Am 28. Oktober wurde aus dem Büro von Benjamin Netanjahu gemeldet, der Premierminister habe die Armee angewiesen, schwere Angriffe in Gaza durchzuführen.
Schon die Ankündigung genügte, um die Menschen in Gaza in Angst und Schrecken zu versetzen. Kurze Zeit darauf, am frühen Abend Ortszeit, wurden die ersten Angriffe gemeldet. Eine Rakete schlug in unmittelbarer Nähe des Al-Shifa-Krankenhauses ein. Das verursachte Chaos und Panik unter den Patienten und MitarbeiterInnen.
Es folgten massive Bombardierungen in Gaza-Stadt. Dabei starben mehr als 100 PalästinenserInnen, darunter 46 Kinder und 20 Frauen. Mehr als 300 PalästinenserInnen wurden verletzt. Wohngebäude und Zeltlager wurden ohne Vorwarnung zerstört.
Ein erschütterndes Video zeigt Bilder von Toten, Trauernden, Verletzten und Rettungskräften, die versuchen, zu helfen.
Der norwegische Arzt Dr. Morten Rostrup ist derzeit für Ärzte ohne Grenzen in Gaza im Einsatz. Er arbeitet im Al-Aqsa-Märtyrer-Krankenhaus in Deir el-Balah in Zentralgaza. Er schildert die Situation nach den israelischen Angriffen:
Als ich in die Notaufnahme kam, war die Lage verzweifelt. Dies ist zweifellos ein Angriff auf Zivilisten, mit so vielen Kindern verletzt und getötet. Sollen wir das wirklich einen Waffenstillstand nennen?
Aus einem Statement von Ärzte ohne Grenzen:
Wir haben immer wieder einen dauerhaften Waffenstillstand verlangt, um das überwältigende Ausmaß des Todes und der katastrophalen Verletzungen zu beenden, unter denen die Zivilisten leiden. Bisher sind wir Zeugen der Konsequenzen der wiederholten Brüche des Waffenstillstandes, die eine Fortsetzung des Genozids in Gaza darstellen.
Dies war der bisher blutigste Bruch des seit 10. Oktober geltenden „Waffenstillstandes“ durch Israel, aber beileibe nicht der erste. Bis zum 28. Oktober hatte Gazas Medienbüro 125 israelische Angriff seit dem 10. Oktober registriert. Dabei wurden 94 PalästinenserInnen ermordet.
Präsident Trump, der den Waffenstillstand ausgehandelt hatte, und die Vermittler aus seinem Umfeld, haben keinen einzigen dieser Waffenstillstandsbrüche verurteilt. Sie behaupteten vielmehr, der Waffenstillstand würde halten.
Zeitgleich beschuldigte die israelische Regierung die Hamas, sich nicht an die Vereinbarungen zu halten. Ihr wurde vorgeworfen, sie würde absichtlich die Bergung der toten israelischen Gefangenen verzögern.
Viele Israelis glauben dieses Narrativ, insbesondere die Angehörigen der Toten. Doch es ist unwahrscheinlich, dass es der Wahrheit entspricht.
Fakt ist, dass unzählige Menschen in Gaza unter Bergen von Schutt begraben liegen. Es sind viele Tausende – die meisten von ihnen PalästinenserInnen, aber auch ein bis zwei Dutzend Israelis. Die Bergung gestaltet sich oft schwierig. In Gaza gibt es zu wenig schweres Gerät für diese Aufgabe. Außerdem ist es durchaus plausibel, dass die Hamas in einigen Fällen nicht genau weiß, wo sich die Leichen der israelischen Gefangenen befinden. Während des Krieges hatten Sprecher der Hamas wiederholt erklärt, dass sie nach israelischen Luftangriffen den Kontakt zu Wächtern verloren hätten und daher nicht mehr genau wüssten, wo sich die Gefangenen befinden. Sie hatten davor gewarnt, dass die israelischen Angriffe das Leben der Geiseln gefährden und dass es schwierig werden könnte, die Toten zu finden. Dennoch hat die Hamas seit Beginn des Waffenstillstands fast täglich Leichen an Israel übergeben und immer erklärt, man sei der Einhaltung des Abkommens verpflichtet. Es gibt keinen vernünftigen Grund, dies anzuzweifeln.
Aber selbst wenn die Beschuldigungen stimmen würden: Das wäre keine Rechtfertigung dafür, wahllos Zivilisten zu ermorden – erst recht nicht während eines Waffenstillstandes. Es wäre auch keine Rechtfertigung dafür, immer noch weiter Wohngebäude und andere zivile Infrastruktur zu zerstören, humanitäre Hilfe zu behindern oder schwerkranken Menschen die Ausreise zu verweigern. All das tut Israel seit Beginn des „Waffenstillstandes“, und all das sind Brüche der Vereinbarung.
Der Hamas wurde überdies vorgeworfen, eine der von ihr übergebenen Leichen wäre nicht die Person gewesen, als die die Hamas sie identifiziert hatte. Das wurde ihr als böse Absicht ausgelegt. Sehr viel wahrscheinlicher ist freilich, dass es ein Versehen war. Aber selbst wenn es stimmen würde: Das würde nicht einmal die Ermordung der für den Betrug Verantwortlichen rechtfertigen, geschweige denn die Ermordung von unbeteiligten ZivilistInnen.
Drittens warf der gesuchte Kriegsverbrecher Netanjahu der Hamas vor, bei Gefechten im Süden Gazas einen Soldaten getötet zu haben. Tatsächlich waren am 28. Oktober Gewehrschüsse und Explosionen aus Rafah und Khan Younis zu vernehmen. Auch Tage früher hatte es offenbar dort Gefechte gegeben. Die Hamas bestritt beide Male vehement, etwas damit zu tun zu haben. Ein Sprecher erklärte, man habe keinen Kontakt mehr zu Kämpfern in diesem Gebiet, welches unter der Kontrolle der israelischen Armee steht.
Es ist also völlig unklar, was wirklich geschehen ist, und ob die Hamas-Führung dafür eine Verantwortung trägt. Ich halte das für unwahrscheinlich, weil es keinen Sinn ergeben würde. Warum sollte sich die Hamas auf einen für sie so schmerzhaften Waffenstillstand einlassen, ihr wichtigstes Druckmittel (die Geiseln) aufgeben und dann so vollkommen unnötig den teuer erkauften Waffenstillstand gefährden? Das passt nicht.
Aber selbst wenn auch diese Beschuldigung Netanjahus der Wahrheit entsprechen würde: Auch der tote israelische Soldat rechtfertigt nicht die Ermordung von 100 ZivilistInnen.
In Israel wird das anders gesehen: Nicht nur die Opposition im israelischen Parlament, sondern auch die israelische Öffentlichkeit unterstützt Israels Angriffe auf Gaza, trotz des „Waffenstillstandes“. Besonders tun sich dabei die Angehörigen der israelischen Geiseln hervor. Eine große Organisation von Geisel-Angehörigen warf der Hamas nicht nur Verzögerung, sondern auch „Totenschändung“ vor und forderte als Konsequenz von der israelischen Regierung ein hartes Vorgehen in Gaza. Netanjahu kann mit einigem Recht behaupten, dass er nur den Willen seines Volkes ausführt.
Die Reaktionen der restlichen Welt:
US-Präsident Trump, der Anspruch auf den Friedensnobelpreis erhebt, stärkte Israel nach den Angriffen den Rücken: Die Hamas habe einen israelischen Soldaten getötet, und daher sei es in Ordnung, wenn Israel „zurückschlage“. Die Hamas solle „sich benehmen“. Den „Waffenstillstand“ sieht er nach wie vor nicht in Gefahr.
UNO-Generalsekretär Antonio Guterres verurteilte die Angriffe. UN-Menschenrechtler Volker Turk bezeichnete sie als „entsetzlich“. Katars Premierminister Al Thani sagte, sie seien „frustrierend und enttäuschend“.
Für die Bewohner Gazas brachten diese Angriffe nicht nur neue Verluste und neues Leid. Sie zerstörten auch viele Hoffnungen auf eine Zukunft in Gaza, in der die Menschen zumindest nicht in ständiger Angst vor israelischen Angriffen leben müssen. Tarek Abu Azzoum schreibt aus Gaza:
Die Palästinenser glauben, dass Israel „eine neue Realität“ schaffen könnte, in der es immer wieder einmal Luftschläge ausübt und so ein neues Kapitel der Gewalt aufschlägt, von der die Leute hier am Boden sich so sehr wünschen, dass sie endet.
Mit anderen Worten: So lange die USA es nicht zulassen, den Vernichtungskrieg mit Volldampf fortzuführen, wird der Genozid eben mit angezogener Handbremse fortgesetzt. Manche Kommentatoren meinen, Israel versuche auszutesten, wie viel Gewalt von Trump akzeptiert werde.
Mahmoud Basal, Sprecher des palästinensischen Zivilschutzes in Gaza, kommentierte: „Was in Gaza heute geschieht, ist eine Schande für die Menschheit und es zeigt die Verstrickung der internationalen Gemeinschaft durch ihr Schweigen während dieser Verletzungen [des Waffenstillstandes].“
Ungleich bis in den Tod
Mit Recht fordern die Angehörigen der israelischen Geiseln ihre Toten zurück, um in Würde von ihnen Abschied nehmen zu können. Mit Recht erwarten sie einen respektvollen Umgang mit ihren Toten. Doch dasselbe Recht haben auch die Menschen auf der anderen Seite des Zauns.
Ich möchte den Blick auf diese andere Seite richten: In Gaza werden Tausende Menschen vermisst. Unzählige Menschen in Gaza wissen nicht, ob der Ehemann, Bruder oder Sohn irgendwo in Gaza unter Trümmern begraben ist, oder ob er in einem israelischen Gefängnis schmort, oder ob seine Leiche irgendwo in Israel liegt. Die israelische Armee verschleppte Tausende Einwohner Gazas (hauptsächlich Männer) nach Israel. Von manchen ist bekannt, dass sie inhaftiert wurden. Manche hat man inhaftiert, ohne irgendjemanden darüber zu informieren. Andere wurden ermordet. In vielen Fällen wurden die Angehörigen bis heute nicht informiert.
Man stelle sich die Qual der Ungewissheit vor.
Im Zuge des „Waffenstillstands“ lieferte Israel Leichen von palästinensischen Gefangenen nach Gaza. Ungefähr 200 sind es bisher. Viele wiesen Spuren von Folterungen und/oder Hinrichtungen auf. Zum Teil waren ihre Hände auf den Rücken gefesselt.
Die palästinensischen Toten aus Israel kamen namenlos, nur mit Nummern versehen. Das bedeutet, dass die Behörden in Gaza keine Listen erstellen können, damit sich betroffene Angehörige Gewissheit verschaffen und in Würde Abschied nehmen können.
Daher fertigten die Behörden Fotos an – Fotos der Toten und auch Fotos von Kleidungsstücken. Die Angehörigen können diese Bilder durchsehen, in der Hoffnung, jemanden identifizieren zu können. Aber aufgrund des fortgeschrittenen Verwesungszustandes sind vielfach die Gesichtszüge nicht mehr erkennbar.
Man stelle sich das vor: Ein großes Zelt voller verzweifelter Menschen, die sich Projektionen von Fotos übel zugerichteter Toter anschauen, in der Hoffnung, irgendein Detail oder die Reste eines Kleidungsstücks wiederzuerkennen. Meistens kommen sie vergeblich.
Mit modernen forensischen Methoden könnte man vermutlich viele Leichen identifizieren. Aber in Gaza gibt es dafür weder die Ausstattung noch die erforderlichen Spezialisten. Keines von beiden darf ins Land – weil Israel es nicht erlaubt.
Viele palästinensische Tote konnten bisher nicht identifiziert werden und wurden in anonymen Massengräbern bestattet. Das Totengebet sprechen für diese die Mitarbeiter des Zivilschutzes, die die Beerdigungen durchführen. Die Angehörigen – sofern sie selbst noch am Leben sind – können sich nicht verabschieden. Sie müssen mit der Qual der Ungewissheit weiterleben – vielleicht bis an ihr Lebensende.
Die tausenden palästinensischen Toten, die noch unter Gazas Trümmern liegen – ist ihre Bergung nicht ebenso dringlich wie die der israelischen Toten? Die Verwaltung Gazas bittet immer wieder um das notwendige schwere Gerät. Es wird von Israel verweigert.
Noch einmal Mahmoud Basal, Sprecher des Zivilschutzes in Gaza:
„Es bricht uns das Herz, dass einige Agenturen und Organisationen die nötige Ausrüstung und die Bulldozer herbeigeschafft haben, nur um nach den Leichen der israelischen Geiseln zu suchen, während keine Ausrüstung verfügbar ist für die 10.000 Leichen palästinensischer Bürger, die noch aus den Trümmern geborgen werden müssen.
Das zeigt einen doppelten Standard, der in keiner Weise den Grundsätzen der Menschlichkeit entspricht. Echte Menschlichkeit erfordert, dass palästinensische Leichen und israelische Leichen dieselbe Fürsorge erfahren.“
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Quellen:
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/10/28/live-israeli-attack-kills-2-in-gaza-as-hamas-returns-body-of-captive (12.30, 16.30, 16.41, 16.45, 16.56, 17.50, 18.04)
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/10/29/live-israel-kills-63-in-gaza-trump-insists-nothing-will-jeopardise-truce (14.55, 15.15, 16.30, 16.45, 17.00, 17.30)
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/10/27/live-unexploded-bombs-threaten-lives-in-gaza-search-for-bodies-continues (12.15, 15.30, 16.30)
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