Der britische Außenminister David Lammy sagte zu den israelischen Plänen, alle Gaza-Bewohner auf einem winzigen Flecken zusammenzutreiben und mittelfristig aus dem Land zu schaffen: „Wir müssen das beim Namen nennen. Es ist Extremismus. Es ist gefährlich. Es ist abscheulich. Es ist monströs. Und ich verurteile es auf das Schärfste.“
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In meinem letzten Beitrag („Wind der Veränderung“) schrieb ich, dass sich das Bild Israels in der Welt verändert hat – auch in Europa. Jetzt, nur wenige Tage später, scheint es, dass sich diese veränderte Wahrnehmung in nennenswertem Ausmaß in politischem Handeln niederschlägt.
Den Anfang machten Großbritannien, Frankreich und Kanada mit einer gemeinsamen Erklärung zu Beginn dieser Woche. Darin hieß es, unter anderem: „Die Verweigerung von lebensnotwendiger humanitärer Hilfe für die Zivilbevölkerung ist inakzeptabel und könnte internationales humanitäres Recht verletzen.“ „Wir wenden uns gegen jeden Versuch, die Siedlungen im Westjordanland zu erweitern. […] Wir werden nicht zögern, weitere Schritte zu unternehmen, einschließlich gezielter Sanktionen.“
Ein Sprecher des französischen Außenministeriums bekräftigte die gemeinsame Ankündigung von Frankreich, Großbritannien und Kanada in einem individuellen Statement: Er warnte Israel vor Sanktionen, falls die Millitäroperation nicht beendet und ausreichend Hilfe in die Enklave gelassen wird. Man prüfe eine Reihe von Optionen.
Die vielleicht wichtigste Meldung der Woche: Eine klare Mehrheit von Mitgliedsländern der EU stimmten dafür, das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Israel zu überprüfen. Dieses Abkommen gewährt Israel erhebliche Erleichterungen für den Handel mit der EU. Ein Aussetzen dieses Abkommens würde Israels ohnehin angeschlagene Wirtschaft empfindlich treffen.
Es geht bei der angekündigten Überprüfung um Artikel 2 des Abkommens. Darin steht nämlich, dass die Einhaltung der Menschenrechte eine Voraussetzung dieses Abkommens sei. 17 der 27 Mitgliedsländer der EU stimmten gestern dafür, zu überprüfen, ob diese Voraussetzung erfüllt ist, und gegebenenfalls das Abkommen aufzukündigen. Unter anderem Deutschland, Österreich und Ungarn stimmten dagegen.
Vor der gestrigen Abstimmung hatten Dutzende europäische Gewerkschaften die EU-Außenministerin Kaja Kallas und den Kommissar für Handel und wirtschaftliche Sicherheit Maroš Šefčovič aufgefordert, das EU-Israel-Assoziierungsabkommen auszusetzen. Die unterzeichneten Gewerkschaften stammen aus Spanien, Belgien, Frankreich, Irland, Italien, den Niederlanden und Norwegen.
Außerdem hatten am Wochenende in Den Haag mehr als 100.000 Menschen gegen den Krieg in Gaza protestiert und die sofortige Aufhebung des Assozierungsabkommens mit Israel gefordert.
Für ein tatsächliches Aufkündigen des Abkommens wäre allerdings ein einstimmiger Beschluss erforderlich, der in absehbarer Zukunft nicht zu erwarten ist. Dennoch zeigt das Abstimmungsergebnis, dass sich Europas Verhältnis zu Israel grundlegend verändert hat. Das wird nicht ohne Folgen bleiben.
Eine kurzfristige Folge könnte zum Beispiel das Aussetzen eines anderen EU-Israel-Abkommens sein, welches Israel politisch stärker in die EU einbinden soll. Es steht ein Beschluss über die Verlängerung dieses Programms für weitere zwei Jahre an. Die Niederlande haben bereits angekündigt, dieser Verlängerung nicht zuzustimmen.
Darüber hinaus gibt es ja noch bilaterale Abkommen und nationale Gesetze. Großbritannien kündigte an, die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit Israel auszusetzen. Die jüdische Vereinigung Yachad UK begrüßt die Sanktionsankündigungen der britischen Regierung. In einem Statement der Gruppe heißt es:
„Unsere Gemeinschaft spricht nicht mit einer Stimme, und wir repräsentieren die Stimmen von Tausenden britischer Juden und Israelis, die zutiefst beunruhigt sind über die humanitäre Situation am Boden in Gaza, die Preisgabe der Geiseln, die Aufrufe zur ethnischen Säuberung der Bewohner von Gaza und die Siedlergewalt gegen die Palästinenser im Westjordanland.“
Katalonien schließt sein Handelsbüro in Tel Aviv. Der irische Außenminister Simon Harris kündigte einen Boykott von Produkten aus israelischen Siedlungen an. Schweden drängt auf EU-Sanktionen gegen einzelne israelische Minister.
Spanien fordert den Ausschluss von Israel aus dem ESC (European Song Contest). In Anspielung auf den Umgang mit Russland sagte der sozialistische Politiker: „Wir dürfen keine doppelten Standards in der Kultur zulassen.“ Niemand habe sich empört, als Russland wegen der Invasion der Ukraine vom ESC ausgeschlossen wurde. „Dasselbe sollte auch für Israel gelten“, sagte Sánchez.
Mehrere europäische Länder bestellten heute ihre israelischen Botschafter ein, nachdem israelische Soldaten auf eine Gruppe von Diplomaten bei einem Besuch in Dschenin Warnschüsse abgefeuert hatten.
Quellen:
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/5/21/live-israel-blocking-food-medicine-has-led-to-326-deaths-in-gaza (14.15, 14.30, 15.15, 22.30)
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/5/20/live-israeli-allies-say-they-will-take-concrete-actions-over-gaza-siege (14.40, 16.20, 18.30)
https://www.sueddeutsche.de/politik/eu-israel-assoziierungsabkommen-debatte-sanktionen-li.3256455
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/5/18/live-israel-kills-24-in-gazas-al-mawasi-resumes-truce-talks-with-hamas (14.20, 15.40, 17.55)
https://www.tagesschau.de/ausland/europa/eu-assoziierungsabkommen-israel-100.html
In Gaza geht das Sterben weiter
Ende vergangener Woche, am 18. Mai, erklärte der israelische Premierminister Netanjahu, Israel werde nun wieder „minimale humanitäre Hilfe“ (Essen und Medikamente) für Gaza erlauben, um eine Hungersnot zu verhindern. Die Verteilung solle vorerst noch von den vor Ort vorhandenen internationalen Hilfsorganisationen vorgenommen werden.
Netanjahu begründete diesen Schritt damit, dass eine Hungersnot „den Erfolg der kürzlich gestarteten Militäroffensive in Gaza gefährden“ würde. Er erklärte: „Unsere besten Freunde in der Welt … Senatoren, die ich als starke Unterstützer Israels kenne – haben gewarnt, dass sie uns nicht unterstützen können, wenn Bilder von massenhaftem Verhungern auftauchen.“ Man werde den Krieg weiterführen, aber: „Wir müssen es auf eine Weise tun, dass man uns nicht aufhalten wird.“
Damit gibt Netanjahu offen zu, dass die minimale Lockerung der Blockade auf internationalen Druck (nicht zuletzt der USA) erfolgt und ausschließlich aus taktischen Gründen geschieht: Das Weltgewissen soll beruhigt werden, damit das Morden ungestört weitergehen kann.
Freilich, egal, aus welchen Motiven die Hilfe erfolgt, sie ist mehr als willkommen und kommt keinen Tag zu früh. Am 20. Mai (also zwei Tage nach Netanjahus Ankündigung) warnte die UNO, dass bis zu 14.000 Babys innerhalb der nächsten 48 Stunden sterben könnten, wenn keine Hilfe kommt. Israel genehmigte für den ersten Tag der Aktion (also den 19. Mai) die Einfuhr von neun LKW nach Gaza. Inzwischen (am Tag 4 nach Netanjahus Ankündigung) sollen es ca. 100 LKW über die Grenze geschafft haben. Zum Vergleich: Vor dem Krieg kamen täglich ca. 500 LKW mit Gütern nach Gaza. Tausende LKWs mit Hilfsgütern stehen an der Grenze bereit.
Aber es geht noch schlimmer. Bis Stand gestern Abend konnte nicht ein einziger LKW von diesem „Tropfen im Ozean“ zu den notleidenden Menschen gelangen. Die LKWs durften zwar die Grenze passieren, steckten aber dann an der anderen Seite der Grenze fest. Über die Gründe konnte ich folgende Meldungen finden: Mitarbeiter von Hilfsorganisationen wollten die LKW auf der anderen Seite der Grenze in Empfang nehmen, aber das israelische Militär erlaubte das zunächst nicht. Gestern, am 21. Mai (also am Tag 3 nach Netanjahus Ankündigung) kam die Meldung, dass die israelische Armee die Übernahme der Hilfslieferungen erlaubt hatte – jedoch nur für eine einzige Route. Diese Route wurde jedoch von den Hilfsorganisationen als besonders gefährlich eingeschätzt. Es bestünde dort eine hohe Wahrscheinlichkeit für Plünderungen. Das sagte Stephane Dujarric, der Sprecher des UN-Chefs Antonio Guterres.
Diese zynischen Spielchen sind nicht neu. Bereits vor dem Waffenstillstand zu Beginn des Jahres berichteten Hilfsorganisationen über ständige Schikanen und Verzögerungen ohne erkennbaren sachlichen Grund. Außerdem wurden den Hilfskonvois gefährliche Routen aufgezwungen. Es kam immer wieder zu Plünderungen durch bewaffnete Banden – bemerkenswerterweise vor allem in Gebieten, die von der israelischen Armee kontrolliert wurden. Dies erregte den Verdacht, dass die Plünderer von der israelischen Armee zumindest geduldet wurden. Die israelische Armee behauptete, die Plünderer wären von der Hamas gewesen, wofür es keine Beweise gibt. Es gab Fälle, wo Zivilschutzmitarbeiter, die die Hilfskonvois schützen sollten, von der israelische Armee angegriffen wurden. Israel hat also alles getan, um Chaos zu stiften – um dann den Hilfsorganisationen vorzuwerfen, dass sie nicht in der Lage seien, eine geordnete Verteilung der Hilfsgüter zu organisieren.
In letzter Zeit kam es vermehrt zu Plünderungen durch ganz gewöhnliche verzweifelte Menschen. Das sind Auswirkungen der extremen Not.
Nach neuesten Meldungen sind in der Nacht von gestern auf heute nun endlich die ersten Hilfslieferungen in Gaza eingetroffen. Doch die israelische Armee arbeitet weiterhin mit Fleiß daran, die Verteilung der wenigen Güter zu behindern. Während ich an diesem Artikel schreibe, erfährt die Welt, dass die israelische Armee ein wichtiges Medikamentenlager bombardiert hat. Viele Straßen sind zerstört, und die ständigen Luftangriffe der israelischen Armee machen jede Tour lebensgefährlich für die Fahrer.
Unterdessen gehen die Luftangriffe in Gaza mit unverminderter Intensität weiter. In der ersten Hälfte des heutigen Tages wurden dadurch mindestens 38 Menschen getötet, gestern mindestens 71, und die Tage davor ebenso. Viele der Opfer können nicht geborgen werden und werden dann auch nicht gezählt.
Die israelische Armee greift gezielt Generatoren an, die Strom für den Betrieb der noch teilweise in Betrieb befindlichen Krankenhäuser erzeugen.
Finanzminister Smotrich sagt im Armeeradio, das Ziel der Operation sei, ganz Gaza dem Erdboden gleich zu machen. Das ist nichts Neues, doch die folgende Bemerkung fand ich philosophisch interessant: „every house we destroy is considered a tunnel in our view.“ Smotrich und seine Gleichgesinnten betrachten also jedes beliebige palästinensische Haus als „Tunnel“, also als ein für Kampfzwecke genutztes Gebäude (und damit als legitimes militärisches Ziel). Es spielt gar keine Rolle, ob es wirklich militärisch genutzt wird. Es wird so betrachtet, und das genügt. Analog betrachten Smotrich und Konsorten jeden palästinensischen Menschen als Terroristen (und damit als legitimes militärisches Ziel). So gesehen sind die Erklärungen der israelischen Armee, man halte sich strikt an internationales Recht und greife nur militärische Ziele an, vielleicht nicht einmal gelogen. Es ist vielleicht wirklich ihre Sicht der Dinge.
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Eine Stimme der Vernunft aus Israel
Am 20. Mai erschien auf der Webseite des ORF (der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt Österreichs) ein ungewöhnlicher Bericht über Kritik aus der israelischen Opposition am israelischen Regierungskurs. Hier Auszüge daraus:
„Der Chef des israelischen linken Oppositionsbündnisses, Jair Golan, hat heute Früh scharfe Kritik an der rechtsgerichteten Regierung wegen der vielen palästinensischen Todesopfer im Gazastreifen geübt. Im Interview mit dem öffentlich-rechtlichen Radiosender Reschet Bet sagte Golan heute Früh: Israel sei auf dem Weg, ein Staat zu werden ,wie einst Südafrika, wenn er sich nicht ändert und sich wie ein vernünftiger Staat verhält‘.
[…]
Golan betonte, ,ein vernünftiger Staat kämpft nicht gegen Zivilisten, tötet nicht Kinder als Hobby und macht es sich nicht zum Ziel, die Bevölkerung zu vertreiben‘. Golan kritisierte die Regierung auch direkt und meinte, diese sei ,voll rachsüchtiger Typen, denen Verstand und Moral fehlen und die nicht fähig sind, einen Staat in einer Krise zu führen‘. Er rief dazu auf, die Regierung so schnell wie möglich zu wechseln, damit der Krieg beendet werde.
[…]
Golans Bündnis Die Demokraten besteht aus der Arbeiterpartei und der – mittlerweile nicht mehr in der Knesset vertretenen – Merez. Die Arbeiterpartei – sie war jahrzehntelang die führende Partei des Landes – ist mit nur noch vier (von insgesamt 120) Abgeordneten eine der zwei kleinsten Fraktionen und hat entsprechend wenig politisches Gewicht, selbst innerhalb der weitgehend gelähmten Opposition.
Golan ist aber mittlerweile zu einer Art Sprachrohr vieler regierungskritischer Israelis geworden, die der Regierung vorwerfen, den Gaza-Krieg absichtlich in die Länge zu ziehen.“
Quellen:
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/5/21/live-israel-blocking-food-medicine-has-led-to-326-deaths-in-gaza (14.50, 15.05, 16.55)
https://www.facebook.com/ihre.sz/videos/warum-die-hilfe-f%C3%BCr-gaza-nicht-ankommt/3920532391531117
https://www.tagesschau.de/ausland/asien/israel-gaza-hilfen-100.html
https://www.dropsitenews.com/p/netanyahu-trump-gaza-aid-genocide-smotrich-ceasefire-hamas
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