Staatsterrorismus

In den ersten 72 Stunden dieser Woche führte Israel Angriffe auf sechs Länder aus: Palästina, Libanon, Syrien, Tunesien, Katar und Jemen. 

In Gaza ermordete die israelische Armee allein in den ersten drei Tagen dieser Woche mehr als 200 Menschen. Mehr als 500 wurden verletzt. Der seit nun seit 23 Monaten andauernde Krieg in Gaza wird international als Genozid klassifiziert. Offiziell sind an die 65.000 Todesopfer registriert, die Dunkelziffer liegt aber wesentlich höher. Rund 80 Prozent der Opfer sind Zivilisten. Mehr als 400 Menschen sind in Gaza inzwischen offiziell an Hunger gestorben, davon mindestens 141 Kinder. Das von der israelischen Regierung inzwischen offen erklärte Ziel dieser Militäroperation ist die Vertreibung einer möglichst großen Zahl der Palästinenser aus Gaza und eine dauerhafte Besetzung bzw. De-facto-Annexion sowie jüdische Besiedlung von Gaza.

Im östlichen Libanon ermordete die israelische Armee am Montag mindestens fünf Menschen. Der Libanon ist ein schwacher Staat, in dem die islamistische Hisbollah sowohl politisch als auch militärisch eine wichtige Rolle spielt. Von Oktober 2023 bis November 2024 feuerten Hisbollah-Milizen aus dem Libanon immer wieder Raketen auf Israel ab, aus Solidarität mit Gaza. Sie signalisierten stets, die Angriffe einzustellen, sobald es zu einem Waffenstillstand in Gaza käme. Der Krieg forderte bis November 2024 fast 4.000 Todesopfer auf libanesischer Seite. Seit November 2024 gilt offiziell ein Waffenstillstand zwischen der Hisbollah und Israel. Die Hisbollah hielt sich weitgehend daran. Israel weigerte sich aber, entgegen der Vereinbarung, seine Truppen aus dem Südlibanon abzuziehen. Außerdem greift Israel den Libanon, trotz Waffenstillstands, fast täglich an. Knapp 100 Menschen wurden bei diesen Angriffen, während des Waffenstillstands, getötet, Hunderte verletzt.

In Syrien bombardierte die israelische Armee am Montag militärische Einrichtungen. Dieses Mal wurden keine Opfer gemeldet. Es gab aber in diesem Jahr bereits ca. 100 israelische Angriffe auf Syrien, bei denen 61 Menschen ermordet wurden. Syrien hatte nach dem Sturz des Diktators Assad mehrfach erklärt, kein Interesse an einem Konflikt mit Israel zu haben und eine gute Nachbarschaft anzustreben. Als Reaktion darauf marschierte Israel in Syrien ein und greift immer wieder Ziele weit im Landesinneren an, auch in der Hauptstadt Beirut.

Sowohl Teile des Libanons als auch Teile Syriens gehören zum Gebiet des sog. „Groß-Israels“, dessen Errichtung der israelische Premierminister Netanjahu zu seiner „Mission“ erklärt hat. Es ist also wohl nicht besonders weit hergeholt, die Invasionen im Libanon und in Syrien als Schritte zur Verwirklichung dieses Vorhabens zu interpretieren.

Am Montag und am Dienstag gab es Drohnenangriffe auf die Global Sumud Flotilla vor der tunesischen Küste, in tunesischem Hoheitsgebiet. Ein Brandsatz wurde abgeworfen. Es breitete sich auf einem der Boote ein Feuer aus, das jedoch schnell gelöscht werden konnte. Die Global Sumud Flotilla ist eine zivilgesellschaftliche Aktion, mit dem Ziel, die Seeblockade von Gaza zu durchbrechen und Hilfsgüter nach Gaza zu bringen. Die Global Sumud Flotilla führt keine Waffen mit sich.

Am Dienstag flog Israel einen Angriff auf Doha, die Hauptstadt Katars, wo eine Hamas-Verhandlungsdelegation zu Gast war. Es sollte über ein Waffenstillstandsabkommen und die Freilassung der israelischen Geiseln in Gaza verhandelt werden. Israel wollte die Hamas-Führer ermorden. Es kamen bei dem Angriff sechs Menschen ums Leben: der Büroleiter eines Hamas-Führers, der Sohn desselben Hamas-Führers, drei Bodyguards und ein katarischer Sicherheitsmann. Die eigentlichen Zielobjekte entgingen dem Anschlag.

Am Mittwoch griff Israel den Flughafen der jemenitischen Hauptstadt Sanaa an. Bei dem Angriff starben mindestens 35 Menschen. Viele weitere wurden verletzt, teilweise schwer.

Das war der zweite Angriff auf den Flughafen in Sanaa in diesem Monat. Zuvor war der Flughafen von Israel schon am 6. Mai angegriffen worden. Am 28. August hatte die israelische Armee bei einem Angriff den Huthi-Premierminister Ahmed al-Rahawi ermordet.

Die Huthis greifen immer wieder Ziele in Israel an, unter anderem Flughäfen. Israels Luftabwehrsystem kann nicht alle Raketen aus dem Jemen abfangen. Die Angriffe der Huthis verursachen kaum Personenschäden, aber erheblichen wirtschaftlichen Schaden, weil internationale Fluglinien wegen der Sicherheitslage immer wieder ihre Flüge nach Israel vorübergehend einstellen.

Die Angriffe der Huthis stehen, wie die Angriffe der Hisbollah 2024, in einem direkten Zusammenhang mit Israels Genozid in Gaza. Die Huthis haben stets erklärt, im Falle eines Waffenstillstands ihre Angriffe auf Israel einzustellen. Sie haben dies auch während des Waffenstillstands vom Januar bis März 2025 getan.

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Israels Angriff auf Katar wurde weltweit verurteilt. Das Land ist ein wichtiger Verbündeter der USA in der Region. Welche Rolle die USA bei Israels Angriff auf seinen Verbündeten spielte, ist unklar. Von der US-Regierung kommen widersprüchliche Aussagen dazu. Zunächst hieß es, man habe Katar vor dem Angriff gewarnt. Die Kataris widersprachen: Man habe zwar einen Anruf aus dem Weißen Haus erhalten, aber erst 10 Minuten nach den ersten Explosionen. Danach behaupteten die Amerikaner plötzlich, sie wären selber nicht im Detail informiert gewesen. Trump scheint die Angelegenheit inzwischen ziemlich unangenehm zu sein. An einem Zerwürfnis mit Katar kann er kein Interesse haben.

Die Bewohner von Doha fühlen sich terrorisiert. Gebäude in der Nähe des Anschlags bebten von der Wucht der Explosionen. Ein Video-Schnipsel aus Doha zeigt, dass es mindestens zwei große Explosionen gab. Wenn man die Bilder sieht, wundert man sich, dass es nicht mehr Tote gab.

Das Video wurde geteilt von Amir Ohana, einem Knesset-Abgeordneten der Likud und engem Vertrauten von Netanjahu. Er postete dazu (auf Arabisch) folgenden Text: „Das ist eine Nachricht für den gesamten Nahen Osten“ – im gegebenen Kontext ist das eine klare Drohung. 

Der israelische Angriff auf Katar könnte jedoch nach hinten losgehen. Es könnte sein, dass die arabische Welt nun zu der Einsicht gelangt, dass es „normale Beziehungen“ mit Israel nicht geben kann, weil dieser Staat sich mit allen Mitteln die gesamte Region unterwerfen will.

Der Premierminister von Katar, Al Thani, verlangte, dass Netanjahu wegen „Staatsterrorismus“ vor Gericht gestellt wird. Er sagte weiters: „Es wird eine Antwort aus der Region geben. Wir besprechen dies gerade mit Partnern in der Region.“ Israels Anschlag habe darauf abgezielt, jede Chance für Frieden zu zerstören. „Ich denke, dass Netanjahu [mit diesem Anschlag] jede Hoffnung für die [israelischen] Geiseln zerstört hat.“

Indessen droht Israel mit weiteren Anschlägen auf souveräne Staaten, sofern diese „Terroristen beherbergen“, so Netanjahu und der israelische Botschafter in den USA. Wenn man bedenkt, wie freizügig Israel mit der Bezeichnung „Terrorist“ umgeht (außer freilich bei den eigenen Leuten), dann ist das eine Drohung, von der sich wahrscheinlich die Mehrheit der Staaten auf dieser Erde angesprochen fühlen kann.

Israel meint offenbar, es könne sich erlauben, die ganze Welt gegen sich aufzubringen. An Hybris sind schon mächtigere Staaten zugrunde gegangen.

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Quellen:

https://www.aljazeera.com/news/2025/9/10/maps-israel-has-attacked-six-countries-in-the-past-72-hours

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/9/11/live-israel-kills-70-in-gaza-qatar-pm-accuses-israel-of-state (13.00, 15.00)

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/9/10/live-israels-deadly-attack-on-hamas-in-qatar-draws-global-condemnation (16.25,16.30, 17.40 18.35. 18.40)

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/8/29/live-israel-2 (17.00)

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/9/9/live-israel-pounds-gaza-city-as-netanyahu-tells-residents-to-leave-now (16.10, 16.15, 17.33, 18.15, 18.40)

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Hind Rajabs Stimme

Der Film The Voice of Hind Rajab wurde bei den Filmfestspielen in Venedig mit dem Grand Prix der Jury ausgezeichnet. Er erzählt die Geschichte der fünfjährigen Hind Rajab, die Ende Januar 2024, gemeinsam mit sechs Familienangehörigen, auf der Binnenflucht in Gaza von israelischen Soldaten ermordet wurde. (Siehe meinen Blogbeitrag vom 29. Januar 2024.) Der Kleinwagen, in dem sie unterwegs waren, wurde von einem Panzer beschossen. Dabei starben zwei Erwachsene und drei Kinder sofort, wenig später eine ältere Cousine, während diese versuchte, mit ihrem Handy einen Notruf abzusetzen. Hind war die einzige Überlebende. Es gelang ihr, mit dem Handy der Cousine Kontakt zur Zentrale des Palästinensischen Roten Halbmonds aufzunehmen. Der telefonische Kontakt blieb über Stunden bestehen. Die Diensthabenden in der Zentrale versuchten, das Kind in seiner Todesangst zu beruhigen, während sie mit der israelischen Armee über die Erlaubnis verhandelten, einen Rettungswagen zu schicken. Hind Rajab starb, als der Rettungswagen nur noch wenige Meter entfernt war. Die Sanitäter wurden ebenfalls ermordet. Die Tonaufnahmen wurden veröffentlicht und sorgten weltweit für Entsetzen und Empörung.

Der Film erzählt die Geschichte mit den Mitteln des Spielfilms aus der Perspektive der Menschen in der Rettungszentrale. Die Gräuel werden nicht direkt gezeigt. Es werden aber die Original-Tonaufnahmen verwendet.

Der Film der tunesischen Regisseurin Kaouther Ben Hania wurde auf mehreren internationalen Filmfestivals gezeigt und gewann insgesamt neun Preise.

Aus einer Filmkritik:

Kaouther Ben Hanias The Voice of Hind Rajab ist erschütternd, weil er sich weigert, wegzuschauen. […] Der Film zielt niemals auf Effekte ab. Er lässt Hinds Stimme und die eiseskalte Stille, die ihr folgt, für sich selbst sprechen. Das ist essentielles Kino – ein Akt des Erinnerns und ein Ruf nach Gerechtigkeit.

In der deutschen Presse sehen das nicht alle so: im Spiegel wird der Film als „propagandistisch“ bezeichnet. In einem Artikel in der Welt (der vor der Zuerkennung des Preises erschien) schwant dem Autor (Jan Küveler) Böses: „Fällt die Jury auf diese als Kino getarnte politische Intervention herein?“ Küveler nimmt es tatsächlich übel, dass die israelischen Geiseln und die Raketen der Hamas im Film nicht vorkommen, dass Hind Rajabs Geschichte „kontextlos“ erzählt wird.

Wir verschmelzen mit der Perspektive des rettungslos verlorenen Kindes und seiner verhinderten Helfer. Das Leid wird zum absoluten Bezugspunkt. Alles, was dieses Leid erklärt, verschiebt, relativiert, bleibt ausgespart. Dass die Hamas Geiseln hält, Raketen abfeuert und ihre Terrorstrukturen fortdauern – im Film kommt es nicht vor. Er betreibt eine Ikonografie seines unschuldigen Opfers, mit dem man nur mitleiden kann. Seine Botschaft wirkt wie ein lauterer, naiver Appell an die Menschlichkeit. Doch insgeheim zielt er auf den Effekt.

Ich frage mich: Warum eigentlich soll das Leid, das Hind Rajab, ihrer Familie, den Sanitätern und ihren Angehörigen angetan wurde, „relativiert“ werden? Warum muss in der deutschen Presse das Leid, das den Menschen in Gaza angetan wird, stets durch den Hinweis auf die Hamas, den 7. Oktober und die israelischen Geiseln „relativiert“ werden? Warum wird es dann umgekehrt in derselben Presse als „Terrorrelativierung“ gebrandmarkt, wenn man darauf hinweist, dass dem Anschlag vom 7. Oktober eine jahrzehntelange Geschichte brutaler Besatzung vorangegangen ist?

Ich frage mich weiters: Wodurch soll das Leid von Hind Rajab „erklärt und relativiert“ werden? Als Versuch der israelischen Armee, die israelischen Geiseln zu befreien? Als Kampf gegen eine Terrororganisation? Als legitime Vergeltung? Stellte Hind Rajab eine Bedrohung für Israel dar? Trug ihre Ermordung zur Befreiung der Geiseln bei? Wurde die Kampfkraft der Hamas dadurch geschwächt?

Küveler hatte sogar eine wohlmeinende Warnung für die Jury parat:

Natürlich hat „The Voice of Hind Rajab“ seine Berechtigung, als parteiisches Statement einer Regisseurin, die noch ganz anders gekonnt hätte. Er darf auch auf einem großen Festival laufen, das Vielstimmigkeit und Multiperspektivität verspricht. Wer ihn aber auszeichnet, macht sich zum Komplizen einer gefährlichen Einseitigkeit.

Vielleicht ist es ja ein Trost für Herrn Küveler, dass der Film in den USA noch keinen Verleih gefunden hat. Doch Hind Rajabs Stimme wird so oder so von sehr vielen Menschen auf der Welt gehört werden. Sie wird niemals vergessen werden. Gaza wird niemals vergessen werden. Das ist es, was zählt.

Quellen

https://www.sueddeutsche.de/kultur/film-venedig-gaza-voice-of-hind-rajab-preis-li.3308529?reduced=true

https://www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/the-voice-of-hind-rajab-2025

https://www.spiegel.de/kultur/kino/the-voice-of-hind-rajab-rekord-applaus-fuer-gaza-doku-beim-filmfest-venedig-a-2f628b76-4061-492b-8141-1ec635298fb7

https://www.welt.de/kultur/article68b950efe741757b51ad6e95/Gaza-Film-The-Voice-of-Hind-Rajab-in-Venedig-Das-Kino-als-Tribunal.html

https://www.bbc.com/culture/article/20250905-the-voice-of-hind-rajab-review

https://www.tiff.net/films/the-voice-of-hind-rajab

duck://player/1-NOqcasUFY

https://www.imdb.com/de/title/tt36943034/awards/?ref_=tt_awd

https://www.imdb.com/de/title/tt36943034/review/rw10774195/?ref_=tturv_perm_3

https://www.labiennale.org/en/cinema/2025/venezia-82-competition/voice-hind-rajab

https://palestinecinema.com/movies/the-voice-of-hind-rajab


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