Für Gaza gilt offiziell seit 10. Oktober ein „Waffenstillstand“. Diesem hatte Israel auf Druck der US-Regierung zugestimmt. Die israelische Armee hatte sich daraufhin in die östliche Hälfte des Gazastreifens zurückgezogen, hinter eine imaginäre „Gelbe Linie“. Doch fast täglich töteten und verwundeten israelische Soldaten PalästinenserInnen jenseits dieser „Gelben Linie“.
Vor wenigen Tagen, am 17. November, beschloss der UN-Sicherheitsrat (UNSC) die Annahme des sogenannten „Trump-Plans“. Die wichtigsten Punkte dieses Plans sind diese:
- Die Stationierung internationaler Truppen in Gaza, eine sog. „international stabilisation force“ (ISF): Deren Aufgabe soll darin bestehen, die Einhaltung des Waffenstillstands zu überwachen, die Grenzen zu sichern und den Gazastreifen zu „demilitarisieren“, also die palästinensischen Widerstandsgruppen zu entwaffnen. Die ISF soll mit Israel (!) und Ägypten zusammenarbeiten.
- Die ISF soll außerdem mit einer „neu ausgebildeten und überprüften“ palästinensischen Polizei zusammenarbeiten.
- Gaza soll eine Übergangsregierung erhalten, ein sog. „Board of Peace“, unter der Leitung von US-Präsident Trump. Deren Mandat soll bis Ende 2027 gehen.
- Gaza soll von „unpolitischen“ Palästinensern verwaltet werden, unter der Kontrolle des „Board of Peace“.
Welche Länder Soldaten für die ISF beisteuern sollen, ist bislang völlig unklar und wird auch in der Resolution nicht festgelegt. Die Türkei hatte angeboten, Soldaten zu entsenden. Israel hatte daraufhin umgehend erklärt, man werde keinen türkischen Soldaten auf dem Boden Gazas dulden, da die Türkei gegenüber Israel „nicht neutral“ sei. Nach fast zwei Jahren Genozid könnte es schwierig werden, entsendungswillige Länder zu finden, die gegenüber Israel „neutral“ sind.
Auf Druck der arabischen Länder, deren Unterstützung Trump nicht verlieren will, wurde auch ein Passus zum Selbstbestimmungsrecht der Palästinsenser in die Resolution aufgenommen. Dieser lautet wörtlich (in Übersetzung von mir):
„Nachdem die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) ihr Reformprogramm gewissenhaft umgesetzt hat und Gazas Neuentwicklung vorangeschritten ist, könnten schließlich die Bedingungen erfüllt sein für einen glaubwürdigen Weg zu palästinensischer Selbstbestimmung und Eigenstaatlichkeit. Die Vereinigten Staaten werden einen Dialog zwischen Israel und Palästinensern auf den Weg bringen zur Verständigung auf einen politischen Horizont für eine Koexistenz in Frieden und Wohlstand.“
Der Volltext der Resolution in englischer Sprache kann heruntergeladen werden: Resolution 2803, (2025).
Die zuletzt zitierte Passage ist ein Schlag ins Gesicht des palästinensischen Volkes. Denn das palästinensische Volk hat ein Recht auf Selbstbestimmung und Eigenstaatlichkeit. Die Gründung eines palästinensischen Staates wurde von der UNO 1948 beschlossen, und die Palästinenser haben ihren Anspruch darauf nie aufgegeben. Im Gegenteil: Sie kämpfen dafür seit 1948 ohne Unterlass, trotz brutalster Unterdrückung durch die Besatzungsmacht Israel.
Am 15. November 1988 wurde der Staat Palästina offiziell begründet. Inzwischen haben 157 von 193 in der UNO vertretenen Staaten den Staat Palästina offiziell anerkannt, darunter vier der fünf Vetomächte im UN-Sicherheitsrat, nämlich China, Russland, Großbritannien und Frankreich.
Gaza, das Westjordanland und Ostjerusalem gehören zum Staatsgebiet des Staates Palästina. Deren Besatzung durch Israel stellt eine Verletzung des Völkerrechts dar. Dies geht auch aus einem Urteil des Internationalen Gerichtshofs vom 19. Juli 2024 hervor. Auf der Grundlage dieses Urteils forderte die UN-Generalversammlung im September 2024 den Rückzug der israelischen Armee aus allen besetzten Gebieten innerhalb eines Jahres. Dies ist freilich nicht geschehen.
Völkerrechtlich ist die Sache also völlig klar: Die israelische Armee muss sich aus Gaza vollständig zurückziehen, und zwar sofort und bedingungslos. Die Palästinenser haben ein Recht darauf, ihren Staat selbst zu regieren. Sie haben auch ein Recht darauf, ihre Souveränität mit Hilfe eigener bewaffneter Kräfte zu verteidigen; und solange ihr Land besetzt ist, haben sie ein Recht auf bewaffneten Widerstand gegen die Besatzungsarmee.
Die neue UNSC-Resolution spricht ihnen alle diese Rechte ab. „Demilitarisierung“ bedeutet, dass die Palästinenser auf ihr Widerstandsrecht verzichten sollen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass sie das tun werden. Denn nach Lage der Dinge haben sie überhaupt keinen Grund, daran zu glauben, dass ihr Verzicht auf Waffen dem palästinensischen Volk ein Leben in Frieden und Freiheit bringen würde.
Dies ist ja auch in der neuen UNSC-Resolution gar nicht vorgesehen. Da werden noch weitere Bedingungen gestellt: Die Palästinensische Autonomiebehörde müsse sich „reformieren“. Warum eigentlich, und wie? Dazu wird nichts gesagt. Aber gesetzt den Fall, das sogenannte „Board of Peace“ käme irgendwann zu der Ansicht, die Autonomiebehörde wäre jetzt genug „reformiert“: Würden die Palästinenser dann mit der Anerkennung ihrer Eigenstaatlichkeit belohnt werden? Nein, nicht wenn es nach dieser Resolution geht. Man beachte, dass der entsprechende Passus im Konjunktiv formuliert ist: „Es könnten die Bedingungen erfüllt sein …“ Und falls die Bedingungen erfüllt sind, wird den Palästinensern generös das Recht eingeräumt, mit Israel zu verhandeln. Doch Israel hat wiederholt erklärt, man werde nie und nimmer einen palästinensischen Staat dulden.
Um es kurz auf den Punkt zu bringen: Die UNSC-Resolution 2803 stellt das Recht des Stärkeren über das Völkerrecht.
Der UN-Sicherheitsrat hat diese Resolution mit 13 Ja-Stimmen und ohne Veto angenommen. Russland und China haben sich enthalten, mit der Begründung, dass der Plan in vielen Punkten vage ist und keine Palästinenser daran beteiligt waren.
Israel begrüßte den Plan, weil er die vollständige „Demilitarisierung und Deradikalisierung“ des Gaza-Streifens vorsieht.
Die Palästinensische Autonomiebehörde äußert sich ebenfalls positiv, wenn auch aus anderen Gründen. Sie sehen in der Resolution eine „Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung und Eigenstaatlichkeit des palästinensischen Volkes“. – Das wäre schön, wenn es wirklich drinstehen würde.
Die Hamas lehnt die Resolution ab und kommentiert sie wie folgt:
„Dass die internationalen Truppen Aufgaben und Rollen innerhalb des Gazastreifens zugewiesen bekommen, einschließlich der Entwaffnung des Widerstandes, beraubt sie ihrer Neutralität. Sie werden dadurch zu einer Partei in dem Konflikt, zugunsten der [israelischen] Besatzungsmacht.“
Die große palästinensische Menschenrechtsorganisation Al-Haq, mit Sitz in Ramallah (Westjordanland) forderte die Mitglieder des UN-Sicherheitsrates schon im Vorfeld auf, diese Resolution nicht zu beschließen. Aus der Stellungnahme von Al-Haq:
„Damit der UN-Sicherheitsrat irgendeinen Beitrag zum Frieden leisten kann, muss er dafür sorgen, dass die Einhaltung des Völkerrechts im Vordergrund und im Zentrum aller Diskussionen und Analysen steht. Israels genozidales Verhalten liefert ein Beispiel für einen Staat, der außerhalb des Rechts und der Verantwortung operiert, da er fortgesetzt UN-Organe wie die UNRWA angreift und Anordnungen und Stellungnahmen des internationalen Gerichtshofs ignoriert. Der Versuch – als vermeintlichen politischen Kompromiss – internationales Recht zu umgehen, würde die UN zu einem Komplizen von Israels Verletzungen [des Völkerrechts] machen. Es würde einen fundamentalen Bruch der Versprechen der UN-Charta darstellen, und es würde nur zu weiterem und immer schlimmerem Blutvergießen führen.“ [Hervorhebung im Original.]
Keine einzige zivilgesellschaftliche palästinensische Organisation hat sich positiv zur UNSC-Resolution geäußert.
Trotz der Argumente von Al-Haq und anderen begrüßte UN-Chef Antonio Guterres die Resolution. Er lobte die Aussicht auf eine Zwei-Staaten-Lösung und betonte die Notwendigkeit humanitärer Hilfe für Gaza.
Stimmen aus den Straßen von Gaza, eingefangen von Al-Jazeera-Journalisten:
Moamen Abdul-Malek: „Ich lehnte diese Entscheidung völlig ab. Unser Volk […] ist in der Lage, sich selbst zu regieren. Wir brauchen keine Soldaten aus arabischen oder anderen Ländern. Wir sind das Volk dieses Landes, und wir werden dafür die Verantwortung tragen.“
Mohammed Hamdan: „[Dieser Plan] würde dem Widerstand seine Waffen wegnehmen, obwohl Widerstand ein legitimes Recht eines Volkes unter Besatzung ist.“
Sanaa Mahmoud Kaheel: „Das könnte Trump dabei helfen, seinen Griff auf Gaza zu verstärken und auf die Verwirklichung seiner „Riviera“ hinzuarbeiten, wie er ja selbst sagte. Nichts ist garantiert.“
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Zwei Tage nach dem Beschluss des UN-Sicherheitsrates kommentierte Israel die Resolution auf seine Weise: nämlich mit einer massiven Welle von Luftangriffen auf Gaza-Stadt und Khan Younis. Viele dieser Angriffe richteten sich auf Notunterkünfte. Es starben mindestens 32 Menschen infolge dieser Angriffe, davon 17 Frauen und Kinder. Mindestens 77 wurden verwundet.Im Zeitoun-Viertel in Gaza-Stadt löschte ein israelischer Angriff eine ganze Familie aus: drei Kinder und beide Eltern.
Hani Mahmoud berichtete aus Gaza-Stadt:
„Plötzlich waren Explosionen zu hören, die Präsenz von Drohnen am Himmel, Kampfjets im zentralen und östlichen Teil des Gazastreifens. Das waren alles Anzeichen für eine militärische Kampagne.
[…] Wir wissen nicht wirklich, was geschieht, es ist nicht klar, ob das der Beginn einer größeren Militäroperation im Gazastreifen ist.
Die Orte, die angegriffen wurden … hatten sich kürzlich mit vertriebenen Familien gefüllt.
Diese Angriffe erfolgten alle außerhalb des Gebiets das unter Israels militärischer Kontrolle ist und drangen tiefer in den Gazastreifen ein.
Die Auswirkung ist unmittelbar, sie ist sehr ernst. Die Angriffe verursachen Panik und Angst überall im Gazastreifen.“
Einen Tag später, am 20. November, drangen israelische Panzer über die „Gelbe Linie“ ca. 300 Meter tief in jenes Territorium ein, aus dem sie sich auf der Basis des Trump-Plans Mitte Oktober zurückgezogen hatten.
Die Armee feuerte aus Panzern und ließ mit Sprengstoff gefüllte Fahrzeuge detonieren. Menschen flohen unter Beschuss aus ihren Notunterkünften. Ein Mann berichtet, ein Geschoß-Splitter sei in das Zelt seiner Familie eingedrungen.
Die israelische Armee versucht nun offenbar, den von ihr offiziell kontrollierten Teil Gazas (ohnehin mehr als 50 Prozent) noch zu vergrößern, also die Waffenstillstandslinie zu ihren Gunsten zu verschieben. Entlang der „neuen gelben Linie“ wurden hier und da gelbe Blocks aufgestellt.
Dutzende Familien sind noch von der israelischen Armee eingekesselt. Ihr Schicksal ist unklar.
Die Angriffe auf andere Teile Gazas gehen unterdessen weiter.
Israel zeigt einmal mehr der internationalen Gemeinschaft den Stinkefinger. Wie es die UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese einmal treffend ausdrückte: „Ceasefire“ [Waffenstillstand] auf israelisch bedeutet: „you cease – we fire“ [du hörst auf – wir schießen].
Das gilt nicht nur in Gaza, sondern auch im Libanon. Offiziell gilt seit 27. November 2024 ein Waffenstillstand mit dem Libanon. In diesem Zeitraum tötete die israelische Armee 331 Menschen und verletzte mehr als 900.
Vergangen Dienstag (18. November) bombardierte die israelische Armee das palästinensische Flüchtlingslager Ein el-Halweh im Südlibanon. Die Bombe traf einen Sportplatz, auf dem Kinder spielten. Es starben mindestens 13 Menschen, vor allem Kinder. Ein el-Halweh ist das größte palästinensische Flüchtlingslager im Libanon. Mehr als 100.000 Menschen leben dort.
Gestern schossen israelische Soldaten zum wiederholten Mal auf im Libanon stationierte UN-„Blauhelme“. Deren Aufgabe ist es, die Einhaltung des Waffenstillstandes zu überwachen.
Israelische Soldaten terrorisieren außerdem Zivilisten in den besetzten Gebieten Syriens. Menschen werden von israelischen Soldaten nach Israel verschleppt und dort inhaftiert.
Währenddessen kommen neue Schreckensmeldungen aus dem Westjordanland.
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Die deutsche Bundesregierung will das Teil-Waffenembargo gegen Israel wieder aufheben. Sie begründet das mit dem „Waffenstillstand“ . Was für ein Hohn.
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Warum verlangt niemand, Israel zu „demilitarisieren und deradikalisieren“? Warum schlägt niemand vor, Israel von einem internationalen „Board of Peace“ kontrollieren zu lassen – so lange bis es keine Gefahr mehr für seine Nachbarländer darstellt? Warum fordert niemand, dass Israels politische Organe sich gewissenhaft reformieren müssen? Mit einem gründlich reformierten Israel, das glaubwürdig seinen Respekt vor dem internationalen Recht und seine Institutionen bekundet, würden die Nachbarländer sicherlich gerne über eine Koexistenz in Frieden und Wohlstand verhandeln.
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Quellen:
https://news.un.org/en/story/2025/11/1166391
https://docs.un.org/en/S/RES/2803(2025)
https://aje.io/aa6fkt?update=4107839
https://de.wikipedia.org/wiki/Internationale_Anerkennung_des_Staates_Pal%C3%A4stina
https://www.aljazeera.com/news/2025/11/18/what-is-the-international-stabilisation-force-for-gaza
https://aje.io/jmho2v?update=4114630
https://aje.io/jmho2v?update=4114580
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https://aje.io/jmho2v?update=4114630
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https://www.alhaq.org/advocacy/26831.html
https://aje.io/3rwmsa?update=4122110
https://aje.io/3rwmsaupdate=4122096
https://aje.io/l1nzcg?update=4117836
https://aje.io/l1nzcg?update=4117781
https://aje.io/3rwmsa?update=4121491
https://aje.io/4kr1y0?update=4113205
https://www.ipg-journal.de/regionen/naher-osten/artikel/leben-in-der-roten-zone-8691/
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