
Bild: Palästinensische Flüchtlinge 1948: Zu Fuß und ohne Schuhe auf einer Straße, beladen mit Bündeln, die sie auf dem Kopf oder auf den Schultern tragen. Quelle: https://morningstaronline.co.uk/article/f/marching-against-ongoing-nakba [Public Domain]
Wer die Zukunft mitgestalten will, der sollte die Gegenwart verstehen; und um die Gegenwart zu verstehen, muss man die Geschichte kennen. Dies gilt ganz besonders für die Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Palästinenser. Daher werde ich in diesem Beitrag einen historischen Exkurs machen. Zentral wird es dabei um den Begriff der „Nakba“ gehen, der ja in den letzten Beiträgen dieses Blogs mehrfach vorgekommen ist. Das arabische Wort „Nakba“ bedeutet „Katastrophe“. Die Palästinenser beziehen sich damit auf die Massenvertreibungen von 1947 bis 1949. Ich habe aber beim Schreiben dieses Beitrags schnell bemerkt, dass es nötig ist, in der Geschichte noch um einige Jahrzehnte weiter zurückzugehen, um zu verstehen, wie es zur Nakba kommen konnte.
Vorgeschichte, Teil I: Das zionistische Projekt
Die historische Region Palästina erstreckt sich vom Jordan-Fluss im Osten bis zum Mittelmeer im Westen („From the river to the sea“). Es grenzt im Westen an das heutige Jordanien und Syrien, im Norden an den Libanon und im Süden an Ägypten. Es umschließt das heutige Israel, das Westjordanland und den Gazastreifen, sowie Teile Jordaniens, Syriens und des Libanon.
Palästina ist historische Heimat sowohl für Juden als auch für Araber. Über viele Jahrhunderte lebten Juden und Araber dort in guter Nachbarschaft. Beherrscht wurde Palästina bis 1948 jedoch weder von den Juden noch von den Arabern, sondern von verschiedenen Großmächten. In den Jahrhunderten vor dem Ersten Weltkrieg waren das die Türken. Nach dem Ersten Weltkrieg fiel das Gebiet an die Siegermacht Großbritannien.
Wie konnte aus dem friedlichen Zusammenleben der beiden Volksgruppen eine so tiefe Feindschaft entstehen? Maßgeblich dafür war das Entstehen der „zionistischen Siedlerbewegung“ am Ende des 19. Jahrhunderts. „Zionismus“ bezeichnete ursprünglich den Plan, das Gebiet des historischen Palästina jüdisch zu besiedeln und dort einen jüdischen Staat zu errichten – als Heimstatt für alle Jüdinnen und Juden der Welt. Der Urheber dieser Idee war der Österreicher Theodor Herzl.
Das Motiv für das zionistische Projekt war die jahrhundertelange Ausgrenzung und Verfolgung von Jüdinnen und Juden in Europa. Sie lebten zerstreut in verschiedenen Ländern, und überall waren sie eine Minderheit unter der christlichen Mehrheit. Sie wurden als Fremde angesehen, auch wenn sie schon seit Generationen an einem Ort lebten. Unter den Christen wurden negative Vorurteile gegenüber den Jüdinnen und Juden tradiert. Vielfach war ihnen die Ausübung bestimmter Berufe verboten. Oft durften sie sich ihren Wohnort nicht frei aussuchen, sondern waren gezwungen, in bestimmten (meist viel zu kleinen) Stadtvierteln zu leben, den „Ghettos“.
Als ausgegrenzte Minderheit eigneten sich die Juden hervorragend für die Rolle des „Sündenbocks“, wann immer die Mehrheitsgesellschaft einen Verantwortlichen für irgendeine Not suchte. Immer wieder kam es zu Ausbrüchen von Gewalt gegen die jüdischen Gemeinschaften, sog. Pogrome: Verletzte, Tote, zerstörtes Eigentum, Vertreibungen.
Im 19. Jahrhundert versuchten viele europäische Juden, sich zu „assimilieren“. Sie waren nicht mehr strenggläubig und fühlten sich eher als Deutsche oder Franzosen denn als Juden. Dennoch wurden sie nach wie vor diskriminiert. Das war der Nährboden für das zionistische Siedlerprojekt von Theodor Herzl.
Vorgeschichte, Teil II: Die jüdische Siedlerbewegung bis 1947
Es gab in Palästina seit Jahrhunderten immer wieder jüdische Einwanderungswellen, die jedoch kaum zu Spannungen zwischen Juden und Arabern führten. Die Situation änderte sich grundlegend nach dem Ersten Weltkrieg, als finanzstarke Juden in großem Stil Land aufkauften, um dort jüdische Siedlungen zu gründen. Dies hatte negative Auswirkungen auf die soziale und wirtschaftliche Lage der palästinensischen Bevölkerung. Die meisten Palästinenser lebten als Bauern und Viehhirten, waren jedoch nicht Eigentümer, sondern nur Pächter des Landes, das sie bewirtschafteten. Ursprünglich war das Land im Besitz arabischer Großgrundbesitzer, die vielfach gar nicht in Palästina lebten. Das Problem dabei war, dass die neuen jüdischen Eigentümer den arabischen Pächtern nicht gestatteten, auf dem von ihnen vielfach seit Generationen bewirtschafteten Land zu bleiben. Tausende mussten ihre Höfe verlassen. Es blieb ihnen nichts anderes übrig als in die Städte zu gehen, wo sie kaum Arbeit fanden. Armut und Verelendung waren die Folge.
Naturgemäß erzeugte das Wut unter den Palästinensern. Gleichzeitig erstarkte eine palästinensische Nationalbewegung. Das heißt, wie in anderen kolonialisierten Völkern auch entstand in ihnen eine nationale Identität und damit einhergehend der Wunsch nach einem eigenen, unabhängigen Staat.
In den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen bildeten sich in Palästina bewaffnete Gruppen sowohl auf der arabischen als auch auf der jüdischen Seite. Beide kämpften gegen die britische Besatzung und für einen eigenen Staat. Von beiden Seiten kam es auch zu Übergriffen auf Zivilisten der jeweils anderen Volksgruppe.
Dann kam das Menschheitsverbrechen des Holocaust, also die Ermordung von Millionen Juden in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten. Schon während des Zweiten Weltkriegs flüchteten Tausende vor den Nazis nach Israel, und auch nach dem Zweiten Weltkrieg wollten oder konnten viele Jüdinnen und Juden nicht mehr in Deutschland oder Österreich leben.
Unter dem Eindruck des fürchterlichen Unrechts und Leids, das den Juden (vor allem) von Deutschen und Österreichern angetan worden war, beschloss die UNO-Vollversammlung im Jahr 1947 einen Teilungsplan für Palästina. Einige Gebiete sollten die Juden für den Staat Israel erhalten, andere die Palästinenser für den Palästinenserstaat. Das umstrittene Jerusalem sollte unter internationale Kontrolle gestellt werden.
Die Nakba
Der Teilungsplan der UNO war der unmittelbare Auslöser der Nakba. Die arabischen Vertreter in der UNO-Vollversammlung lehnten den Plan geschlossen ab. Sie hatten dafür sehr gute Gründe: 1. Sie argumentierten grundsätzlich, dass nicht einzusehen sei, warum die Wiedergutmachung für das den Juden zugefügte Unrecht ausgerechnet von den Palästinensern geleistet werden sollte. 2. Der Teilungsplan bevorzugte ganz klar die jüdische Seite. Die Palästinenser (die zu diesem Zeitpunkt mit mehr als zwei Dritteln deutlich die Bevölkerungsmehrheit stellten) erhielten weniger als die Hälfte des Landes zugesprochen (darunter das Westjordanland und den Gazastreifen), und sie verloren weit mehr als die Hälfte der fruchtbaren Gebiete. 3. Es war damals schon abzusehen, dass es in den jüdischen Gebieten zu Massenvertreibungen von Palästinensern kommen würde. Es wurden keinerlei Vorkehrungen getroffen, um dies zu verhindern.
Die arabischen Befürchtungen bewahrheiteten sich. Bereits 1947 begannen paramilitärische israelische Truppen mit der „ethnischen Säuberung“ des künftigen israelischen Staatsgebiets. Zwischen 1947 und 1949 wurden zwischen 700.000 und 800.000 Menschen durch jüdischen Terror gezwungen, ihre Dörfer zu verlassen. Die jüdischen Truppen verbreiteten Angst und Schrecken unter der palästinensischen Bevölkerung, indem sie Massaker unter der Zivilbevölkerung anrichteten und Zivilisten auf offenen Lastwagen mit erhobenen Händen und Gewehr an der Brust zur Schau stellten, bevor sie diese ebenfalls erschossen. Schon vor der israelischen Staatsgründung am 15. Mai 1948 (und somit vor dem Beginn des ersten israelisch-arabischen Krieges) waren auf diese Weise zwischen 200.000 und 300.000 Palästinenser/innen vertrieben bzw. zur Flucht gezwungen worden. Jüdische Soldaten plünderten, mordeten, vergewaltigten, vergifteten Brunnen und zerstörten hunderte Dörfer.
Die Vertriebenen flüchteten teils ins Ausland (vor allem nach Jordanien, Syrien und den Libanon), der Rest in den Gazastreifen und in Gebiete des Westjordanlandes. Für eine so große Zahl an Geflüchteten gab es nirgends ausreichend Unterkünfte. Sie ließen sich daher in Flüchtlingslagern nieder. Natürlich wurden in diesen „Lagern“ im Laufe der Zeit feste Unterkünfte mit Wasser- und Stromversorgung gebaut, doch sie heißen bis heute „Flüchtlingslager“, weil sich die Menschen dort als Geflüchtete, Vertriebene fühlen. Es sind extrem dicht besiedelte Stadtviertel oder kleine Städte mit viel Arbeitslosigkeit und einem hohen Anteil von Bewohner/innen, die unter der Armutsgrenze leben. Wenig verwunderlich sind es auch diese Viertel, in denen bewaffnete palästinensische Gruppen die meisten Mitglieder und den stärksten Rückhalt in der Bevölkerung haben.
Seit 1967 sind Gaza und das Westjordanland von Israel besetzte Gebiete. Das bedeutet, dass die Palästinenser dort unter israelischer Militärverwaltung leben. Dies ist kein abstrakter politischer Sachverhalt, sondern bestimmt den Alltag der Menschen: durch zahllose Schikanen und Demütigungen, durch Blockaden, die die Wirtschaft strangulieren; durch körperliche Misshandlungen bis hin zu Angriffen mit scharfer Munition; durch Einschränkungen der Bewegungsfreiheit; durch willkürliche Verhaftungen und lange Inhaftierung ohne Anklage; durch Zerstörung und Aneignung von palästinensischem Eigentum.
Zurück in die Gegenwart
Die Flüchtlingslager in Gaza (wie z. B. Jabalia im Norden) wurden zwischen Oktober 2023 und Januar 2025 dem Erdboden gleichgemacht. Seit dem „Waffenstillstand“ in Gaza konzentriert die israelische Armee ihre Angriffe auf die Flüchtlingslager im Westjordanland: Dschenin; Far’a und Tammun in der Nähe von Tuba; Nur Shams in Tulkarem u. a. Wieder wird geplündert, systematisch zerstört, verwundet und getötet und nun auch massenweise ohne Anklage inhaftiert. Seit Anfang Januar dieses Jahres wurden mindestens 50.000 Bewohner/innen vertrieben.
Die Vertriebenen sind Nachkommen jener Menschen, die schon 1948 vertrieben wurden. Sie flüchteten (überwiegend zu Fuß) in nahegelegene Ortschaften. Manche kamen bei Freunden oder Verwandten unter; andere sind in Notunterkünften in Schulen oder anderen öffentlichen Einrichtungen untergebracht. Menschen verloren nicht nur ihr Zuhause, sondern auch ihre Arbeit. Kinder können nicht mehr zur Schule gehen.
Es gibt Anzeichen dafür, dass die israelische Armee nicht plant, den Vertriebenen die Rückkehr zu gestatten. Vor einigen Tagen hatte die palästinensische Autonomiebehörde die Information verbreitet, dass jetzt eine Rückkehr in das Lager Dschenin möglich wäre. Daraufhin versammelten sich Tausende Vertriebene am Haupteingang des Lagers. Doch die israelische Armee verwehrte ihnen den Zutritt und „jagte sie davon“, wie eine Bewohnerin erzählt. Offenbar schossen israelische Soldaten auf die Menschen. Dabei wurde eine 50jährige Frau verletzt.
Vor wenigen Tagen habe ich einen Zoom-Vortrag von Helga Baumgarten gehört. Helga Baumgarten ist eine deutsche Politikwissenschaftlerin, die seit Jahrzehnten an der Universität Bir Zait in Ramallah im Westjordanland unterrichtet. Sie hat mehrere Bücher über den Nahost-Konflikt geschrieben. Derzeit lebt sie in Ostjerusalem. Sie berichtete, dass die Menschen im Westjordanland sagen: „Gaza ist bei uns angekommen.“
Ich habe sie in der Diskussion gefragt, ob hinter dem Vorgehen Israels im Westjordanland nur Lust an der Gewalt steckt, oder ein klares Ziel. Sie antwortete sinngemäß: Das Ziel hat der derzeitige israelische Finanzminister Smotrich schon vor Jahren glasklar formuliert. Er sagte, dass es für die Palästinenser nur drei Alternativen gebe: Entweder sie wandern aus (das wäre aus seiner Sicht das Beste), oder sie akzeptieren einen Status als geduldete Einwohner ohne Bürgerrechte, oder sie müssen sterben.
Demnach geht es also darum, die Palästinenser/innen zum Auswandern „zu ermutigen“, indem man ihnen sehr konkret vermittelt, dass man sie in ihrem eigenen Land nicht leben lässt.
Es hängt nicht nur von den USA und den arabischen Ländern ab, ob dieser Plan aufgeht. Es hängt auch von Europa ab. Ich möchte zum Abschluss dieses Beitrags das Schusswort von Helga Baumgartens Vortrag zitieren:
„Lasst uns also hoffen, und tut was ihr könnt!“
Quellen
Michael Lüders: Krieg ohne Ende? Warum wir für Frieden im Nahen Osten unsere Haltung zu Israel ändern müssen. München: Goldmann, 2024.
https://de.wikipedia.org/wiki/Nakba
https://de.wikipedia.org/wiki/Theodor_Herzl
https://de.wikipedia.org/wiki/Alija
https://www.lpb-bw.de/geschichte-palaestinas#c22239
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/2/19/live-israeli-tanks-fire-on-palestinians-in-gaza-as-captive-exchange-agreed (12.15, 16.15)
Zoom-Vortrag von Helga Baumgarten am 20. Februar 2025, organisiert von der Palästina Initiative Tirol.
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