Nun ist es offiziell: In Gaza herrscht eine Hungersnot. Die IPC (Integrated Food Security Phase Classification) ist eine mit der UNO verbundene internationale Organisation, die Hungerkrisen in der Welt überwacht und ein Klassifikationssystem entwickelt hat. Die IPC hat nun erstmals festgestellt, dass in Gaza nicht nur eine Hungersnot droht, sondern tatsächlich eine Hungersnot herrscht. Das Klassifikationssystem ist kompliziert und berücksichtigt mehrere Faktoren. Es geht unter anderem darum, wie viele Menschen in einem bestimmten Gebiet von „Nahrungsunsicherheit“ betroffen sind, aber auch darum, wie viele Menschen an Hunger sterben. Für Gaza-Stadt wurde nun eine Hungersnot festgestellt, also die schlimmste Lage nach dem IPC-System (Stufe 5 auf einer fünfstufigen Skala).
Laut der IPC-Analyse leben in Gaza-Stadt und Umgebung 30 Prozent der Bevölkerung in einer katastrophalen Lage (die schlimmste Stufe), weitere 50 Prozent in einer Notfall-Lage (die zweitschlimmste Stufe).
Für manche Gebiete Gazas können die Experten keine Aussagen machen, weil nicht genügend Daten vorliegen. In anderen Gebieten ist die Lage noch nicht ganz so schlimm, aber auch dort wird es binnen weniger Wochen oder Monate zu einer Hungersnot kommen, wenn sich die Situation nicht substantiell ändert.
Israel bleibt indessen bei altbekannten Strategien: Erstens wird alles abgestritten. Zweitens werden diejenigen, die die Wahrheit sagen, als Teil einer antisemitischen Weltverschwörung und Komplizen der Hamas dargestellt. Israel leugnet tatsächlich nach wie vor die Existenz einer Hungersnot in Gaza und verlangt allen Ernstes von der IPC (Integrated Food Security Phase Classification Initiative) den jüngsten Bericht über die Hungersnot in Gaza zurückzuziehen. Israel beschuldigt das IPC, für „eine böse Terrororganisation“ tätig zu sein.
Sicherlich schließt Israels Erzählung von der antisemitischen Weltverschwörung auch das World Food Programme (WFP) der UNO ein. Dessen Direktorin, Cindy McCain war dieser Tage auf Visite in Gaza. Sie besuchte Deir al-Balah in Zentralgaza und Khan Younis im Süden. In Deir-al-Balah besuchte sie eine Klinik, die auf die Behandlung von Mangelernährung spezialisiert ist. Die Ärzte dort versuchen, hungernde Kinder am Leben zu erhalten. McCain sprach dort mit Müttern unterernährter Kinder. Sie hörte von deren täglichem Kampf ums Überleben, ihrer Suche nach ein wenig Nahrung, die oft erfolglos bleibt. McCain sagte: „Ich traf hungernde Kinder, die wegen schwerer Mangelernährung in Behandlung sind – und ich sah Fotos von ihnen, als sie noch gesund waren. Sie sind heute nicht wiederzuerkennen.“
Aus einem Bericht des Journalisten Tareq Abu Azzoum aus Gaza:
Hilfslieferungen sind nach wie vor unzureichend und unorganisiert. Sie werden häufig geplündert, entweder von hungrigen Menschen oder von bewaffneten Banden, die vom Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung profitieren. Israel zwingt LKW-Fahrer systematisch, bestimmte Routen zu nehmen, die sie direkt in die Arme der Plünderer führen. Warenlager der UNO sind fast leer, weil die LKWs mit den Hilfsgütern dort nicht ankommen.
Andererseits beobachten wir, dass Israel eine große Zahl von kommerziellen Lieferungen nach Gaza lässt, die später die lokalen Märkte mit Waren überfluten. Wir sehen, dass diese kommerziellen Lieferungen massiv von Sicherheitspersonal geschützt werden, während die humanitären Hilfslieferungen keinerlei Schutz bekommen.
So entsteht für die internationale Gemeinschaft der Eindruck, dass Gazas Märkte voller Waren sind. Aber die Menschen haben kein Geld, diese Waren zu kaufen.
Im vergangenen Monat gelangten im Schnitt täglich 88 LKWs mit Hilfsgütern nach Gaza. Fachleute sagen, dass mindestens 600 nötig wären.
Die Gruppe Forensic Architecture hat zusammen mit dem World Peace Forum einen neuen Bericht veröffentlicht: „The Architecture of Genocidal Starvation in Gaza, March – August 2025“. Der Bericht erschien am 8. August 2025. Er umfasst 161 Seiten.
Forensic Architecture ist eine multidisziplinäre Forschungsgruppe, die an der University of London angesiedelt ist. Gegründet wurde sie 2010 von dem britisch-israelischen Architekten Eyal Weizman, der sie bis heute leitet. Forensic Architecture untersucht mit modernen technischen Methoden, die aus der Architektur kommen, Menschenrechtsverletzungen auf der ganzen Welt. Die Gruppe gelangt in dem neuen Bericht zu folgendem Fazit:
Der Hungertod geschieht auf zwei Ebenen: der biologische Hungertod von Individuen und die Zerstörung der Gruppe als Ganzes. Letzteres geschieht durch kollektive Entmenschlichung, Zerstörung der Sozialstruktur und Vertreibung der Palästinenser von ihrem Land.
Obwohl grundlegende humanitäre Prinzipien es verbieten, humanitäre Hilfe für militärische oder politische Zwecke zu missbrauchen, versuchte Israel Hilfe zu instrumentalisieren, um
- Vertreibung und Re-Konzentration der Bevölkerung voranzutreiben,
- den Zugang zu Hilfe zu einer tödlichen Gefahr zu machen,
- die zivile Ordnung und das soziale Gefüge der Palästinenser zu untergraben, und
- das Abzweigen von Hilfsgütern zu ermöglichen.
Weiters:
- Die Menge der Nahrung, die geliefert wird, reicht nicht aus, um die sich vor unseren Augen abspielende Katastrophe aufzuhalten.
- Lebensnotwendige Infrastruktur müsste wiederhergestellt werden, um eine Eskalation der humanitären Katastrophe zu verhindern.
- Die physischen und psychischen Belastungen, denen die von Hilfe abhängigen Menschen in Gaza ausgesetzt sind, wird ihr Trauma vertiefen und ihre Widerstandskraft weiter schwächen.
Das [von Israel etablierte] militarisierte Modell [der Verteilung von Hilfsgütern] kann nicht als „humanitär“ betrachtet werden, nicht einmal in einem maximal eingeschränkten Sinn, weil es unmenschlich ist. Es ist vielmehr ein Werkzeug, um die palästinensische Bevölkerung zu kontrollieren und ihr die Lebensgrundlagen zu entziehen. Dies geschieht innerhalb der Logik eines fortgesetzten genozidalen Angriffs Israels gegen die Bevölkerung Gazas.
Der Bericht kann hier gelesen und heruntergeladen werden:
https://forensic-architecture.org/investigation/aid-in-gaza
An oder in der Nähe von GHF-Verteilpunkten wurden bislang mehr als 2.200 Menschen erschossen. Mehr als 16.000 wurden verwundet.
Der Direktor des al-Shifa-Krankenhauses in Gaza-Stadt, Mohammed Abu Salmiya, berichtet:
Mehr als 320.000 Kinder in Gaza befinden sich im Zustand schwerer Mangelernährung. Alle Verwundeten in den Spitälern Gazas leiden unter Mangelernährung. Mangelernährung ist ein Problem, das sich nicht kurzfristig lösen lässt. Selbst wenn morgen genügend Nahrungsmittel nach Gaza gelangen würden, wäre das Problem nicht gelöst. Denn schwere Mangelernährung hat Langzeitfolgen, insbesondere bei Kindern. Hunger bei Kindern kann unter anderem Wachstumsstörungen und Störungen der kognitiven Entwicklung verursachen. Das heißt, diese Kinder werden nie die eigentlich in ihren Genen angelegte Körpergröße erreichen und ihr Leben lang beim Lernen Schwierigkeiten haben. Hunger kann überdies – sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen – irreversible organische Schäden verursachen.
Das bedeutet: Sofern nicht alle ermordet werden, wächst jetzt in Gaza eine ganze Generation von psychisch und physisch beeinträchtigten Menschen heran – unmittelbar verursacht durch Israels Blockade und Zerstörung von Infrastruktur. Die Folge ist unermessliches Leid nicht nur für die unmittelbar betroffene Generation, sondern auch für die folgenden.
Am 29. August waren in Gaza 322 Hungertote registriert, davon 121 Kinder.
Ich empfehle zum Thema „Hungersnot in Gaza“ die folgenden beiden kurzen Videos:
(1) Die Folgen der Hungersnot für alte Menschen: Die Gruppe der alten Menschen gehört zu jenen, die die Hungersnot am härtesten trifft.
(2) Video über die Hungersnot in Gaza, mit seltenen Aufnahmen von Menschen, die auf fahrende Lastwagen springen, um an Lebensmittel zu kommen, von Hilfesuchenden inmitten eines Kugelhagels, von Menschen, die sich auf Lebensmittelpakete stürzen, die vom Himmel gefallen sind.
***
In Tel Aviv demonstrieren hunderte Menschen tatsächlich aus Solidarität mit den Palästinensern in Gaza (also nicht nur mit den Geiseln). Sie skandieren (auf Hebräisch): „Gaza, Gaza, verzweifle nicht – wir werden die Besatzung beenden. Wir werden nicht sterben und wir werden nicht morden im Dienste der Vereinigten Staaten.“ Viele der Demonstranten halten Schilder mit hebräischen Aufschriften in die Höhe. Es ist keine einzige israelische Fahne zu sehen.
Diese mutigen Menschen werden an der verbrecherischen israelischen Politik nichts ändern können. Aber sie erweisen ihrem Land einen unschätzbaren Dienst: Sie zeigen der Welt, dass in Israel auch Menschen mit einem Gewissen leben. Ihnen wird es zu verdanken sein, wenn Kinder kommender Generationen im Geschichtsunterricht lernen werden: Nicht alle waren dafür. Einige haben Widerstand geleistet. Sie sind ihrem Gewissen gefolgt und haben in aller Öffentlichkeit ihre Stimme erhoben, obwohl sie riskierten, ihre Jobs zu verlieren, von Verwandten und Freunden geächtet zu werden, ins Gefängnis zu gehen oder sich selbst und ihre Familien ins Fadenkreuz eines aufgehetzten Mobs zu bringen. Sie sorgen dafür, dass der Name „Israel“ in Zukunft nicht ausschließlich mit Rassismus, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord in Verbindung gebracht werden wird.
Die große Mehrheit der Israelis ist wohl derzeit nicht in der Lage, wertzuschätzen, was diese kleine Gruppe für ihr Land tut. Dennoch – oder gerade deshalb – verdient es dieser kleine Protest, besonders hervorgehoben zu werden.
Andere Proteste haben mehr Zulauf, aber – in meinen Augen – sehr viel weniger moralisches Gewicht. Am 27. August gab es in Tel Aviv eine große Demonstration gegen die israelische Regierung. Die Veranstalter sprachen von 350.000 TeilnehmerInnen. Es sprachen Angehörige von Geiseln und israelische Oppositionspolitiker.
Auch auf dieser Demonstration wurde ein Ende des Krieges in Gaza gefordert. Das ist gut, natürlich. Aber in den Argumenten der Demonstranten spielen die Menschen in Gaza keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Es geht in erster Linie um die Geiseln, immer wieder um die 20 israelischen Menschen, die sich mutmaßlich noch lebend in Gaza befinden. In zweiter Linie geht es um das Ansehen Israels in der Welt. In dritter Linie um die israelischen Soldaten. Viele TeilnehmerInnen schwenkten israelische Fahnen.
Ich verurteile nicht, dass Israelis mehr Mitgefühl für ihre Landsleute haben als für die Palästinenser. Ich denke, das ist menschlich. Aber in Gaza werden täglich Dutzende Palästinenser von der israelischen Armee ermordet, fast alle zwei Millionen Palästinenser in Gaza leiden unter Hunger und Vertreibung, viele leben ständig mit dem Terror tödlicher israelischer Angriffe. Im Lichte dieser Tatsachen erscheint mir die Fokussierung auf das Leiden von zwei Dutzend israelischer Juden in Geiselhaft nicht mehr als angemessen. Es fällt mir schwer, darin nicht ein Indiz dafür zu sehen, dass die israelische Gesellschaft insgesamt (nicht nur die Anhänger der derzeitigen Regierung) tief von antipalästinenischem Rassismus durchdrungen ist. Die Palästinenser werden einfach nicht als Menschen gesehen, denen grundlegende Menschenrechte ebenso zukommen wie den Juden. Auf diesem rassistischen Denken beruht der Staat Israel, von Anfang an bis heute.
Quellen:
https://forensic-architecture.org/investigation/aid-in-gaza
https://en.wikipedia.org/wiki/Forensic_Architecture
https://www.aljazeera.com/news/2025/8/22/what-has-led-to-a-famine-being-confirmed-in-gaza
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/8/28/live-israel-demolishes-all-buildings-in-gaza-citys-southern-zeitoun-area (08.30, 13.15, 17.45)
https://www.tagesschau.de/ausland/asien/israel-protesttag-104.html?utm_source=firefox-newtab-de-de
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/8/29/live-israel-2 (12.46)
Die gute Nachricht zum Schluss
Diese Woche sollen 52 junge Menschen aus Gaza in Irland eintreffen, um dort zu studieren. Die irische Regierung hat Stipendien bereitgestellt. Eine erste Gruppe von 26 Studierenden soll am Donnerstag eintreffen, die übrigen sollen zwischen Freitag und Sonntag kommen.
Selbstverständlich können die jungen Leute nur mit Genehmigung der israelischen Regierung und der Regierungen von Nachbarländern ausreisen. Die irische Regierung arbeitet daran, diese Genehmigungen zu erhalten.
Quelle:
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