Am 8. August verkündete der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz, dass „die Bundesregierung bis auf Weiteres keine Ausfuhren von Rüstungsgütern, die im Gazastreifen zum Einsatz kommen können“, genehmigen werde. So reagierte Merz auf die Ankündigung der israelischen Regierung, den Krieg in Gaza auszuweiten und Gaza-Stadt einzunehmen – das letzte Gebiet im Norden, in dem noch eine große Zahl von Palästinensern lebt. Die Einnahme von Gaza-Stadt bedeutet, dass erneut Hunderttausende vertrieben werden, gezwungen sich in die Lager im Süden zu begeben, wo jetzt schon kaum mehr Platz ist für weitere Zelte – von Nahrung, Wasser und medizinischer Versorgung ganz zu schweigen. Das ist der nächste Schritt zur Umsetzung des israelischen Plans, die Bevölkerung Gazas im Süden zu „konzentrieren“ und in weitere Folge zur Migration zu zwingen.
Auch wenn Merz nicht direkt so argumentiert, hat die israelische Regierung mit der letzten Entscheidung offenbar seine persönliche rote Linie überschritten. Dies gilt jedoch nicht für alle in seiner Partei (der CDU) und noch weniger für die Schwesterpartei CSU und die FDP. Bei diesen stieß die Entscheidung des Kanzlers auf harsche Kritik – wie natürlich auch bei der israelischen Regierung und ihren Handlangern in Deutschland.
Ich möchte dazu eine israelische Stimme zu Gehör bringen, nämlich die von Gideon Levy, dem Mitherausgeber der israelischen Tageszeitung Haaretz. Hier sind Auszüge aus seinem Artikel vom 9. August:
Deutschland hat angekündigt, die Ausfuhr von militärischer Ausrüstung, die im Gazastreifen eingesetzt werden könnte, nach Israel einzustellen. Das Deutschland nach dem Holocaust musste diese Entscheidung treffen: Hätte es weiterhin Waffen an ein Land geliefert, das Völkermord begeht, hätte dies bewiesen, dass es nichts aus seiner Vergangenheit gelernt hat.
[…]
Mit der Verhängung eines teilweisen Waffenembargos gegen Israel hat Deutschland bewiesen, dass es an der Spitze Europas steht und den Holocaust und seine Lehren nicht vergisst. Ein Deutschland, das Israel weiterhin mit Waffen beliefert hätte, wäre wie alle derzeitigen Waffenlieferanten Israels zu seinem Komplizen beim Völkermord geworden. Und das darf Deutschland mehr als jedes andere Land der Welt nicht tun.
[…]
Angesichts der unglaublichen Unterstützung durch die Vereinigten Staaten und der erstaunlichen Ohnmacht der Opposition in Israel gibt es niemanden, der den Krieg stoppen kann. Europa kann dazu beitragen, ihn zu beenden, wenn auch nicht sofort.
Aber über den Wunsch hinaus, den Krieg zu beenden, ist die Lieferung von Waffen an Israel ein Akt der Feindseligkeit gegenüber diesem Land. Wenn nur die Amerikaner das verstehen würden. Deutschland hat die Macht, den Kurs zu bestimmen: Die Sorge um das Schicksal Israels beinhaltet nicht, es zu bewaffnen, damit es seine wahnsinnigen Pläne in Gaza umsetzen kann.
Anstatt alle Demonstranten gegen Israel und gegen den Krieg weiterhin als Antisemiten zu betrachten, als zynische und wirksame Manipulation durch die jüdische und israelische Propaganda, sollten wir vielmehr diejenigen als Antisemiten betrachten, die Israel bewaffnen.
Quellen:
https://orf.at/stories/3402044/
https://www.haaretz.com/opinion/2025-08-09/ty-article-opinion/.premium/germanys-arms-embargo-on-israel-isnt-betrayal-its-a-moral-reckoning/00000198-9001-d2b6-a9d9-bde3a56c0000 [Englisches Original. Die Übersetzung ins Deutsche stammt von Ekkehard Drost. Ich leite den ganzen Text gern an Interessierte weiter!]
Keine Hilfe für Gaza
Die Zahl der offiziell registrierten Hungertoten in Gaza liegt jetzt bei 251 (Stand 16. August). Die israelische Regierung bestreitet, dass es eine Hungersnot in Gaza gibt. Sie verweist auf die „humanitäre Hilfe“ die durch die sog. „Gaza Humanitarian Foundation“ (GHF) verteilt wird, auf die Einfuhr von Hilfsgütern zur Verteilung durch internationale Hilfsorganisationen und auf Nahrungsmittelabwürfe aus der Luft, die Israel erlaubt hat. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass keine dieser „Hilfsmaßnahmen“ (und auch nicht alle zusammengenommen) die menschengemachte humanitäre Katastrophe in Gaza auch nur spürbar lindern, geschweige denn beenden können.
Im besten Fall verlangsamen diese Maßnahmen das Sterben in Gaza ein wenig, im schlimmsten Fall führen sie direkt oder indirekt zu noch mehr Leid und Tod. Letzteres gilt insbesondere für die GHF-Verteilstellen.
Die in Frankreich gegründete internationale Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (Medecins sans frontieres, kurz MSF) veröffentlichte am 7. August einen neuen Bericht. Titel: „This is not aid. This is orchestrated killing“ (etwa: „Das ist keine Hilfe. Das ist inszenierter Mord.“)
MSF betreibt zwei medizinische Einrichtungen in der Nähe von GHF-Verteilpunkten. Als die GHF mit ihrer Lebensmittelverteilung begann, stieg die Anzahl der verwundeten Patienten, die die Einrichtung aufsuchten, dramatisch an. Immer dann, wenn an diesen GHF-Punkten Verteilungen angekündigt waren, folgte eine Flut von verletzten Patienten, viele davon mit Schusswunden.
Die Art der Verletzungen folgte einem bestimmten Muster: Entweder überwiegend Schüsse in den Oberkörper (Kopf, Nacken, Brust, Bauch) oder überwiegend Schüsse in die Beine. Die Ärzte schließen daraus, dass viele Opfer gezielt ins Visier genommen wurden. Aber es gab auch Fälle, wo einfach drauflosgeschossen wurde, vor allem aus der Luft. Die Mehrheit der Opfer sind junge Männer, aber es sind auch Frauen und Kinder darunter.
Es gehen deshalb vor allem junge Männer zu diesen Verteilstellen, weil dieser Weg nicht nur gefährlich ist, sondern auch Kraft erfordert. Viele Menschen nehmen stundenlange Nachtmärsche auf sich, um rechtzeitig vor Ort zu sein. Die zur Verteilung bereitgestellten Lebensmittel reichen immer nur für einen kleinen Teil der Hilfesuchenden. Es gibt keinerlei geregeltes Verteilsystem. Kisten werden aufgestapelt, irgendwann werden die Tore geöffnet, und dann beginnt das große Rennen und Rempeln. Nur wer ganz vorne dabei ist, schnelle Beine hat und in der Lage ist, sich gegen Konkurrenten – notfalls auch mit Gewalt – durchzusetzen, hat eine Chance, etwas zu ergattern. Dazu kommt die Gefahr, auf dem Heimweg beraubt zu werden. „Die Menschen sind gezwungen, im wörtlichen Sinne um Nahrung zu kämpfen, um zu überleben. Sie sind im Wesentlichen ihrer Menschenwürde beraubt. Das ist geplante Entmenschlichung.“
Ein 39jähriger Vater von acht Kindern berichtet:
Ich bin ein gewöhnlicher Bürger, ich habe einen Universitätsabschluss, bin verheiratet. Ich habe Kinder – Kinder, die ich nicht einmal ernähren kann. Ich bin einfach losgegangen, mit den anderen. Es hieß, es gebe amerikanische Hilfe oder sonst eine Unterstützung. Ich wusste nichts Genaues, ich bin einfach losgegangen, um irgendetwas zu bekommen, einen Sack Mehl oder ein paar Konserven für die Kinder.
Wir gingen stundenlang. Während man geht, weint man automatisch – nicht nur um sich selbst, sondern um die Leute, um alle. Im Sand in der Nähe des Meeres wurde ich plötzlich beschossen. Zwei Schüsse trafen mich ins Bein. Niemand konnte mir helfen oder mich tragen. Denn jeder – jeder – war erschöpft.
Ein 23jähriger Mann berichtet:
Wir kamen an und begannen, uns vorwärts zu bewegen. Andere Leute waren schon vor uns. Wir kamen in die Nähe des Al-Alam-Kreisverkehrs. Gegen 3 Uhr morgens brach heftiges Gewehrfeuer los. Es gab Gewehrfeuer von einem Quadcopter, von einem Apache-Hubschrauber, von Panzern, von Kriegsschiffen und von den Soldaten. Es gab viele Verletzte.
Eine Kugel traf mein Bein. Zuerst dachte ich, mein Bein wäre kaputt. Ich trug Jeans und einen Gürtel. Ich nahm den Gürtel ab und band das Bein damit ab.
Wir blieben in diesem Bereich eingeschlossen bis etwa 5 Uhr morgens. Ich blutete von 3 Uhr 10 bis 5 Uhr. Ständiges Bluten. Da waren viele junge Kerle um mich herum. Einer von ihnen versuchte, mich aus der Gefahrenzone zu bringen. Er wurde in den Kopf geschossen und starb an meiner Brust.
Ein weiterer Zeuge erzählt:
Wenn du [an einem GHF-Verteilpunkt] ankommst, scheint es, als hätten sich dort zwei Millionen Menschen versammelt, für fünf Palletten mit Nahrungsmitteln. Sie sagen dir, du kannst reinkommen, dann gehst du und schnappst dir, was du kannst – vielleicht eine Dose Bohnen oder Hummus. Dann, eine Minute später, kommt Gewehrfeuer aus allen Richtungen. Granaten, Gewehrfeuer – du kannst nicht einmal deine Dose Hummus festhalten. Du weißt nicht, wo das Gewehrfeuer herkommt.
Die Leute rennen sich über den Haufen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viele Menschen rennen. Du weißt nicht, wer zu wem gehört – jeder will nur fliehen. Ich merkte nicht einmal, dass ich angeschossen wurde. Während ich rannte, stürzte ich zu Boden. Alle schrien.
Nicht alle Opfer der GHF-„Hilfe“ starben durch Gewehrfeuer. Dutzende Hilfesuchende erstickten in der Menge. Viele andere trugen Verletzungen von Stacheldraht davon, in den sie gedrückt wurden. Es gibt auch nicht-tödliche Gewalt: Vielen Menschen wurde aus nächster Nähe Pefferspray ins Gesicht gesprüht.
Die Ärzte ohne Grenzen verlangen die Schließung der GHF-Verteilstellen: „Das ist keine humanitäre Hilfe. Das ist institutionalisierte Gewalt, die einer hungernden Bevölkerung angetan wird, unter dem Banner von ,Hilfe‘. […] Das muss sofort aufhören.“
Der vollständige Bericht kann hier heruntergeladen werden:
https://www.msf.org/not-aid-orchestrated-killing
Quellen:
https://www.msf.org/not-aid-orchestrated-killing
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Insgesamt sechs Länder beteiligen sich inzwischen an der „Luftbrücke“ für Gaza: Jordanien, Deutschland, Italien, Griechenland, die Niederlande und die Vereinigten Arabischen Emirate. Sie werfen Hilfslieferungen für Gaza aus dem Flugzeug ab. Hilfsorganisationen haben von Anfang an diese Art von Hilfslieferungen als ineffektiv und gefährlich kritisiert. Was aus der Luft abgeworfen wird, entspricht der Warenmenge, die von wenigen LKWs transportiert werden könnte.
Das Gesundheitsministerium in Gaza meldet, dass inzwischen mindestens 23 Menschen in Zusammenhang mit diesen Abwürfen ums Leben gekommen sind. 124 wurden verletzt. Eines der Probleme ist, dass die Abwürfe nicht punktgenau platziert werden können. 13 Menschen ertranken bei dem Versuch, Hilfsgüter, die ins Meer gefallen waren, zu erreichen. Andere wurden von israelischen Soldaten erschossen, weil die Hilfspakete in Gebiete gefallen waren, die für Palästinenser verbotene Zonen sind. Manchmal öffnen sich die Fallschirme nicht.
Quellen:
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Seit Ende Juli – als Israel der EU zugesagt hatte, die Blockade zu lockern – durften durchschnittlich 85 LKWs pro Tag mit HIlfsgütern mit LKWs die Grenze zu Gaza passieren. Nötig wären mindestens 600 LKWs pro Tag.
Nur sehr wenig von diesen Hilfsgütern kann von den Hilfsorganisationen selbst an die Bedürftigen verteilt werden. Die meisten werden auf dem Weg geplündert – entweder von bewaffneten Banden (die von Israel unterstützt werden) oder von verzweifelten Bewohnern. LKW-Lenker werden von bewaffneten Banden ermordet. Hilfesuchende werden von der israelischen Armee regelmäßig beschossen.
Vor wenigen Tagen wurde ein LKW mit Hilfsgütern von der israelischen Armee gezwungen, eine stark zerstörte Straße zu nehmen. Der LKW stürzte um und begrub Dutzende Hilfesuchende unter sich. 20 Menschen starben dabei.
Quellen:
https://www.aljazeera.com/news/2025/8/5/how-much-aid-has-entered-gaza-5
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/8/5/live-israel-kills-74-in-past-day-as-trickle-of-aid-trucks-enters-gaza (12.30, 15.15)
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