Bild: Drei Männer tragen gemeinsam einen Leichnam, der in ein weißes Tuch gewickelt ist. [Ramez Habboub/Anadolu] Quelle: https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/5/6/live-israel-attacks-yemen-lebanon-syria-and-gaza-in-one-day (15.25)

Die Männer auf dem Bild tragen einen toten Angehörigen. Tiefe Trauer über den Verlust ist ihnen ins Gesicht geschrieben. Der Mensch in dem Leichentuch starb bei einem israelischen Angriff auf Beit Hanoun, im Nordosten Gazas. Die Männer tragen ihn vom Indonesischen Krankenhaus zur Bestattung nach Jabalia, das etwas weiter südlich liegt. Auf der Karte sieht das nach einem ziemlich langen Weg aus, jedenfalls zu Fuß, mit einer Leiche in den Armen.

Ich habe dieses Bild als Starter für meinen heutigen Blog-Beitrag gewählt, weil es für mich etwas Starkes ausdrückt, für das mir kein besseres Wort einfällt als „Würde“. Bei uns sagt man „einem Toten die letzte Ehre erweisen“, wenn man einem Trauerzug zum Begräbnis folgt. Doch bei uns sind die Toten in diesem Stadium fest in einem Sarg eingeschlossen, Deckel drauf und zu, und die Mühsal des Tragens zum Grab (ohnehin meist nur ein paar Meter von der Leichenhalle) übernehmen in der Regel bezahlte Arbeiter.

Doch diese Männer hier halten den Toten in den Armen wie ein großes Baby. Es ist ein letzter Liebesdienst. Der Tote wird ein letztes Mal als Mensch behandelt. Noch einmal wird ihm eine freundliche Berührung zuteil. Viele Menschen bei uns werden niemals so berührt, weder im Leben noch im Tod.

Der Tote wird mit Würde behandelt, und die, die ihn so behandeln, werden dadurch selber würdevoll. Jeder dieser drei Männer, in ihrer einfachen Kleidung und ihrer Trauer, strahlt für mich große Würde aus. Ich kann mir jeden von ihnen, genau so, wie sie hier dastehen, leicht im Gewand eines Königs oder eines Priesters vorstellen. Das ist mir wichtig, denn das, was jetzt folgt, sind Zitate, die den Palästinensern genau das absprechen wollen: Würde.

Das ist keine Nebensache. Als Philosophin vertrete ich die These, dass es im Prinzip unter allen Menschen auf der Welt weitgehende Übereinstimmung in Bezug auf grundlegende moralische Werte und Normen gibt. Dazu gehört, dass man andere Menschen nicht ermordet, nicht verstümmelt, nicht foltert, nicht absichtlich aushungert. Wie ist es dann aber möglich, dass immer wieder Menschen anderen Menschen genau diese Dinge antun?

Wie immer bei schwierigen Fragen gibt es mehrere Antworten. Aber ein wichtiger Aspekt ist dieser: Man muss die Opfer der eigenen Grausamkeit und Inhumanität zunächst entmenschlichen. Man muss sich selbst (und andere) davon überzeugen, dass die Opfer eigentlich gar keine Menschen sind, oder allenfalls sehr minderwertige Menschen, äußerlich menschenähnliche Wesen, die ihrer Natur nach nicht lebenswert sind und daher auch kein Recht auf Leben haben, nicht so wie die richtigen oder wertvolleren Menschen.

Ein zweiter wichtiger Aspekt ist die feste Überzeugung, dass von den unter-menschlichen Individuen eine immanente und existentielle Gefahr für die eigene Gruppe ausgeht, vor der man sich nur mit drastischen Mitteln schützen kann: mit brutaler Unterdrückung, mit Vertreibung oder, in letzter Konsequenz, mit Auslöschung.

Vermutlich sind beide Aspekte erst zusammen ausreichend für einen Genozid oder „ethnische Säuberungen“ in großem Maßstab. Denn nach gewöhnlichen Moralvorstellungen ist es ja auch nicht statthaft, nichtmenschliche Lebewesen zu quälen oder mutwillig zu vernichten. Beispielsweise tötet man streunende Hunde nicht einfach so. Da die israelische Armee auf Moral großen Wert legt, hat sie an ihre Soldaten die Direktive ausgegeben, dass streunende Hunde in Gaza nur dann erschossen werden dürfen, wenn sie eine unmittelbar Bedrohung darstellen, also wenn sie im Begriff sind, einen Soldaten anzufallen. Für Menschen in Gaza gab es solche Restriktionen hingegen nicht.

Es braucht also einerseits den Glauben an die eigene Höherwertigkeit und andererseits den Glauben an die Gefahr, die vom Minderwertigen ausgeht. Das war die Ideologie der Nationalsozialisten. Der Holocaust wäre wohl nicht möglich gewesen wäre, wenn diese Ideologie sich nicht in den Köpfen vieler Deutscher und Österreicher festgesetzt hätte. Ich denke, dass die folgenden Zitate zeigen, dass sich eine gleichartige Ideologie in der israelischen Gesellschaft breit gemacht hat. Ich denke außerdem, dass diese Ideologie erst ermöglicht, was nun in Gaza (aber auch im Westjordanland) geschieht. Durch diese Mischung aus Selbstüberhebung und paranoider Dämonisierung der Anderen ist der Mensch in der Lage, die natürlichen Regungen des Mitgefühls, des Gewissens und der Scham zu unterdrücken, die uns unter normalen Umständen gewisse Schranken auferlegen.

Ich fürchte, das ist keine besondere Schwäche der Deutschen oder der Juden oder der Araber, oder irgendeiner anderen Ethnie. Wahrscheinlich gibt es nur wenige Menschen, die davor gefeit sind, sich von solchen Überzeugungen beherrschen zu lassen. Es liegt nur eine besondere Tragik darin, dass gerade die Nachkommen jener Menschen, die Opfer einer solchen Ideologie wurden, nun selber – im Namen derselben Ideologie – zu Tätern werden.

Alle folgenden Zitate stammen von dieser Webseite: https://zionism.observer Es handelt sich um Aussagen von israelischen Jüdinnen und Juden über die Bewohner/innen Gazas oder Palästinenser im Allgemeinen. Jedes einzelne Zitat ist mit einer Quellenangabe versehen. Die meisten Original-Quellen sind auf Hebräisch, auf der Webseite sind die Zitate ins Englische übersetzt. Da ich selber leider kein Hebräisch verstehe, muss ich mich auf die Adäquatheit der englischen Übersetzungen verlassen. Ich selber werde die Zitate aus dem Englischen ins Deutsche übersetzen. Mir ist klar, dass dieses doppelte Übersetzen eine gewisse Unschärfe mit sich bringt. Aber das Gesamtbild, das entsteht, ist insgesamt dennoch deutlich genug.

Beachtenswert ist auch, dass die entmenschlichende Sprache keineswegs erst nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 auftritt, sondern schon Jahrzehnte früher. Die Zitate sind so angeordnet, dass die jüngsten zuerst kommen und die ältesten zuletzt.

Ein menschliches Wesen, das in einem Käfig in einem Zoo aufwächst, verhält sich am Ende wie ein menschliches Tier.

(Tamir Morag, Journalist, 25. Februar 2025)

Das palästinensische Volk wurde nur aus einem einzigen Grund erfunden: um die israelische Nation zu vernichten.

(Caroline Glick, Journalistin und Autorin, 22. Oktober 2024)

Lasst Tausend Kinder unseres Feindes weinen und nicht eines von unseren.

(Almog Cohen, israelischer Minister, 21. Oktober 2024)

Es heißt, Israel hätte einem temporären Waffenstillstand zugestimmt, um die Bewohner Gazas gegen Polio zu impfen. Wenn das wahr ist, dann ist das ein totaler Betrug des israelischen Volkes und der Geiseln in Gaza durch die israelische Regierung. Unverzeihlich!

(Uri Kurlianchik, Autor und Spieledesigner, 29. August 2024)

Ich denke, wir hätten schon gestern nach Rafah gehen sollen. … Es gibt dort keine unbeteiligten [Zivilisten]. Man muss reingehen und sie umbringen und umbringen und umbringen. … Wir müssen sie umbringen, bevor sie uns umbringen.

(Shimon Boker, Vize-Vorsitzender des Likud, 6. Mai 2024)

Wir hätten schon am ersten oder am zweiten Tag 100.000 Gazaner umbringen sollen. … Vielleicht sind ein paar von ihnen menschliche Wesen. Ungefähr 90 Prozent sind Terroristen und beteiligt. Keine Unbeteiligten. Es gibt keine unbeteiligten [Zivilisten].

(Danny Neuman, israelischer Sportkommentator, 6. Mai 2024)

Es gibt 2 Millionen Nazis in Gaza, die jeden Juden abschlachten, vergewaltigen und ermorden wollen.

(Bezalel Smotrich, Finanzminister, 15. April 2024)

Warum glauben Sie, dass es unmoralisch ist, jemandem Land wegzunehmen, der mich umbringen will?

(Amichay Eliyahu, Minister, 19. März 2024)

Wir haben es mit Monstern zu tun, Monster, die Kinder vor den Augen ihrer Eltern umgebracht haben. … Das ist eine Schlacht nicht nur von Israel gegen diese Barbaren, es ist eine Schlacht der Zivilisation gegen die Barbarei.

(Benjamin Netanjahu, Premierminister, 24. Dezember 2023)

Wenn es nach mir ginge, ich hätte D9-Bulldozer geschickt und hätte sie hinter die Erdwälle gestellt und hätte den Befehl gegeben, alle diese Ameisen lebendig zu begraben. … Sie sind keine menschlichen Wesen und keine menschlichen Tiere. Sie sind Untermenschen, und so sollen sie auch behandelt werden.

(Aryeh Yitzhak King, Stellvertretender Bürgermeister von Jerusalem, 8. Dezember 2023)

Kein Strom, kein Essen, kein Wasser, kein Gas. Es ist alles geschlossen. Wir kämpfen gegen Tiere und handeln entsprechend.

(Yoav Gallant, Israelischer Verteidigungsminister, 10. November 2023)

Es gibt keine Unschuldigen in Gaza. Es gibt keine gewöhnlichen Bürger in Gaza. Jeder Erwachsene wurde ausgebildet, um zu töten. Jede Frau ist ein Monster. Jeder Junge will ein Märtyrer werden. Jedes Baby wird aufwachsen, um ein Terrorist zu sein. Rottet sie aus, bringt sie um, zerstört sie, vernichtet sie.

(Yehuda Schlesinger, Journalist, 24. Oktober 2023)

Löscht die Erinnerung an sie aus. Löscht sie aus, ihre Familien, Mütter und Kinder. Diese Tiere können nicht länger leben. Jeder Jude mit einer Waffe sollte hinausgehen und sie umbringen. Wenn du einen arabischen Nachbarn hast, warte nicht. Geh’ zu seinem Haus und erschieß’ ihn.

(Ezra Yachin, israelischer Reservist, Teilnehmer an dem Deir-Yassin-Massaker von 1948, 13. Oktober 2023)

Ich will eine große Rache. … Ich hoffe wirklich, dass unsere Rache, die des Staates Israel an dem grausamen Feind, eine sehr große Rache sein wird. Ich nenne sie nicht menschliche Tiere, denn das wäre eine Beleidigung der Tiere.

(Sara Netanjahu, Ehefrau des Premierministers, 10. Oktober 2023)

Lügner, Jammerer, widerliche stinkende Loser. Sie gehen in Flip-Flops! Abstoßend. Wirklich, abstoßende Leute. Sie haben nichts Menschliches an sich. Aber es ist erstaunlich, dass die Welt nicht in der Lage ist, das zu sehen.

(Tzufit Grant, populäre israelische Schauspielerin, Dezember 2023)

Der Ausdruck “Unschuldiger Palästinenser” ist ein Oxymoron.

(Uri Kurlianchik, Autor und Spieledesigner, 5. Mai 2022)

Ich habe in meinem Leben eine Menge Araber umgebracht, und damit gibt es kein Problem.

(Naftali Bennett, 13. Premierminister Israels, 28. Juli 2013)

Wenn 2,5 Millionen Menschen in einem abgesperrten Gaza leben, dann wird das eine menschliche Katastrophe werden. Diese Leute werden noch größere Tiere werden als sie jetzt schon sind, mit Hilfe eines verrückten Islam. Der Druck an der Grenze wird furchtbar sein. Es wird ein furchtbarer Krieg. Also, wenn wir am Leben bleiben wollen, dann müssen wir töten und töten und töten. Den ganzen Tag, jeden Tag.

(Arnon Soffer, Berater von Sharon, 21. Mai 2004)

Zu Hause, in der Schule, in den Medien, beim Militär: Von klein auf wird den jüdischen Israelis der Kopf mit solchem toxischem Irrsinn zugemüllt. Wen kann es noch wundern, dass die Mehrheit der Bürger Israels kein Mitgefühl hat mit den Menschen in Gaza und den Menschen im Westjordanland?

Der Haken an der Sache ist: Wer andere entmenschlicht, verliert selbst seine Humanität. Wer anderen die Würde nehmen will, verliert selbst seine Würde.

Kann es Heilung für Israel geben?

Der jüdische Holocaust-Forscher Omer Bartov sagt in einem Interview mit dem Spiegel vom 27. Januar 2025:

„Eine Schocktherapie für Israel kann nur durch eine militärische Katastrophe oder durch massiven Druck von außen passieren. Ersteres ist momentan höchst unwahrscheinlich, weil Israel militärisch dafür zu stark ist. Letzteres wäre nach dem 7. Oktober möglich gewesen, wenn es eine andere US-Führung gegeben hätte. Und solcher Druck von außen würde Israel helfen, denn es könnte das Land vor den dunklen Mächten bewahren, die tagtäglich mächtiger werden. Aber es muss massiver Druck sein. Israel muss an die Grenzen seiner Macht stoßen.“

Die ganze Welt ist in der Pflicht, diesen heilsamen Druck auszuüben. Jetzt. Zum Wohle des palästinensischen und des jüdischen Volkes.


Kommentare

2 Antworten zu „Abgründe”.

  1. Avatar von cayhner
    cayhner

    Das faschistische Israel wird verschwinden müssen . . .

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    1. Auf jeden Fall muss der Faschismus verschwinden. Ob sich Israel ohne Faschismus neu erfinden kann, das weiß ich nicht. Ich würde es mir aber wünschen.

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