Die unerhörte Predigt

Am 31. Oktober begehen die evangelischen Christen in Deutschland und Österreich den „Reformationstag“, einen hohen kirchlichen Feiertag. An diesem Tag wird der Beginn der Reformation durch Martin Luther im Jahr 1517 gefeiert. Der Überlieferung nach nagelte der Mönch und Theologieprofessor Luther am 31. Oktober 1517 ein Papier mit 95 kirchenkritischen Thesen an das Tor der Schlosskirche zu Wittenberg. Das war, wie wir heute sagen würden, ein offener Brief. Er hatte das getan, nachdem er zuvor einige ganz gewöhnliche Briefe an die Kirchenoberen geschickt hatte, die nie beantwortet wurden. Sie blieben gewissermaßen „unerhört“. Luther, selbst ein Mann der Kirche, wollte eine Diskussion über die Reform der Kirche anstoßen. Am Ende wurde aus der Reform eine Kirchenspaltung.

Mehr als 500 Jahre später, am 31. Oktober 2025, forderte ein Mann der reformierten Kirche eine neue Reformation, eine Reformation, die weit über den engen Kreis des Kirchlichen hinausreichen sollte. Dieser Mann war der palästinensische evangelische Bischof Sani Ibrahim Azar. Er hielt eine Messe in der Erlöserkirche im besetzten Ostjerusalem, wo palästinensische Christen ebenso wie Muslime unter dem Terror der israelischen Besatzung leiden. Die Lage ist so dramatisch, dass manche Experten die christliche Gemeinde in den besetzen Gebieten als in ihrer Existenz bedroht ansehen. Bischof Azar hielt seine Predigt auf arabisch, die Muttersprache seiner Gemeindemitglieder. Doch hatte er den Text ins Deutsche und ins Englische übersetzt, und die Übersetzungen für ausländische Gäste verteilen lassen.

An diesem Tag befand sich eine deutsche Delegation unter den Besuchern der Messe, genauer: eine Delegation des Landtags von Nordrhein-Westfalen, darunter die Antisemitismusbeauftragte von NRW, die Grüne Sylvia Löhrmann. Begleitet wurden sie vom stellvertretenden Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Abraham Lehrer. Jener Abraham Lehrer erhob sich mitten in der Predigt und verließ die Kirche – aus Protest gegen den Inhalt von Azars Predigt, die ihm in deutscher Übersetzung vorlag.

Was hatte den Juden aus Deutschland so in Rage gebracht, dass er sich zu einer solchen Respektlosigkeit hinreißen ließ? – Hier ist die wesentliche Passage aus Bischof Azars Predigt:

»Wie sieht Reformation nach zwei Jahren Völkermord aus? Wie sieht Reformation aus, wenn Kinder von Schulen ferngehalten werden? Wenn Menschen zu Unrecht inhaftiert sind? Wenn Familien immer noch unter Trümmern nach ihren Angehörigen suchen? Wenn die internationale Gemeinschaft das Leiden der Palästinenser ignoriert, ist das ein Aufruf zur Reformation. Wenn die vorherrschende Darstellung in den Medien die Palästinenser entmenschlicht und die Existenz palästinensischer Christen ignoriert, ist das ein Aufruf zur Reformation. Es reicht nicht aus, stillzustehen oder den Status quo aufrechtzuerhalten. Jetzt stehen wir vor der
Notwendigkeit einer Reformation in unserer gesamten Gesellschaft, Nation
und Welt.«

Später erklärte Lehrer, es habe sich an der Verwendung des Wortes „Völkermord“ gestoßen. Diese „Einseitigkeit der Sichtweise“ ohne Erwähnung des Überfalls der Hamas vom 7. Oktober 2023 sei er „nicht bereit zu akzeptieren und es ist für mich nicht tragbar“.

Zwei Kommentare dazu. Erstens: Es herrscht auf der ganzen Welt weitgehend Einigkeit darüber, dass das, was in Gaza seit Oktober 2023 geschieht, ein Völkermord ist. Der Begriff des Völkermordes ist im internationalen Recht definiert. Die große Mehrheit der einschlägigen Gelehrten, sowie eine Reihe von wichtigen Institutionen, sind sich darüber einig, dass Israels Vorgehen in Gaza die Kriterien eines Völkermords erfüllt. Die Fakten liegen auf dem Tisch. Die genozidale Absicht wurde von israelischen Politikern wieder und wieder mit erschütternder Klarheit zum Ausdruck gebracht. Die Taten „auf dem Boden“ waren konsequente Umsetzungen dieser Absicht.

Zweitens: Warum eigentlich darf man niemals die von Israel seit 2023 begangenen Verbrechen und das Leid der Palästinenser ansprechen, ohne den Überfall der Hamas am 7. Oktober zu erwähnen? Weil die historische Einordnung wichtig ist? Aber wäre dann nicht auch die historische Einordnung des Überfalls der Hamas wichtig? Die Geschichte des palästinensischen Leidens von 1947 bis heute? Die Geschichte des Unrechts, das dem palästinensischen Volk widerfahren ist und bis heute widerfährt? Die Geschichte der israelischen Gewalt gegen palästinensische Männer, Frauen und Kinder? Oder wäre eine solche historische Einordnung „Relativierung des Terrors“? Aber wäre dann der von Lehrer geforderte Hinweis auf den Überfall der Hamas im Rahmen von Azars Predigt nicht eine Relativierung des Genozids?

Nach Lehrers Abgang aus der Kirche boykottierte die gesamte deutsche Delegation einen Empfang beim Bischof. Doch damit nicht genug der Peinlichkeit: Die Affäre sollte in Deutschland noch weitere Kreise ziehen.

Am Tag nach dem Affront in der Jerusalemer Kirche distanzierte sich die Landesregierung von NRW von den „einseitigen“ Aussagen des Bischofs. Die Grüne Antisemitismusbeauftragte Sylvia Löhrmann sprach von einem antisemitischen Muster der Täter-Opfer-Umkehr“, das sie bei Azar zu erkennen glaubte.

Diese Bemerkung veranlasste mich zu einem Brief an Sylvia Löhrmann. Ich gebe diesen Brief hier auszugsweise wieder:

„Lernen Sie Geschichte“ – das ist ein Zitat des letzten großen österreichischen Politikers, Bruno Kreisky: Langzeit-Bundeskanzler, Sozialdemokrat, Jude und ein großer Freund der Palästinenser. 

Wer Geschichte gelernt hat, weiß: 

Am 7. Oktober waren die Israelis Opfer palästinensischen Terrors. Aber in den Jahrzehnten davor, seit 1947, und in den mehr als zwei Jahren, die seither vergangen sind, waren und sind die Palästinenser Opfer kolonialistischer und rassistischer Gewalt und Unterdrückung durch Israel. 

Zehntausende PalästinenserInnen haben dadurch ihr Leben verloren, Hunderttausende wurden und werden vertrieben enteignet, verstümmelt, unrechtmäßig inhaftiert und gefoltert. 

Israel wurde auf den Ruinen palästinensischer Dörfer und Städte errichtet – und teilweise auf den Leichen palästinensischer Menschen, die 1947–48 von israelischen Terrormilizen massakriert und irgendwo verscharrt wurden. 

Israel ist aus zionistischem Terror entstanden, und die Nakba (arabisch für „Katastrophe“) hat für die PalästinenserInnen niemals aufgehört – bis heute nicht. 

Unlängst las ich einen Artikel aus der israelischen Haaretz über einen neunjährigen palästinensischen Jungen aus einem Dorf im Westjordanland. Er wurde auf offener Straße von einem israelischen Soldaten erschossen. Der Junge stand bloß da, ca. 200 Meter von den Soldaten entfernt. Er hatte nicht einmal einen Stein in der Hand. 

Der Täter wird nicht zur Verantwortung gezogen werden.

Das ist Alltag im Westjordanland. 

Ist in Ihren Augen der ermordete neunjährige Junge der Täter, und der Soldat, der ihn erschossen hat, ist das Opfer? 

War die sechsjährige Hind Rajab Täterin, und sind die Soldaten, die das Auto ihrer Familie mit 300 Schüssen durchlöcherten, die Opfer? 

War der Zivilist, der in Sde Teiman von einer Gruppe israelischer Soldaten vergewaltigt wurde, Täter, und die Vergewaltiger sind die Opfer?

Ich könnte inzwischen ein dickes Buch füllen nur mit der Schilderung der Verbrechen israelischer Soldaten, Siedler und Politiker während der vergangenen zwei Jahre: in Gaza, in israelischen Gefängnissen, im Westjordanland, in Ostjerusalem. 

Dabei ist das, was ich weiß, mit Sicherheit nur die Spitze des Eisberges.

Ich bin viele Jahrzehnte lang eine treue Grün-Wählerin gewesen. 

Aber eine Partei, deren PolitikerInnen einen vor ihren Augen ablaufenden Völkermord nicht nur leugnen, sondern aktiv unterstützen, wird für mich niemals wählbar sein. 

Diesen Brief habe ich am 4. November elektronisch abgeschickt. Eine Antwort habe ich bisher nicht bekommen.

Nun, Politiker sind das eine, Kirche ist das andere, sollte man meinen. Hat wenigstens die evangelische Landeskirche ihrem bedrängten palästinensischen Bruder im Glauben, Sani Azar, den Rücken gestärkt? – Nein, ganz im Gegenteil. Auf der Webseite der evangelischen Kirche von Westfalen ist zu lesen:

„Die Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Adelheid Ruck-Schröder, sprach von einem „Skandal am Reformationstag“ und wandte sich an Lehrer mit den Worten: „Ich möchte mich stellvertretend entschuldigen dafür, dass Sie in diese Situation gekommen sind.“

Bischof Azars Predigt war also für unterschiedliche Personen auf jeweils unterschiedliche Weise „unerhört“. In den Ohren der deutschen Delegation war sie „unerhört“ im Sinne von „empörend, schändlich, unverschämt“. In meinen Ohren war sie eher „unerhört“ im Sinne von „nie dagewesen“ , „einmalig in ihrer Besonderheit“. Auf jeden Fall aber war sie „unerhört“ im Sinne von „nicht erhört“ durch die Leitung der evangelischen Landeskirche von Westfalen. Diese ist offenbar weit entfernt von einer Bereitschaft zu jener „Reformation“, die Bischof Azar – mit Recht – für notwendig hält.

Die palästinensischen Christen reagierten am 4. November mit einem offenen Brief (unten zur Gänze als Download bereitgestellt). Hier Auszüge daraus:

Wenn westliche Regierungen und ihre Verbündeten das Verbrechen [des Genozids] begehen, dann tadeln sie diejenigen, die es beim Namen nennen. Das ist moralischer Verfall. Das ist nicht nur Heuchelei; es ist Rassismus, eine Leugnung unserer gleichwertigen Menschlichkeit, als ob Menschenrechte und moralische Empörung nur den anderen gehören, niemals den PalästinenserInnen.

[…]

Gerade Deutschland sollte wissen, dass Schweigen im Angesicht der Auslöschung nichts anderes ist als Komplizenschaft. Doch heute, während Zehntausende PalästinenserInnen vernichtet werden, verfolgt Deutschland diejenigen, die dagegen protestieren, verbannt Kunstwerke, zensuriert Journalisten und verleumdet Stimmen, die Gerechtigkeit fordern. Das ist nicht Reue über vergangene Verbrechen; es ist Wiederholung durch Mittäterschaft. Wenn eine Nation, die einst einen Genozid begangen hat, einen anderen finanziert und diejenigen unterdrückt, die dagegen aufschreien, verliert sie ihre moralische Autorität. Wenn eine Kirche, die die Reformation feiert, nicht gegen Unrecht protestiert, sondern gegen eine Predigt, dann verrät sie ihren eigenen Glauben.

Doch offenbar gibt es auch in der evangelischen Kirche Deutschlands eine gewisse Spaltung zwischen der Leitung und der Basis. Ruck-Schröders Statement veranlasste die Religionswissenschaftlerin und Journalistin Katja Dorothea Buck und den Pfarrer Andreas Maurer einen offenen Brief an die EKD zu verfassen. Da zumindest das Kommunikationswesen in den vergangenen 500 Jahren gewisse Fortschritte gemacht hat, mussten sie diesen nicht mehr an ein Kirchenportal nageln, sondern konnten eine Entwurf-Fassung im Vorfeld verbreiten, Feedback einholen und Unterschriften sammeln.

Binnen 48 Stunden haben sich 580 (!) UnterstützerInnen/Unterzeichnete gefunden, darunter fast 20 Prozent aus dem Pfarrdienst. Die Endfassung des Briefes wurde am 6. November an die Führungsriege der EKD (Evangelische Kirche Deutschlands) geschickt. Der Brief ist unten zum Download bereitgestellt. Hier sind Auszüge daraus:


Als evangelische Christinnen und Christen in Deutschland und Menschen, die der Evangelischen Kirche nahestehen, halten wir die Vorwürfe gegenüber Bischof Azar für problematisch und nicht haltbar. […]

Wir kritisieren jene Kirchenleitenden in der EKD, die sich das Recht herausnehmen, den Sprachgebrauch eines palästinensischen, kirchenleitenden Christen, der direkt vom Nahostkonflikt betroffen ist, zu verurteilen. […]

Wir kritisieren all diejenigen im Raum der evangelischen Kirchen in Deutschland, die mit ihrer einseitigen Haltung im Nahostkonflikt die über Jahrzehnte gewachsenen ökumenischen Beziehungen zwischen evangelischen Christen in Deutschland und Palästina aufs Spiel setzen. Als evangelische Christen, die wir uns unserer historischen Verantwortung nach dem Holocaust bewusst sind, stehen wir hinter allen Bemühungen, an das Leid der israelischen Hamas-Opfer und ihrer Angehörigen zu erinnern. Wer dabei aber das Leid der Palästinenser relativiert oder gar ausblendet, trägt weder zum Frieden noch zur Versöhnung zwischen den beiden Völkern bei und fördert die Polarisierung in unserer Gesellschaft in Deutschland.

So ist Bischof Sani Azars Appell zur Reformation doch nicht völlig „unerhört“ geblieben, sondern hat offene Ohren und Herzen gefunden. Vielleicht ist es ihm gelungen, in der deutschen evangelischen Kirche einen Diskussionsprozess auszulösen.

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Passend zum Thema noch die Ankündigung eines Buchs, das in den kommenden Tagen erscheinen soll:

Johannes Zang: „Und am Kontrollpunkt wartet die Erniedrigung“. 33 Christen aus Palästina reden Klartext.

https://www.hamppverlag.com/und-am-kontrollpunkt-wartet-die-erniedrigung/

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Quellen:

https://www.evangelisch-in-westfalen.de/aktuelles/detailansicht/news/palaestinensischer-bischof-spricht-in-predigt-von-genozid/

https://www.jungewelt.de/loginFailed.php?ref=/artikel/511907.brief-aus-jerusalem-nicht-der-v%C3%B6lkermord-ist-das-problem.html

https://aje.io/r887iz?update=4075631

https://www.kathpress.at/goto/meldung/2526071/nach-eklat-um-genozid-predigt-vorwuerfe-an-kirchen-in-deutschland

E-Mail von Katja Buck vom 7. November 2025.


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