No Other Land

Ich möchte heute einen Kinofilm empfehlen: No Other Land (2024), ein außergewöhnlicher Dokumentarfilm, realisiert von einem jungen israelisch-palästinensischen Autoren- und Regiekollektiv (Basel Adra, Hamdan Ballal, Yuval Abraham and Rachel Szor).

Die Dreharbeiten für den Film wurden vor Oktober 2023 fertiggestellt. Der Film zeigt also nicht die Realität nach dem Überfall der Hamas (als auch im Westjordanland die Gewalt gegen die palästinensische Bevölkerung eskalierte). Er zeigt vielmehr die Realität der Besatzung, wie sie seit Jahrzehnten ist. Es ist ein Film über institutionalisiertes Unrecht, über Militär- und Siedlergewalt im Auftrag bzw. mit Billigung und Unterstützung der Regierung. Es ist aber noch mehr ein Film über jahrzehntelangen gewaltlosen palästinensischen Widerstand, über Solidarität und Mut; und es ist ein Film über die Freundschaft zwischen dem Palästenenser Basel Adra (studierter Jurist, aber ohne Chance auf Arbeit) und dem jüdisch-israelischen Journalisten Yuval Abraham. Zwei junge Männer, die 30 Autominuten entfernt voneinander wohnen, aber in unterschiedlichen Welten leben.

Basel Adra lebt in Masafer Yatta. Das ist eine aus 19 Weilern bestehende Gemeinschaft in einer hügeligen Gegend südlich der Stadt Hebron. Die Menschen leben hauptsächlich von Landwirtschaft. Sie wohnen in einfachen Häusern und halten Schafe, Ziegen und Hühner.

Seit 1967 ist Masafer Yatta von den Israelis besetzt. Basel ist Sohn palästinensischer Aktivisten. Seine Eltern kämpfen seit Jahrzehnten mit friedlichen Mitteln gegen die israelische Besatzung. Sie kämpften unter anderem für die Errichtung einer Schule in Masafer Yatta. Genauer: Sie kämpften um die Erlaubnis, in Masafer Yatta selber eine Schule zu bauen. Die israelischen Behörden verweigerten diese. Die Einwohner wussten: Wenn sie ohne Erlaubnis bauen, werden die Israelis den Bau abreißen, mit der Begründung, er sei illegal.

Da hatte Basels Mutter eine Idee: Die Dorfbewohner begannen zu bauen, ließen aber tagsüber nur Frauen und Kinder auf der Baustelle arbeiten. Die Israelis ließen sie gewähren. Vielleicht hatte die israelische Armee zu jener Zeit noch Skrupel, gegen Frauen und Kinder vorzugehen. Vielleicht dachten sie, dass das Bauprojekt ohnehin nicht gelingen würde. Vielleicht machten sie sich einen Spaß daraus, Frauen und Kinder wochenlang schuften zu lassen und erst ganz zum Schluss die Bulldozer zu schicken. Doch nachts, im Schutze der Dunkelheit, arbeiteten die Männer. So gelang es, die Schule fertigzustellen. Die Gewitztheit der Dorfbewohner sprach sich bis zum damaligen britischen Premierminister Tony Blair herum, der daraufhin die Dorfschule besuchte. So erlangte Masafer Yatta eine gewisse Berühmtheit, und die Israelis ließen die Schule stehen, in der fortan die Kinder Masafer Yattas lernten, auch Basel.

Basels Vater wurde mehrfach von den Israelis inhaftiert. Nun betreibt er im Dorf, unterhalb des Wohnhauses, eine kleine Tankstelle, die aus einer einzelnen Zapfsäule besteht. Das Geschäft geht nicht besonders gut, zumal die israelische Armee Autos der Menschen von Masafer Yatta requiriert.

1981 beschloss die israelische Regierung, in Masafer Yatta ein Militärübungsgelände einzurichten, mit dem Ziel, die dort lebende Bevölkerung zu vertreiben. Betroffen davon waren mehr als 1.100 Menschen, darunter etwa die Hälfte Kinder. Seither kämpft Masafer Yatta um seine Existenz.

Zunächst wehrten sich die Einwohner mit juristischen Mitteln. Die israelischen Behörden behaupteten, die Dörfer von Masafer Yatta wären erst nach 1981 errichtet worden, nachdem das Gebiet zur militärischen Sperrzone erklärt worden war. Die Palästinenser hätten das Land also unbefugt in ihren Besitz gebracht. Das war eine Lüge. Die Dorfbewohner konnten nachweisen, dass palästinensische Ansiedlungen in diesem Gebiet bereits seit dem 19. Jahrhundert existieren. Der israelische Oberste Gerichtshof folgte der Argumentation der Einwohner, entschied aber letztlich doch, dass die Errichtung des Militärgeländes und damit die Vertreibung der indigenen Bevölkerung rechtens sei.

Die israelische Armee zerstört Masafer Yatta aber nicht in einer einzigen, großen Aktion, sondern versucht, die Einwohner nach und nach zu „vergrämen“, durch schrittweise Zerstörung, Drohungen und Gewalt. Immer wieder kommen Abrisstrupps in die Dörfer, begleitet von Soldaten und Soldatinnen in Armeefahrzeugen. Sie zerstören einzelne Häuser und Unterkünfte für das Vieh, reißen Strommasten nieder, schütten Beton in Brunnen, zerschneiden oberirdische Wasserleitungen mit Kettensägen. Danach ziehen sie wieder ab, bis zur nächsten Aktion.

Basels Eltern und Nachbarn haben die schleichende Zerstörung von Masafer Yata seit Jahrzehnten filmisch dokumentiert. Basel tritt in ihre Fußstapfen, unterstützt von Yuval, dem israelischen Journalisten. Die Aufnahmen der beiden sind sehr bewegt; sie filmen, wenn sie laufen, sie filmen wenn sie hinfallen. Die unscharfen Bilder des trockenen, steinigen Bodens, als Basel in ein Nachbardorf rennt, um eine dort gerade stattfindende Zerstörungsaktion zu dokumentieren, die schwindelerregenden Bilder einer Kamera im freien Fall, als er zusammengeschlagen wird, sind nicht herausgeschnitten. Der Film zeigt aber nicht nur die Aufnahmen von Basel und Yuval (also ihre Erste-Person-Perspektive), sondern auch sie selbst, wie sie auf die israelischen Soldaten zulaufen, diese zur Rede stellen, wie sie von diesen bedroht und geschlagen werden.

Der Film zeigt Dorfbewohner, die hastig Matratzen, Wäsche und andere Haushaltsdinge aus ihren Häusern retten, bevor der Bulldozer die dünnen Wände niederreißt. Er zeigt Dorfbewohner, wie sie versuchen, mit den Besatzern zu sprechen: „Warum tut ihr uns das an?“ „Was, wenn das dein Haus wäre?“ „Wo soll ich jetzt wohnen?“ „Das ist doch unser Land, ihr wollt uns vertreiben!“ Selten erhalten sie Antwort. Die Gesichter der Männer und Frauen in den Uniformen sind ausdruckslos. Einmal sagt einer: „Das ist nicht euer Land.“

Der Film zeigt auch, wie die Dorfbewohner ihren Alltag leben. Menschen, deren Häuser zerstört wurden, ziehen in Wohnhöhlen, die vor langer Zeit in den Hang gegraben wurden. Der israelische Jude Yuval wird freundlich aufgenommen. Nur manchmal bricht in einem Gespräch zwischen einem Dorfbewohner und Yuval Zorn hervor.

Die Bewohner versuchen, ihre Häuser wieder aufzubauen. Die Bagger kommen und reißen sie wieder ab. Die Soldaten nehmen auch gleich das Werkzeug der Einwohner mit – und sie wollen auch den Stromgenerator mitnehmen. Letzteres wäre für das Dorf eine Katastrophe.

Die Frauen protestieren. Ein Soldat packt das schwere Gerät auf einer Seite und zieht es in Richtung eines Militärfahrzeugs. Ein junger Mann aus dem Dorf packt es auf der anderen Seite und zieht in die andere Richtung. Dann fällt ein Schuss, der junge Mann fällt zu Boden. Er ist seither vom Hals abwärts gelähmt. Er lebt mit Mutter und Schwester in einer Höhle, seit das Haus der Familie zerstört wurde. Er liegt auf einer Matratze am Boden. Die Mutter pflegt ihn. Medizinische Hilfe gibt es für ihn nicht. Am Ende des Films wird er sterben.

Basels Eltern organisieren wöchentliche Demonstrationen. Männer, Frauen, Kinder gehen auf einer Straße. Sie tragen Transparente und schwarze Luftballons, keine Waffen. Israelische Soldaten schießen in die Menge.

Das Dorf wird von einer Gruppe radikaler Siedler angegriffen. Mehrere Dutzend Männer aus einer nahegelegenen jüdischen Siedlung nähern sich dem Dorf. Sie sind vermummt und bewaffnet. Sie werden von israelischen Soldaten in Uniform begleitet. Basel und Yuval (die sich niemals scheuen, mit ihren Kameras auf Tuchfühlung zu israelischen Soldaten zu gehen) filmen nur aus der Ferne. Die Situation ist extrem bedrohlich.

Am Ende wird die Dorfschule zerstört.

Immer mehr Dorfbewohner verlassen Mustafa Yatta. Sie gehen in eine überfüllte Stadt, wo sie kaum eine Chance auf Arbeit haben. Die meisten bleiben aber und kämpfen weiter.

Bilder der Vertreibung: Menschen verladen ihre Schafe auf einen Viehwagen. Sie verladen ihr sonstiges Hab und Gut auf einen Heuwagen-Anhänger. Die überladenen Anhänger schwanken auf der schlechten Straße, die von israelischen Soldaten bewacht wird.

Während der Dreharbeiten wurde Basels Vater verhaftet (und ohne Anklage wieder freigelassen). Zwei Mal drangen Soldaten in Basels Haus ein und konfiszierten Computer und Kameras. Während Yuval israelische Soldaten filmte, kam einer auf ihn zu und fotografierte ihn mit einem Smartphone. Er sagte (aus dem Gedächtnis zitiert): „Wir haben jetzt dein Gesicht. Wir finden auch heraus, wo du wohnst.“

No Other Land ist ein beeindruckendes Filmwerk, das den Zuschauer/innen einen sehr unmittelbaren Eindruck vom Leben unter israelischer Besatzung vor dem 7. Oktober 2024 gibt. Der Film hat mehr als 30 Filmpreise bekommen und wurde für einen Oscar nominiert. Bislang fand er allerdings in den USA keinen Verleih.

Bei der Berlinale wurde No Other Land zum Anlass für einen Skandal. Basal Adra und Yuval Abraham hielten bei der Preisverleihung kurze Ansprachen (hier von mir aus dem Englischen übersetzt).

Yuval Abraham:

„Wir stehen nun vor Ihnen. Ich und Basel sind gleichaltrig. Ich bin Israeli, Basel ist Palästinenser. In zwei Tagen werden wir zurückkehren in ein Land, wo wir nicht gleich sind. Ich lebe unter Zivilrecht, und Basel lebt unter Militärrecht. Wir wohnen 30 Minuten entfernt voneinander. Aber ich habe das Wahlrecht, und Basel hat kein Wahlrecht. Ich kann mich in diesem Land frei bewegen, wo immer ich will. Basel ist, wie Millionen von Palästinensern, im besetzten Westjordanland eingesperrt. Dieser Zustand der Apartheid zwischen uns, diese Ungleichheit, muss aufhören.“

Basal Adra:

„Das ist unser erster Kinofilm, nachdem meine Gemeinschaft, meine Familie, seit vielen Jahren gefilmt hat, wie unsere Gemeinde ausgelöscht wird von dieser brutalen Besatzung. Ich bin hier und feiere die Auszeichnung, aber es ist sehr hart für mich zu feiern, während Zehntausende meiner Leute in Gaza abgeschlachtet und massakriert werden. Masafer Yatta, meine Gemeinde, wird auch von israelischen Bulldozern zerstört. Nun, wo ich hier in Berlin bin, bitte ich Deutschland um eine Sache: respektiert die Beschlüsse der Vereinten Nationen und hört auf, Waffen nach Israel zu schicken.“

Der Berliner Bürgermeister Kai Wegner bezeichnete die Reden als „antisemitisch“. Yuval Abraham kommentierte das in einem Interview mit dem Guardian so: „Wenn ich als Sohn von Holocaust-Überlebenden auf deutscher Erde stehe und einen Waffenstillstand fordere – und dann als antisemitisch gebrandmarkt werde, dann ist das nicht nur ungeheuerlich, sondern es bringt im wörtlichen Sinne jüdische Leben in Gefahr […].“ Er berichtete, dass seine Familie in Israel ihr Zuhause verlassen habe, nachdem „ein rechtsgerichteter israelischer Mob“ dort nach ihm gesucht habe. Er sorge sich auch um die Sicherheit seines Freundes Basil Adra, der inzwischen ins Westjordanland zurückgekehrt ist.

Yuval Abrahams Sorge um seinen Freund war begründet. Am 3. Februar 2025 wurde Basel Adra von einer Gruppe israelischer Siedler umzingelt und angegriffen. Dies geschah im Zuge eines großen Angriffs auf Masafer Yatta, ausgeführt von jüdischen Siedlern im Schutz der israelischen Armee.

Quellen:

No other land. Dokumentarfilm. (Palästina, Norwegen) Regie: Basel Adra, Hamdan Ballal, Yuval Abraham and Rachel Szor.

https://www.newarab.com/news/israel-attacks-no-other-land-director-west-bank?amp

https://en.wikipedia.org/wiki/Masafer_Yatta

https://en.wikipedia.org/wiki/No_Other_Land

https://en.wikipedia.org/wiki/Basel_Adra

https://en.wikipedia.org/wiki/Yuval_Abraham


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