„Gaza wird überflutet werden; kein einziges Zelt wird stehen bleiben.“

„Das sind gute Nachrichten!“

„Was mich betrifft, so wird, so Gott will, kein einziger Bewohner und keine einzige Bewohnerin Gazas übrigbleiben. Gaza wird von vielen Dingen ‚gesäubert‘ werden.“

Gespräch zwischen Wetteransager und Nachrichtenmoderator im israelischen Sender Channel 14 über die zu erwartenden Auswirkungen des bevorstehenden Sturms auf Gaza, 9. Dezember 2025

Gestern schrieb ich in mein Palästina-Tagebuch: Der Wintersturm Byron tötete in den vergangenen 24 Stunden mindestens 14 Menschen in Gaza. Drei davon waren Kinder, die an Unterkühlung starben.“

Noch während ich diese Sätze niederschrieb, erkannte ich, wie falsch sie waren. Nicht der Sturm tötete die Menschen, sondern die israelische Blockade von Hilfslieferungen und die Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft. Starkregen mit 20 Liter pro Quadratmeter innerhalb einer Nacht, Windspitzen bis 50 km/h? Für meine zweite Heimatstadt, Aachen, nichts Ungewöhnliches. Ich liebe solches Wetter, genieße das Trommeln des Regens auf dem Dach. Andere ärgern sich darüber. Aber gestorben ist in Aachen wohl noch niemand daran. Selbst Obdachlose finden hier irgendwo einen geschützten Platz, bekommen nötigenfalls frische, trockene Kleidung und einen Teller Suppe.

Byron ist nicht die Ursache dieser Katastrophe. Die Ursache ist, dass fast alle Häuser in Gaza zerstört sind; dass die Menschen dicht gedrängt am Strand in desolaten, improvisierten Zelten leben müssen, die oft nicht einmal von einer ordentlichen Plane abgedeckt sind; dass das Abwassersystem vollkommen zerstört ist; dass der Müll nicht entsorgt werden kann, weil es keinen Treibstoff für Fahrzeuge gibt und keinen Platz für eine ordentliche Deponie; dass die Notunterkünfte aufgrund der Zerstörungen der Infrastruktur mit Abwasser geflutet werden; dass die Menschen gezwungen sind, in Ruinen zu leben, die bei der geringsten Erschütterung einstürzen können; dass es nirgends einen Ort gibt, an dem die Menschen sich aufwärmen können, mit trockener Kleidung, heißem Tee und einem warmem Essen versorgt werden.

Ein UNICEF-Sprecher berichtet aus Gaza: Viele Kinder haben keine Schuhe. Ihre Kleidung ist durchnässt. Ihre Matratzen sind durchnässt. Es gibt eine Zunahme von Krankheiten, die durch verkeimtes Wasser verursacht werden. Viele Kinder haben akuten wässrigen Durchfall. Viele Menschen haben nicht einmal ein Stück Seife, um sich zu waschen. 

Mehr als 20.000 Zelte wurden in den vergangenen 24 Stunden zerstört. Etwa ein Dutzend schon durch den Krieg beschädigte Häuser stürzten in sich zusammen und begruben Menschen unter sich, die dort Zuflucht gesucht hatten.

Viele Menschen verloren ihre letzten Habseligkeiten: Möbel, Kleidung, Decken, Lebensmittel. 

Seit Monaten versuchen Hilfsorganisationen, Materialien für den Bau (halbwegs) winterfester Unterkünfte nach Gaza zu bringen: Zeltstangen, Planen, auch einfache Fertighäuser. Israel blockiert. Die Welt schaut zu.

Das ist keine Naturkatastrophe. Das ist Völkermord.

Der deutsche Bundeskanzler Merz erklärte Mitte Oktober (nach dem Beginn des sog. „Waffenstillstandes“), es gebe jetzt keinen Grund mehr, für die Palästinenser auf die Straße zu gehen. Vor wenigen Tagen war derselbe Merz auf Besuch bei Netanjahu in Israel. Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem per Haftbefehl gesuchten Kriegsverbrecher Netanjahu versicherte Merz einmal mehr, dass Deutschland erst „am Ende eines Verhandlungsprozesses“ einen palästinensischen Staat anerkennen würde. Netanjahu erklärte indessen zum wiederholten Mal, dass Israel niemals einen palästinensischen Staat akzeptieren wird. Merz’ Botschaft war klar genug: Israel kann nach Belieben morden, foltern, andere Länder überfallen, die ansässige Bevölkerung vertreiben und Land annektieren. Deutschland wird immer zu Israel stehen.

Aber Merz setzte noch eines drauf: Er sagte, es gebe „im Grundsatz keinerlei Differenzen mit Israel.“ Schwerste Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verstöße gegen das Völkerrecht verstoßen also nicht gegen deutsche Grundsätze? Oder wie soll man das verstehen?

Quellen:

Aussendung Nr. 81/2025 von Martha Tonsern, Büro des Botschafters, Vertretung des Staates Palästina in Österreich, Slowenien und Kroatien und ständige Beobachtermission des Staates Palästina bei der UN und den internationalen Organisationen in Wien.

https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/12/12/live-at-least-10-people-die-in-gaza-in-past-24-hours-amid-storm

https://aje.io/ogexhj?update=4169629

https://aje.io/ogexhj?update=4169423

https://www.ipg-journal.de/rubriken/aussen-und-sicherheitspolitik/artikel/voelkerrecht-ade-8743/

https://taz.de/Merz-in-Israel/!6135855/

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Entmenschlichung

In einem ebenso erschreckenden wie erhellenden Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung spricht der israelische Militärsoziologe Yagil Levy mit dem deutschen Journalisten Christian Meier über die Mentalität seiner Landsleute. Einige Auszüge aus diesem Interview:

In einem Artikel schreiben Sie, dass Israels Verhältnis zu den Menschen im Gazastreifen seit Jahren von einer „Entmenschlichung durch Ignorieren“ geprägt sei. Sehen Sie das immer noch so?

Ehrlich gesagt, sehne ich mich nach der Zeit zurück, in der es so war. Denn dieses Ignorieren stellte eine passive Dehumanisierung dar. Man hasste die Menschen nicht wirklich, man ignorierte sie. […] Aus diesem Grund konnten sich die Israelis auch nicht vorstellen, dass es zum 7. Oktober 2023 kommen würde. Danach hat sich die passive in eine aktive Dehumanisierung verwandelt. Und ich glaube nicht, dass wir zurück in die Zeit davor gelangen werden.

Was meinen Sie mit aktiver Dehumanisierung?

Während die passive Entmenschlichung durch Gleichgültigkeit und Vernachlässigung gekennzeichnet war, werden bei aktiver Entmenschlichung die Bewohner Gazas kollektiv als nichtmenschliche Wesen gesehen – als Monster und Teufel.

[…] 

In einer der letzten Umfragen vor dem Waffenstillstand sagten nur zwei Prozent der jüdischen Befragten, dass Israel wegen des Leidens der Palästinenser in einen Waffenstillstand eintreten sollte. Der Hauptgrund, der genannt wurde, waren die Geiseln. Die meisten Menschen glauben auch bis heute, dass das israelische Militär moralisch gehandelt hat.

[…]

Wenn man über die Pflicht sprach, die Immunität von Zivilisten zu respektieren, wurde das fast als Verbrechen angesehen. Leute sagten, wer so etwas fordere, beschütze Leute, die eigentlich unmenschlich sind. Das ist eine Art von aktiver Dehumanisierung. Ein wichtiger Faktor war auch das Bild der Palästinenser im Gazastreifen als Amalekiter.

Das ist in der Bibel ein Volk, das die Israeliten nach dem Auszug aus Ägypten angriff. Gott erteilte daraufhin den Auftrag, „die Erinnerung an Amalek auszulöschen“. Benjamin Netanjahu zitierte den Vers in einer seiner ersten Ansprachen nach dem 7. Oktober.

Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. Dezember 2025.

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Der palästinensische Journalist Mohammed R. Mhawish hatte Glück: Ihm gelang, samt seiner Frau Asmaa und seinem kleinen Sohn Rafik, die Flucht aus Gaza nach Ägypten. Um jedoch an die ägyptische Grenze zu gelangen, mussten sie zunächst vom Norden, wo sie lebten, in den Süden gehen; und auf dem Weg dorthin mussten sie einen israelischen Militärkontrollpunkt passieren. Sowohl Mhawish als auch seine Frau hatten als Journalisten aus Gaza berichtet. Sie nahmen sich fest vor, den Soldaten gegenüber ihre journalistische Arbeit nicht zu erwähnen – aus Angst vor Repressalien. Mhawish hatte – wie viele seiner Kolleginnen und Kollegen – immer wieder Morddrohungen erhalten. Am Kontrollpunkt angekommen, musste Mhawish sein Gesicht in eine Kamera halten. Er wurde augenblicklich identifiziert. Die Soldaten wollten nicht einmal seinen Ausweis sehen. Was danach geschah, beschreibt er so:

Ein Soldat zeigte auf den Boden und wies mich wortlos an, mein Handy, meine Brieftasche und meine Schlüssel dort abzulegen, dann bedeutete er mir mit einer Geste, mein Hemd, mein Unterhemd, meine Hose und meine Unterwäsche auszuziehen. Rafik versuchte, auf mich zuzugehen. Ich konnte seine leise Stimme hören: „Baba.“ Eine Stimme von der Seite drohte, unseren Sohn zu erschießen, wenn Asmaa ihn nicht mitnehmen und weitergehen würde. Sie fesselten meine Handgelenke mit Kabelbindern, verbanden mir die Augen und zerrten mich in einen Raum.

[…] Ich wurde zu Boden gedrückt, die Hände hinter dem Rücken gefesselt, ein Soldat drückte mein Gesicht von hinten nach unten. Sie ließen mich zurück. […] Als sie mich hochhoben, packte mich eine Hand am Arm und zog mich ein Stück weiter, bevor Soldaten meine Stirn gegen die harte, glühend heiße Wand drückten. Das Klicken einer Waffe, die neben meinem Ohr geladen wurde. Sekunden später drehten sie mich um und nahmen mir die Augenbinde ab. Ich blinzelte in das Licht, immer noch nackt.

Während des folgenden stundenlangen Verhörs las ein Soldat Details aus Mhawishs Leben von einem Computerbildschirm ab – darunter sehr private Informationen, z. B. über eine kurze Erkrankung seines Sohnes während eines Aufenthalts in den Vereinigten Arabischen Emiraten vor einigen Jahren. Mhawish wurde geschlagen. Die Soldaten versuchten, ihn als Spitzel anzuwerben. Er lehnte ab und wurde wieder geschlagen.

Mhawish hatte – im Gegensatz zu vielen seiner Landsleute – Glück. Er wurde nicht an Ort und Stelle erschlagen oder erschossen. Sie brachen ihm nicht einmal die Knochen. Er wurde auch nicht in ein israelischer Folterlager gesteckt. Sie ließen ihn irgendwann gehen. Er fand auch seine Frau und seinen Sohn äußerlich unversehrt wieder.

Aber wie lebt man mit so einer Erinnerung? Wie lebt man mit dem Wissen, dass viele Freunde und Verwandte weiterhin in diesem Albtraum leben müssen? Was hat es mit dem Kind gemacht, den eigenen Vater nackt und wehrlos in der Gewalt von Männern in israelischer Uniform zu sehen?

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ESC-Boykott

Die European Broadcasting Union (EBU), die den Eurovision Song Contest (ESC) ausrichtet, hatte für Dezember eine Abstimmung über die Teilnahme Israels im kommenden Jahr angekündigt. Anfang Dezember wurde diese Abstimmung abgesagt, und es wurde entschieden, dass Israel teilnehmen dürfe. Einziges Zugeständnis an die Kritiker: ein paar Reformen, die es erschweren sollen, durch nationale Propaganda einen Song bzw. ein Land zu „pushen“ – wie es Israel im vergangenen Jahr mutmaßlich getan hat. 

Postwendend erklärten vier Länder, aus Protest gegen Israels Teilnahme den kommenden ESC zu boykottieren: die Niederlande, Irland, Spanien und Slowenien.  Inzwischen hat sich ein fünftes Land – Island – dem Song-Contest-Boykott angeschlossen.

Russland wurde 2022 (gleich nach dem Überfall auf die Ukraine) von dem Bewerb ausgeschlossen und darf auch im kommenden Jahr nicht teilnehmen.

https://www.aljazeera.com/news/2025/12/10/iceland-to-join-boycott-of-eurovision-in-protest-at-israels-involvement

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Nemo, ehemaliger Song-Contest-Gewinner 2024 aus der Schweiz, sendete aus Protest gegen die Teilnahme von Israel am kommenden ESC seine Siegestrophäe zurück. In einem Instagramm-Video sagt er dazu:

Es geht nicht um einzelne Personen oder Künstler. Es geht darum, dass der Contest immer wieder dazu benutzt wurde, um das Image eines Landes schönzufärben, das schwerer Verbrechen angeklagt ist, während die EBU ständig erklärt, dass der Contest nicht politisch ist.

Wenn ganze Länder ihre Teilnahme zurückziehen, dann sollte es sehr klar sein, dass etwas grundlegend falsch ist. Darum habe ich mich entschieden, diese Trophäe zurückzuschicken an das EBU-Hauptquartier in Genf, mit Dankbarkeit – und mit einer klaren Botschaft: Lebt, was ihr behauptet. Wenn die Werte, die wir auf der Bühne feiern nicht abseits der Bühne gelebt werden, dann werden selbst die schönsten Lieder bedeutungslos.

Die zionistischen Trolle antworteten mit Israel-Flaggen und Antisemitismus-Vorwürfen. Doch gegen die Welle der Zustimmung und Sympathiebekundungen kamen sie nicht an: Binnen eines Tages erhielt Nemo für diesen Post mehr als 100.000 zustimmende Reaktionen. Ich bin zwar kein Fan des ESC, habe aber dem jungen Sänger dennoch ein Herzchen und ein paar freundliche Worte geschickt. Ich denke, er wird in nächster Zeit Rückenstärkung brauchen können.


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