder Personenschaden verursachten. In den vergangenen 18 Monaten (also seit Anfang 2024) wurden mehr als 2.200 Siedlerangriffe gemeldet. Dabei wurden mehr als 5.200 Palästinenser verletzt. Im selben Zeitraum verloren fast 36.000 Palästinenser ihr Zuhause, teils durch israelische Militäroperationen, teils durch Siedlergewalt, teils durch Hausabrisse der israelischen Regierung.

Die Täter agieren mit Rückendeckung der israelischen Regierung und bleiben so gut wie immer straffrei. Zwar sind die Täter Kriminelle, aber ihre kriminellen Handlungen sind Teil der israelischen Politik. Ziel dieser Politik ist es, möglichst große Teile der palästinensischen Bevölkerung von ihrem Land zu vertreiben, ihnen ihre Lebensgrundlagen zu entziehen und sie so zum „freiwilligen“ Verlassen ihrer Heimat zu bewegen.

Das Westjordanland ist seit 1967 von der israelischen Armee besetzt. Nach internationalem Recht darf eine Besatzungsmacht niemals die eigene Bevölkerung in einem besetzten Gebiet ansiedeln. Israel baut im Westjordanland seit Jahrzehnten jüdische Siedlungen, in denen inzwischen Hunderttausende israelische Juden leben. Jede einzelne dieser Siedlungen ist nach internationalem Recht illegal. In den vergangenen zwei Jahren wurde der Siedlungsbau noch einmal massiv verstärkt und die Bewegungsfreiheit der palästinensischen Bevölkerung gleichzeitig noch weiter eingeschränkt als sie vorher schon war.

Am 23. Juli beschloss die Knesset offiziell die Annexion des Westjordanlandes.

Quellen:

https://en.wikipedia.org/wiki/Killing_of_Awdah_Hathaleen

https://www.newarab.com/news/israel-blocks-funeral-palestinian-activist-awdah-hathaleen

https://www.972mag.com/umm-al-khair-multigenerational-trauma/

https://www.aljazeera.com/news/2025/7/29/who-was-awdah-hathaleen-palestinian-activist-killed-by-an-israeli-settler

https://www.aljazeera.com/video/newsfeed/2025/7/29/video-israeli-settler-kills-owb-activist-involved-in-oscar-winning-film#flips-6376278058112:0

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/7/29/live-israel-kills-92-in-gaza-in-one-day-as-death-toll-nears-60000

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/8/1/live-israel-kills-starving-palestinians-as-us-envoy-set-to-visit-aid-sites (17.15)

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/8/4/live-israel-kills-56-aid-seekers-as-22000-aid-trucks-stuck-outside-gaza (06.45, 08.45)

https://www.aljazeera.com/video/newsfeed/2025/8/5/israeli-settler-seen-shooting-owb-activist-freed-from-house-arrest

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/7/18/live-israel-kills-dozens-more-in-gaza-after-3-slain-in-attack-on-church (15.45)

https://www.972mag.com/awdah-hathaleen-slain-israeli-settler/

https://www.commondreams.org/news/hathaleen-killed-by-israeli-settler

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In Gaza geht das Sterben weiter

Nach wie vor werden täglich Dutzende Menschen von der israelischen Armee ermordet, viele davon beim Versuch, etwas Nahrungsmittelhilfe zu bekommen. Außerdem sterben täglich Menschen an Hunger.

Die neuesten Todeszahlen: 61.020 registrierte Kriegsopfer. Die Zahl der registrierten Hungertoten steht jetzt bei 193, davon 96 Kinder.

Seit Ende Mai, seit die GHF-Verteilstellen in Gaza eröffnet wurden, starben 1.500 Menschen an oder in der Nähe solcher Verteilstellen. Allein in den ersten fünf Tagen des August waren es 238 Menschen.

Israel lässt nach wie vor nur einen Bruchteil der dringend benötigten Hilfsgüter nach Gaza. Am Samstag waren es 36 LKWs, am gestrigen Montag 95. Im Durchschnitt waren es 87 LKW pro Tag seit 27. Juli – nachdem Israel (auf Druck der EU) angekündigt hatte, die Blockade zu lockern.

Die israelische Propaganda-Maschine läuft indessen auf Hochtouren. Die israelische Regierung erklärt nach wie vor, es gebe keine Hungersnot in Gaza. Anderslautende Behauptungen seien Hamas-Propaganda. (Das ist, nach einer neuen Umfrage, auch die Meinung von 47 Prozent der Israelis.) Der Vorsitzende der israelitischen Kultusgemeinde, Oskar Deutsch, sagt im österreichischen Fernsehen, „man wisse nicht“, ob in Gaza wirklich Zehntausende Menschen gestorben seien und ob es dort wirklich Hungertote gebe. Der Moderator, Armin Wolf, fragt scharf nach: Ob denn seiner Meinung nach alle Hilfsorganisationen, einschließlich des Roten Kreuzes, lügen würden? Deutsch dazu: Die UNO habe ohnehin seit Jahrzehnten nichts anderes zu tun als Israel schlechtzumachen, und das Rote Kreuz solle sich gefälligst um die israelischen Geiseln in Gaza kümmern. Frage von Wolf: Und die Erschießungen von Hunderten Menschen an den GHF-Verteilpunkten? Plötzlich weiß Deutsch ganz genau, was im Gazastreifen vor sich geht: Die Hamas würde die Leute ermorden, weil die Hamas nicht wolle, dass die Menschen versorgt werden.

Dass sowohl die Zehntausenden Toten in Gaza als auch die Hungersnot nicht vernünftig anzuzweifeln sind, stellt Moderator Wolf noch während des Interviews klar.

Zur Anschuldigung, die Hamas würde ihre eigenen Leute bei der Lebensmittelausgabe erschießen, sei hier festgestellt: Eine Flut von Zeugenaussagen belegt, dass die Toten und Verletzten an den Hilfsverteilstellen zum größten Teil auf das Konto der israelischen Armee gehen. Das bezeugen übereinstimmend Hilfesuchende, die vor Ort waren, überlebende Opfer, Mitarbeiter des Roten Kreuzes, ehemalige Mitarbeiter der GHF, israelische Soldaten und medizinisches Personal.

Quellen:

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/7/31/live-israel-kills-over-90-in-gaza-in-one-day-as-starvation-deaths-mount (17.10)

https://www.aljazeera.com/news/2025/8/5/how-much-aid-has-entered-gaza-5

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/8/5/live-israel-kills-74-in-past-day-as-trickle-of-aid-trucks-enters-gaza (12.30, 15.15)

https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/debatte-um-fotos-von-kranken-kindern-in-gaza-die-hungersnot-ist-real-110615912.html

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/8/4/live-israel-kills-56-aid-seekers-as-22000-aid-trucks-stuck-outside-gaza (12.15)

https://www.palaestina.ch/de/aufgefallen/1013-aufgefallen-28-juli-2025-die-schande-des-vorsaetzlichen-aushungerung (Original: www.haaretz.com/opinion/2025-07-24/ty-article-opinion/.premium/the-disgrace-of-deliberate-starvation-israels-war-of-hunger-in-gaza/00000198-381d-d47b-adbe-fa3dfeb10000)

https://www.bbc.com/news/videos/cy8k8045nx9o

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/7/29/live-israel-kills-92-in-gaza-in-one-day-as-death-toll-nears-60000 (16.40)

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/8/1/live-israel-kills-starving-palestinians-as-us-envoy-set-to-visit-aid-sites (06.00)

https://shafaq.com/en/Middle-East/Half-of-Israelis-deny-Gaza-famine-as-global-protests-mount

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/8/6/live-israel-kills-83-in-gaza-as-eu-un-condemn-alarming-invasion-plan

https://www.diepresse.com/19949896/kein-hunger-in-gaza-das-desastroese-zib-2-interview-von-oskar-deutsch

https://www.derstandard.at/story/3000000280984/ikg-praesident-zweifelt-in-der-zib-2-an-den-hungerzahlen-aus-gaza


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