
Bild: Poträt von Ahed Tamimi auf der Mauer, die Ostjerusalem vom Westjordanland trennt, aus dem Film Where Olive Trees Weep (siehe unten).
Chronik
Gestern war der erste Tag des muslimischen Fastenmonats Ramadan. Nach dem ursprünglichen Plan sollte heute der erste Tag von Phase II des Waffenstillstands sein. Für Phase II war vorgesehen: Freilassung aller verbliebenen israelischen Geiseln, vollständiger Abzug der israelischen Armee aus Gaza und ein unbefristeter Waffenstillstand.
Doch Israel ist (wie zu befürchten war) nicht bereit, in Phase II einzutreten. Es gab keine ernsthafte Verhandlungen über Phase II. Statt dessen kam von der israelischen Regierung quasi in letzter Minute der Vorschlag, Phase I zu verlängern.
Die Hamas hat diesen Vorschlag umgehend als inakzeptabel abgelehnt. Sie will einen dauerhaften Waffenstillstand, den vollständigen Rückzug der Besatzungstruppen, den Wiederaufbau Gazas und die Aufhebung der Belagerung. Sie erklärt sich bereit, mit allen Initiativen zusammenzuarbeiten, die sich gegen den Plan der Vertreibung der Palästinenser wenden. Man werde jedoch weder die Präsenz nichtpalästinensischer Truppen noch eine nichtpalästinensische Verwaltung dulden.
Wie ich jetzt gerade lese, hat Israel mit dem heutigen Tag die Einfuhr von HIlfslieferungen nach Gaza komplett gestoppt. Israelische Kampfjets und Drohnen am Himmel über Gaza versetzen die Menschen in Angst. Durch israelische Angriffe wurden seit heute Nacht vier Menschen getötet und fünf verletzt.
Quellen:
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/3/1/gaza-live-first-phase-of-israel-hamas-truce-ends-with-no-deal-in-sight (12.05, 15.50, 16.00, 16.30)
https://www.aljazeera.com/news/2025/3/2/israel-reneges-on-ceasefire-deal-warns-hamas-of-consequences
Where Olive Trees Weep
Vor einigen Wochen habe ich in diesem Blog den Film No Other Land besprochen. Heute möchte ich einen weiteren palästinensischen Dokumentarfilm vorstellen und empfehlen: Where Olive Trees Weep [Wo Olivenbäume weinen] (2024).
Der Film besteht teils aus Interviews, teils aus historischem Filmmaterial aus den vergangenen Jahrzehnten. Gezeigt werden unter anderem Originalaufnahmen von friedlichen palästinensischen Protesten und deren brutaler Niederschlagung durch die israelische Armee. Gedreht wurde in Jerusalem, Israel und im Westjordanland (in Jericho und Bethlehem, im Jordantal, in Hebron und in der Gegend um Ramalah). Die Dreharbeiten fanden im Sommer 2022 statt, also lange vor dem Anschlag der Hamas im Oktober 2023.
Das übergreifende Thema des Films sind die Traumata der palästinensischen Bevölkerung und der Versuch, diese zu bewältigen bzw. mit ihnen zu leben. Der Film macht auf sehr eindrückliche Weise bewusst, dass Palästinenser/innen in Gaza permanent einer traumatisierenden Situation ausgesetzt sind. Eine Traumatherapeutin erklärt, man könne nicht sagen, dass die Palästinenser/innen unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden. Denn von einer solchen spricht man, wenn das traumatisierende Geschehen vorbei ist. Doch in Palästina ist nichts davon vorbei.
So gut wie alle Palästinenser/innen sind in irgendeiner Weise traumatisiert: durch Vertreibung, Enteignung, Zerstörung ihres Eigentums, Entzug ihrer wirtschaftlichen und physischen Lebensgrundlagen, körperliche Verletzungen, Verstümmelungen, den gewaltsamen Tod naher Angehöriger, willkürliche Inhaftierungen, Misshandlungen, alltägliche Demütigungen, offenkundiges Unrecht. In dem Film sprechen Menschen (Männer und Frauen, Junge und Alte, Landwirte und Intellektuelle) über diese Erlebnisse, und wie sie damit umgehen. Ihre Berichte gehen unter die Haut, schockieren, machen fassunglos und wütend. Zugleich kann man nicht anders, als tiefe Bewunderung zu empfinden für ihre unglaubliche Ruhe, Würde und Stärke, für ihre Widerstandskraft und ihren Mut, für ihre unerschütterliche Verbundenheit mit ihrem Land und ihrem Volk.
Da ist der Beduine, dessen Dorf zerstört wurde, und der nun mit seiner Familie in einem Zelt lebt. „Zuerst kamen sie, und töteten unsere Schafe“, erzählt er. „Dann stahlen sie unsere Schafe. Dann stahlen sie unser Wasser. Dann zerstörten sie unser Dorf.“
Ein Bauer erzählt, die Israelis hätten ihn von der Wasserversorgung abgeschnitten. Seine Felder trockneten aus, so dass er sie nicht mehr bewirtschaften konnte. Nach drei Jahren fiel sein Land an den israelischen Staat. Denn nach israelischem „Recht“ gilt: Land, das drei Jahre lang nicht bestellt wird, geht in israelisches Staatseigentum über.
Wir erfahren: Ein palästinensisches Dorf bekommt fließendes Wasser für 12 Stunden pro Woche. Die israelischen Siedler auf dem Hügel gegenüber bekommen fließendes Wasser 24 Stunden pro Tag, 7 Tage pro Woche. Schön grün ist es dort, und es gibt Swimmingpools. Die israelischen Siedler bezahlen für das Wasser viel weniger als die palästinensischen Dorfbewohner.
Wir erfahren: Israel zerstört palästinensische Dörfer mit der Begründung, dort würden Militärzonen eingerichtet. Danach werden dort israelische Siedlungen gebaut.
Wir lernen: Der Bau jüdischer Siedlungen im Westjordanland verstößt gegen internationales Recht. Denn in besetzten Gebieten dürfen keine Angehörigen der Besatzungsmacht siedeln. Doch faktisch kann jeder israelische Jude im besetzten Westjordanland eine Siedlung gründen. Das geht so: Er baut sich irgendwo ein Haus. Dann kommen andere und bauen sich dort auch Häuser. Dann kommt die israelische Armee und schützt diese Häuser vor etwaigen Angriffen wütender Palästinenser. Dann kommt der israelische Staat und versorgt die Siedlung mit Wasser und Strom und baut eine Straße, nur für die Siedler. Dann kommen israelische Soldaten, um die Straße vor den Palästinensern zu beschützen.
Da ist Ahed Tamimi. Die junge Frau ist eine Ikone des palästinensischen Widerstandes. Sie wurde im Alter von 16 Jahren wegen einer Tätlichkeit gegen einen israelischen Soldaten ins Gefängnis gesteckt. Ahed Tamimi war auf einer Demonstration, an der auch andere Familienmitglieder teilnahmen. Israelische Soldaten eröffneten das Feuer auf die Demonstrant/inn/en. Ihr Cousin wurde dabei schwer verletzt. Er wurde in ein Krankenhaus gebracht; Aheds Familie wurden informiert, dass er in kritischem Zustand sei. Dann kam der Soldat, der auf Aheds Cousin geschossen hatte, in Aheds Straße, und fing erneut an, auf Kinder zu schießen. Da ging Ahed auf ihn zu und schlug ihm mit der Hand ins Gesicht. Im Film sieht man eine Originalaufnahme dieser Szene. Sieben Monate Gefängnis fasste sie dafür aus. Heute sagt sie: Sie sei kein Opfer. Die wahren Opfer seien die Israelis, die in ihrem Hass gefangen seien.
Die Hauptfigur des Films ist die palästinensische Journalistin und Therapeutin Ashira Darwish. Sie begleitete eine Demonstration und filmte. Israelische Soldaten setzten Tränengas und andere Geschosse gegen die Demonstrant/inn/en ein. Sie ging auf einen israelischen Kommandeur zu, ganz nah, und konfrontierte ihn mit Worten: ob er wirklich auf Frauen und Kinder schießen wolle. Der Mann begann sie zu schlagen. Sie fragte ihn, ob er sich jetzt besser fühle, und filmte weiter. Der Soldat schlug so lange auf sie ein, bis sie das Bewusstsein verlor. Später, im Krankenhaus, erfuhr sie, dass ihre Wirbelsäule verletzt war. Sie war halbseitig gelähmt. Ihre Wirbelsäule wurde mit Titan geflickt. Inzwischen kann sie wieder tanzen.
Ashira Darwish wurde mehrfach verhaftet. Sie berichtet von Folter und von ihrer Angst. Einmal, während eines Verhörs, verlangte sie eine Dusche, weil sie ihre Tage hatte. Sie wurde darauf in einen Duschraum gebracht, der so eng war, dass ein Ausweichen unmöglich war. Dann kam aus dem Duschkopf über ihrem Kopf brennend heißes Wasser. In dem fensterlosen Loch, in das man sie warf, half ihr das Singen zu überleben.
Palästinenser/innen wollen nicht Opfer sein. Trotz all des Leids, das sie erfahren, können sie lachen und feiern. Sie verlieren niemals die Hoffnung. Sie wollen stark sein, und sie sind es auch. Doch das hat seinen Preis. Jene Bereiche ihrer Seele, in denen das Schreckliche gespeichert ist, sind von ihren Emotionen abgeschnitten. Sie können sich wohl erinnern, aber sie können die damit verknüpften Emotionen nicht zulassen. Dr. Gabor Maté, Holocaust-Überlebender und Traumatherapeut, erklärt, dies sei eine natürliche Reaktion, ein Schutzmechanismus der Seele. Aber damit der Mensch an der Seele ganz gesund ist, muss er auch die negativen Emotionen zulassen und verarbeiten können.
Ashira Darwish arbeitet nun mit traumatisierten Kindern. Sie erzählt, dass die Kinder in Gaza sie einen traditionellen Tanz gelehrt hätten, der ihnen half, das Trauma zu überwinden.
Der Film erzählt furchtbare Geschichten, aber er erzählt auch von Lebenswillen, Hoffnung und Zusammenhalt. Er zeigt uns Bilder eines in seiner Kargheit auf faszinierende Weise schönen Landes, und diese Schönheit spiegelt sich in den Gesichtern der Menschen.
Der Film Where Olives Sweep ist über das Internet zugänglich. Der Zugriff für 48 Stunden kostet 5 Dollar. Zusätzliche Spenden sind möglich.
https://whereolivetreesweep.com
Solidarität
Eine Gruppe von Jüdinnen und Juden veröffentlichte jüngst die „Wiener antizionistische Erklärung“. Die Unterzeichneten verwahren sich gegen die Gleichsetzung von Judentum mit Zionismus. Auszüge aus der Erklärung:
„Wir, die Unterzeichnenden, unterstützen die palästinensischen Forderungen nach Gerechtigkeit, Selbstbestimmung und der vollen Gewährung aller menschlichen, nationalen, politischen und staatsbürgerlichen Rechte, wie sie im Völkerrecht verankert sind.
[…]
Wir, die Unterzeichnenden, halten fest, dass es nicht antisemitisch ist, auf die systematische rassistische Diskriminierung durch den Staat Israel hinzuweisen, dass es nicht antisemitisch ist, Israel Siedlerkolonialismus, Apartheid, ethnische Säuberung und Völkermord vorzuwerfen, dass es nicht antisemitisch ist, Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen gegen Israel als gängige, gewaltfreie Formen des politischen Protests zu fordern.“
Quelle:
https://www.palaestinasolidaritaet.at/2025-02-14-wiener-juedische-antizionistische-erklaerung/
https://www.juedisch-antizionistisch.at/
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Der gestrige 1. März war in Österreich bundesweiter Palästina-Aktionstag. Es gab Versammlungen in Oberösterreich, Tirol und der Steiermark. Die in Wien geplante Kundgebung wurde jedoch kurzfristig verboten (dazu mehr unten). In Graz veranstalte die Palästina Solidarität Steiermark eine Kundgebung am Eisernen Tor in Graz, bei der es auch einen Info-Tisch gab. Die Leitparole war: „From the river to the sea, all people will be free.“ Diese Parole ist eine Abwandlung der klassischen Parole der palästinensischen Befreiungsbewegung „From the river to the sea, Palestine will be free“. Letztere wird seit November 2023 vom österreichischen Innenministerium als „Aufforderung zu terroristischen Straftaten und Gutheißung terroristischer Straftaten“ (§ 282a StGB) gewertet und kann somit bestraft werden.
Hinter diesem Verbot steckt die Auffassung, dass die ursprüngliche Parole eine Aufforderung zur gewaltsamen Auflösung des Staates Israel ist (also zur Einrichtung eines rein palästinensischen Staates auf dem Gebiet des historischen Palästina, zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer). Die österreichischen Aktivist/inn/en erklärten jedoch stets, damit nichts anderes im Sinn zu haben als die Forderung nach gleichen Rechten für alle Menschen, die zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer leben, unabhängig von Rasse und Religionszugehörigkeit. Um anderen Deutungen vorzubeugen, wurde die neue Version kreiert: From the river to the sea, all people will be free.
Ein österreichisches Gericht urteilte, dass die neue Parole unbedenklich sei, also keine Aufforderung oder Gutheißung terroristischer Straftaten darstelle. Dennoch wurde in Wien schon eine Veranstaltung wegen der Verwendung dieser Parole aufgelöst und der Veranstalter verhaftet. Aus demselben Grund wurde die für gestern geplante Kundgebung verboten.
Die Veranstaltung der Palästina Solidarität Steiermark war auch ein Akt der Solidarität mit den Wiener Aktivist/inn/en und ein Beitrag zum Kampf um die Erhaltung der Redefreiheit in Österreich. Wir wollen uns diese schöne Parole auch in Zukunft nicht verbieten lassen.
Die Grazer Polizei, vertreten durch zwei uniformierte Beamte, schaute zu Beginn der Veranstaltung kurz vorbei, sah keinen Anlass einzuschreiten und offenbar auch keinen Anlass, die Veranstaltung zu beobachten.
Der Veranstalter, die Palästina Solidarität Steiermark (der ich mich nun angeschlossen habe) ist eine Teilorganisation der Steirischen Friedensplattform.
Quellen und Links:
http://www.friedensplattform.at/
https://de.wikipedia.org/wiki/From_the_River_to_the_Sea#%C3%96sterreich
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