„Rettet die, die noch gefangen sind!“

„Ruft um Hilfe. Das Erste, was alle freigelassenen Geiseln aus Gaza sagen, wenn sie endlich aus den Gefängnissen der Demütigung und Folter befreit werden, ist: Rettet diejenigen, die noch gefangen sind; helft ihnen jetzt, bevor es zu spät ist.

Dr. Ali Tahrawi, Arzt im Al Aqsa Krankenhaus in Deir al Balah, 26. Oktober 2025

Auszüge aus einem Artikel von Gideon Levy aus der Haaretz vom 23. 10. 2025:

Israels Regierung ist stolz auf Sadismus, Misshandlung und Folter

Die britische Zeitung The Guardian berichtete diese Woche, dass mindestens 135 verstümmelte und zerstückelte Leichen nach Gaza zurückgebracht wurden. Neben jeder der verstümmelten Leichen wurden Notizen gefunden, aus denen hervorgeht, dass sie in Sde Teiman festgehalten worden waren. Auf vielen der Bilder war zu sehen, dass ihre Hände hinter dem Rücken gefesselt waren.
Nicht wenige wiesen Spuren von Folter auf, darunter Tod durch Strangulation, Überfahrenwerden durch einen Panzer und andere Methoden. Es ist unklar, wie viele von ihnen nach ihrer Verhaftung getötet wurden. Sde Teiman war eine Sammelstelle für Palästinenser, die an anderen Orten getötet worden
waren.

[…]


The Guardian sah nur einige der Leichen und bestätigte die Anzeichen von Misshandlung, sagte jedoch, dass sie aufgrund ihres Zustands nicht veröffentlicht werden könnten. Die Leiche des 34-jährigen Mahmoud Shabat wies Anzeichen dafür auf, dass er gehängt worden war. Seine Beine waren von einem Panzer zerquetscht worden, und seine Hände waren hinter seinem Rücken gefesselt. „Wo ist die Welt?“, fragte seine Mutter.

Die Situation der lebenden Palästinenser, die freigelassen wurden, ist nicht viel besser. Viele hatten nach ihrer Freilassung sogar Schwierigkeiten, auf den Beinen zu stehen, eine Tatsache, über die in den israelischen Medien kaum berichtet wurde.

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Die NGO Defense for Children International Palestine veröffentlichte einen erschütternden Bericht über Kinder in israelischen Haftanstalten, am Beispiel von drei Jugendlichen aus Gaza, 16 und 17 Jahre alt.

Sie waren alle drei beim Anstellen um Lebensmittelhilfe (in zwei Fällen bei der sogenannten „Gaza Humanitarian Foundation“) von israelischen Soldaten festgenommen, misshandelt und schließlich nach Israel verschleppt worden. Dort wurden sie für mehrere Monate inhaftiert. Sie kamen im Zuge des Gefangenenaustauschs frei.

Der 16jährige Faris Ibrahim Faris Abu Jabal war am 11. September 2025 gemeinsam mit seinem Vater und etwa 25 anderen auf der Suche nach Nahrungsmittelhilfe. Er wurde von israelischen Soldaten entführt. Ihm wurden die Hände gefesselt, und er musste sich hinknien. Er wurde verhört, und während des Verhörs heftig geschlagen. Er bekam einen Schlag auf die Stirn, der so hart war, dass er eine Platzwunde davontrug. Nach dem Verhör wurde er zusammen mit anderen Gefangenen in ein Loch geworfen. Dort wurden er und die anderen von israelischen Soldaten getreten. 

Am nächsten Tag wurde er mit anderen Gefangenen nach Israel verschleppt. Am Grenzübergang Karem Abu Salem mussten sie aussteigen und sich nackt ausziehen. Dann mussten sie weiße Overalls anziehen und sich eine Stunde lang mit dem Gesicht nach unten auf den Boden legen. Währenddessen wurden sie von israelischen Soldaten getreten und beschimpft. 

Danach wurde Faris in das berüchtigte israelische Folterlager Sde Teiman gebracht. Er verbrachte einige Tage in einer Zelle zusammen mit Erwachsenen. Danach wurde er in eine Zelle für Minderjährige verlegt. Er teilte diese Zelle mit sechs anderen. 

Danach wurde er einem weiteren brutalen Verhör unterzogen. Seine Hände und Füße wurden mit Handschellen an den Stuhl gefesselt. Immer dann, wenn er auf eine Frage mit „Ich weiß nicht“ antwortete, bekam er Schläge auf Kopf und Beine. 

Dieses Verhör dauerte mehrere Stunden. Währenddessen bekam er nichts zu essen und zu trinken und durfte auch nicht auf die Toilette. Mehrere Mal nässte er sich ein. Daraufhin wurde er jedes Mal beschimpft und noch härter geschlagen. 

Nach diesem Verhör wurde Faris in den sogenannten „Disco-Raum“ gebracht – ein Betonverlies mit extrem lauter Musik in hebräischer Sprache. Während seines Aufenthalts dort wurde er immer wieder geschlagen. Einmal wurde sein Kopf gegen die Wand geschleudert. 

Während der Haft erhielt er verdorbenes Essen. Es gab immer wieder Schläge. Einmal wurden ihm für eine volle Woche die Hände mit Handschellen gefesselt. 

Dieses Foto von Faris Abu Jabal wurde der NGO Defense for Children International Palestine von der Familie zur Verfügung gestellt.

Etwa eine Woche vor seiner Freilassung wurde ihm gesagt, seine Mutter und seine Schwestern seien von israelischen Soldaten vergewaltigt und ermordet worden. Zum Beweis wurde ihm ein Foto gezeigt, auf dem seine Mutter neben einem Soldaten zu sehen war. In seinem Zorn beschimpfte Faris den Soldaten. Zur Strafe dafür wurde er einer Folter unterzogen, für die Sde Teiman berüchtigt ist: Ihm wurden die Hände über dem Kopf mit Handschellen gefesselt. So musste er eine volle Woche von der Decke hängend aushalten, etwa einen Meter über dem Boden. Währenddessen wurde er immer wieder geschlagen.

Später sagten seine jugendlichen Mitgefangenen zu ihm, dass die Soldaten diese Vergewaltigungsgeschichten erfinden, um die Gefangenen einzuschüchtern, zu provozieren und ihren Willen zu brechen. 

Seit seiner Freilassung lebt Faris mit seiner Familie in einem Zelt in Gaza. Er kann nicht lange stehen. Er hat Angst davor, ein Krankenhaus aufzusuchen. Er leidet unter Albträumen und kann seine Blase oft nicht kontrollieren. 

Die Erzählungen von Mahmoud Hani Mohammad Al-Majayda und Mohammad Nael Khamis Al-Zoghb (beide 17 Jahre alt) ähneln dem Bericht von Faris. Sie waren alle im „Disco-Raum“. Sie berichten, dass sie dort nach einiger Zeit das Gefühl gehabt hätten, als würde ihr Kopf bersten. 

Es gibt noch einen anderen „Spezialraum“. In diesem ist die Klimaanlage maximal aufgedreht, so dass es dort sehr kalt ist. Die Häftlinge müssen dort nackt ausharren.

Die Jugendlichen berichten von Elektroschocks. Sie berichten, man habe sie gefesselt und Hunde auf sie losgelassen und Blendgranaten in die überfüllten Zellen geworfen. Sie berichten von extremer Hitze in den Zellen, von Ungeziefer, von juckenden Hautkrankheiten, der Verweigerung medizinischer Hilfe. Einer der drei berichtet, die Soldaten hätten versucht, ihn zur Kollaboration mit der Armee zu bewegen. Man habe ihm viel Geld und alle möglichen Annehmlichkeiten versprochen. Man habe ihm auch versprochen, dass er nach dem Ende des Krieges mitsamt seiner Familie in ein Land seiner Wahl ausreisen dürfe. Er lehnte ab und wurde erneut gefoltert. 

Die Erzählungen der drei Jugendlichen decken sich mit den Schilderungen erwachsener palästinensischer Gefangener, die die Haft in Sde Teiman oder anderen israelischen Haftanstalten überlebt haben. Sie decken sich auch mit den Aussagen von ehemaligen israelischen Mitarbeitern und den Berichten verschiedener NGO’s, unter anderem der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem.

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Mitte November tagte das UN-Komitee gegen Folter. 28 Vertreter Israels sagten vor 10 UN-Experten aus. Die Israelis wurden mit einer langen Liste von Foltervorwürfen gegen Palästinenser konfrontiert. Das meiste streiten sie ab, in manchen Fällen berufen sie sich auf ihr Recht auf „Selbstverteidigung“. 

Israel hat die UN-Konvention gegen Folter unterzeichnet. Es gibt aber in Israel kein Gesetz gegen Folter. 

Die Israelis wurden auch gefragt, ob sie die Vereinbarungen in der UN-Konvention, die sie ja unterzeichnet haben, in Gaza und der West Bank umsetzen. Die Antwort lautete „nein“. 

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Nicht alle Palästinenser überleben die Haft in israelischen Einrichtungen. Laut von der israelischen Armee und der israelischen Gefängnisbehörde herausgegeben Daten starben seit 7. Oktober 2023 98 Palästinenser in israelischer Haft. In vielen Fällen gibt es Hinweise auf Folter oder medizinische Vernachlässigung als Todesursache. Nach Angaben der israelischen Armee selbst waren nicht einmal ein Drittel der Verstorbenen bewaffnete Kämpfer. 

Die israelische NGO Physicians for Human Rights – Israel (PHRI) schätzt die Zahl von 98 als viel zu niedrig ein. Mutmaßlich befinden sich noch Hunderte Palästinenser in israelischer Haft, deren Aufenthaltsort nicht bekannt ist und zu denen niemand Zugang hat. 

Laut einer internen Datenbank der israelischen Armee sind 83 Prozent der in Gaza getöteten und 75 Prozent der inhaftierten Menschen keine Kämpfer, sondern Zivilisten. 

Die in israelischer Haft verstorbenen Palästinenser stammen zu mehr als zwei Dritteln aus Gaza und zu knapp einem Viertel aus der West Bank. Einige wenige hatten ihren ständigen Aufenthalt in Israel. Die meisten Häftlinge kamen in Sde Teiman zu Tode. Doch es gab auch in zahlreichen anderen israelischen Haftanstalten Todesfälle.

Die Familien werden oft über den Tod von Angehörigen nicht informiert. Oft wissen sie nicht einmal sicher, dass der Angehörige inhaftiert wurde. In einigen wenigen Fällen konnten die Familien der Toten eine Autopsie durchführen lassen. Gefunden wurde dabei, unter anderem: gebrochene Rippen, Blutergüsse, Verletzungen innerer Organe, extrem Unterernährung und unbehandelter Blutkrebs. In einem Fall starb ein Diabetiker, weil ihm Insulin vorenthalten wurde. 

Quellen:

https://www.dci-palestine.org/_the_prison_is_inside_me_three_released_palestinian_boys_abducted_tortured_by_israeli_forces_while_seeking_aid

https://www.derstandard.at/story/3000000296506/israels-militaerbasis-sde-teiman-hier-duerfen-wir-sie-so-richtig-verpruegeln

https://taz.de/Gefaengnis-Sde-Teiman/!6125087/

https://www.btselem.org/press_releases/20240805_welcome_to_hell

https://www.fr.de/politik/foltervorwuerfe-gegen-israels-armee-erschuettern-sde-teiman-94040543.html

https://www.972mag.com/98-palestinian-deaths-israeli-custody-prison-torture/

https://aje.io/tpvw2q?update=4102335

Aussendung 70/2025 von Dr. Martha Tonsern, Vertretung des Staates Palästina in Österreich, Slowenien und Kroatien, 28. 10. 2025

https://www.haaretz.com/opinion/2025-10-23/ty-article-opinion/.premium/israels-government-prides-itself-on-sadism-abuse-and-torture/0000019a-0cef-d2fc-a79a-9eff06f00000 [Deutsche Übersetzung mit DeepL, von Götz Schindler.]

https://www.aljazeera.com/video/newsfeed/2025/10/17/palestinian-bodies-returned-by-israel-show-sign-of-execution-torture#flips-6382883204112:0

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Israel will die Todesstrafe einführen – de facto ausschließlich für Palästinenser:

„Am Montag, dem 10. November, stimmte die Knesset mit 39 zu 16 Stimmen für ein Gesetz, das es Israel erlaubt, diejenigen hinzurichten, die es als ,Terroristen‘ verhaftet – vorausgesetzt, es handelt sich um Palästinenser und nicht um israelische Siedler, die seit vielen Monaten im Westjordanland eine eskalierende Terrorwelle verüben.

,Wer vorsätzlich oder fahrlässig den Tod eines israelischen Staatsbürgers verursacht, wenn er von Rassismus, Hass oder der Absicht, Israel zu schaden, motiviert ist, wird mit dem Tode bestraft‘, heißt es in dem Gesetzentwurf. Er schließt jegliche Überprüfung eines einmal verhängten Todesurteils aus.

Bei dieser Abstimmung handelte es sich um die erste Lesung des Gesetzesentwurfs, von denen gemäß der israelischen Parlamentsordnung drei vorgesehen sind.“

Es ist zu befürchten, dass dieses Gesetz ein Freibrief für die Ermordung palästinensischer Gefangener werden könnte. Die israelische Armee verhaftet sowohl in Gaza als auch in der West Bank massenhaft Palästinenser. Aus Sicht vieler Israelis stehen Menschen palästinensischer Abstammung generell unter Terrorverdacht.

Quelle: https://consortiumnews.com/2025/11/19/patrick-lawrence-the-post-9-11-method/

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Mehrheit der Deutschen lehnt die deutsche „Staatsräson“ ab

Zum Abschluss dieses düsteren Beitrags noch eine Nachricht, die Anlass zur Hoffnung gibt. Eine neue Studie über die Einstellungen und Meinungen der Deutschen zu Israel und zum Gaza-Krieg und zur deutschen Politik erbrachte, kurz zusammengefasst, folgende Ergebnisse:

  • […] 65 Prozent […] sind der Ansicht, dass die israelische Armee Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Gaza begehe. Es stimmen 59 Prozent zu, dass Israels militärisches Vorgehen als Völkermord an der palästinensischen Bevölkerung zu bewerten sei.
  • Nur zehn Prozent stehen uneingeschränkt hinter der Aussage, dass die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson sein sollte. Mehr als zwei Drittel sind der Meinung, dass sich die deutsche Außenpolitik vom Völkerrecht und den universellen Menschenrechten leiten lassen soll.
  • […] Es sprechen sich 68 Prozent dafür aus, dass die aktuelle Bundesregierung die israelische Regierung zu einem Ende der Blockade Gazas und einer permanenten Waffenruhe drängt. Nur 18 Prozent wünschen sich eine stärkere militärische Unterstützung Israels.
  • Es sind 61 Prozent der Befragten der Ansicht, dass Kritik an Israel von Antisemitismus zu trennen sei. […]

Quelle: https://www.giga-hamburg.de/de/publikationen/giga-focus/gaza-israel-und-deutschlands-aussenpolitik-ein-meinungsbild

Diese Studie ist von allerhöchster politischer Brisanz. Denn die deutsche Bundesregierung lässt sich in ihrer Politik gegenüber Israel nicht vom Völkerrecht und den universellen Menschenrechten leiten, sondern von der sogenannten „Staatsräson“. Mit diesem schwammigen Begriff ist im Wesentlichen gemeint, dass die Sicherheit Israels für die deutsche Außenpolitik oberste Priorität hat – auch wenn damit gegen das Völkerrecht und die universellen Menschenrechte verstoßen wird.