Trump behauptete vollmundig, der Krieg in Gaza sei jetzt vorbei. Das ist offenkundig falsch. Vereinbart wurde nur ein Waffenstillstand, und auch dieser wurde von israelischer Seite vom ersten Tag an gebrochen.
Ungleich an Würde?
Die Hamas hat alle noch lebenden israelischen Gefangenen innerhalb von 72 Stunden dem Roten Kreuz übergeben. Sie wurden umgehend nach Israel gebracht. Ihre Ankunft dort wurde mit großem Jubel gefeiert.
Inzwischen wurden knapp 2.000 palästinensische Gefangene aus israelischen Gefängnissen freigelassen. Etwa 200 davon waren Gefangene mit langjährigen Haftstrafen. Mehr als 150 von diesen wurden sofort nach Ägypten deportiert – entgegen der Waffenstillstandsvereinbarung.
Die meisten der freigelassenen palästinensischen Gefangenen waren im Laufe des Krieges in Gaza festgenommen und nach Israel verschleppt worden, viele wurden ohne Anklage und Verfahren inhaftiert. Die freigelassenen Häftlinge berichten durchweg von unmenschlichen Haftbedingungen, permanenten Misshandlungen und Folter. Die medizinischen Untersuchungen bestätigen ihre Angaben.
Palästinensische Gefangene berichteten, noch bis kurz vor ihrer Freilassung geschlagen worden zu sein. Am Tag der angekündigten Freilassung hatten sich Angehörige, aber auch Journalisten, vor dem Ofer-Gefängnis versammelt. Die israelische Armee beschoss die Menge mit Rauchbomben und Gummimantelgeschoßen.
Häuser von Freigelassenen aus dem Westjordanland wurden von israelischen Soldaten gestürmt und geplündert, die Einrichtung teilweise verwüstet. Der Bruder eines Freigelassenen wurde von israelischen Soldaten brutal zusammengeschlagen. Er erlitt Knochenbrüche.
Als zu Beginn dieses Jahres israelische Gefangene gegen palästinensische Gefangene ausgetauscht wurden, war es ganz ähnlich. Einen Unterschied gibt es aber doch: Damals war nicht nur in Israel, sondern auch hierzulande die Empörung groß über die angeblich entwürdigenden Begleitumstände der Freilassung der israelischen Gefangenen in Gaza. Die Hamas hatte aus der Freilassung eine große öffentliche Show gemacht. Auf einer Bühne wurden die israelischen Gefangenen verabschiedet, in einem Fall vor einem großen Gemälde, das Netanjahu als Vampir darstellte, der den israelischen Geiseln das Blut aus dem Leib saugt. Netanjahu war auf dem Bild nicht schlecht getroffen. Die Hamas-Kämpfer trugen Uniform und waren maskiert. Die israelischen Gefangenen waren ordentlich gekleidet, konnten auf eigenen Beinen gehen, und einer küsste zum Abschied einen seiner maskierten Wächter.
Dieses Mal verzichtete die Hamas auf jegliche Sieges-Inszenierung. Die Israelis verzichteten jedoch nicht auf die Misshandlung der palästinensischen Gefangenen und auf das Terrorisieren der Angehörigen.
Die hiesigen Medien waren voll von ausführlichen Geschichten über die Wiedervereinigung der israelischen Gefangenen mit ihren Familien. Den Schicksalen der palästinensischen Gefangenen und ihrer Familien wurde, falls überhaupt, sehr viel weniger Raum gegeben.
Manche der freigelassenen Palästinenser erfuhren erst nach ihrer Ankunft in Gaza, dass ihre Frau und ihre Kinder nicht mehr am Leben sind. Andere wiederum waren überrascht, ihre Liebsten wiederzusehen. Denn man hatte ihnen im Gefängnis gesagt, sie wären alle tot – eine Form der psychologischen Folter.
Manche Familien von Freigelassenen wussten nicht, dass ihr Bruder/Sohn/Vater überhaupt noch am Leben ist – bis zu dem Moment als der Vermisste in Gaza aus dem Bus stieg. Tausende Einwohner Gazas werden vermisst. Viele Menschen wissen nicht, ob ihre Angehörigen irgendwo unter Trümmern liegen, an einem unbekannten Ort in Gaza verscharrt wurden, in einem israelischen Gefängnis ums Überleben kämpfen, oder ob deren Leichen von der israelischen Armee gestohlen wurden.
Geschichten wie diese – sie interessieren hierzulande nicht. Da redet man lieber davon, dass Israel für die Freilassung der 20 gefangenen israelischen Soldaten einen „hohen Preis“ bezahlt habe, da doch die Freilassung so vieler „Massenmörder“ die Sicherheit Israels gefährde.
Nur selten werden dabei Fragen gestellt wie diese: Wie viele der Freigelassenen wurden tatsächlich wegen Mordes verurteilt? Aufgrund welcher Beweise? Hatten die Verurteilten ein faires Verfahren? Wie fair kann ein Verfahren überhaupt sein unter den Bedingungen der Besatzung? Wie objektiv kann ein Richter sein, der von Kindesbeinen an gelernt hat, dass alle Palästinenser Terroristen sind? Wie viele der Freigelassenen wurden ohne Anklage inhaftiert? Wie viele der Freigelassenen wurden inhaftiert für einen Steinwurf, einen kritischen Post in sozialen Medien oder einfach, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren?
Hiesige Mainstream-Medien vermeiden es nach Möglichkeit, palästinensische Menschen als Menschen zu zeigen. Palästinenser kommen hierzulande meist entweder als gesichtslose Bedrohung vor („Terroristen“) oder als verelendete Masse.
Ca. 10.000 Palästinenser, darunter auch Minderjährige, sind noch in israelischer Haft. Die meisten wurden Opfer willkürlicher Massenverhaftungen, entweder in Gaza oder im Westjordanland.
Einige Prominente sind auch darunter, unter anderem der populäre palästinensische Politiker Marwin Barghouti, und prominente Ärzte, wie Dr. Hussam Abu Safiyah. Marvin Barghouti wurde inhaftiert, weil er an der Planung eines Terroranschlags beteiligt gewesen sein soll. Barghouti erklärte, er erkenne das israelische Militärgericht nicht an, er lehne jedoch Gewalt gegenüber Zivilisten ab. Barghouti ist für Israel in der Tat ein gefährlicher Mann. Denn manche meinen, er hätte das Potential, die Palästinenser zu einen.
Über Dr. Abu Safiyah habe ich in diesem Blog mehrfach berichtet. Die ursprüngliche Anklage wegen Terrorismus gegen ihn haben die Israelis nach langen qualvollen Verhören fallenlassen. Dr. Abu Safiyah sitzt jetzt seit bald 10 Monaten ohne Anklage in Haft. Er wurde gefoltert, sein Gesundheitszustand ist schlecht. Sein Verbrechen bestand darin, dass er sich weigerte, seine Patienten und Mitarbeiter im Stich zu lassen, und der Welt Zeugnis zu geben über die Zustände in seinem Krankenhaus. Er ließ sich davon auch nicht abhalten, nachdem man seinen Sohn ermordet hatte und ein Mordanschlag auf ihn selbst nur knapp gescheitert war. Er wird in Gaza als Held verehrt – zu Recht.
Blutiger Waffenstillstand
Nach Angaben der Verwaltung in Gaza hat Israel inzwischen den derzeit geltenden Waffenstillstand ca. 50 Mal verletzt. Dabei wurden 51 Menschen getötet und 150 verwundet. Israel begründet die Angriffe damit, dass sich Zivilisten den israelischen Soldaten „genähert“ oder die imaginäre „Gelbe Linie“ (die derzeitige Waffenstillstandslinie) überschritten hätten.
Die Überschreitung der „Gelben Linie“ wird von den Behörden in Gaza zumindest in einem Fall bestätigt: 11 Mitglieder einer Familie hatten die Waffenstillstandslinie in ihrem Fahrzeug überschritten. Die israelische Armee griff das Fahrzeug an. Alle 11 Menschen kamen ums Leben, darunter sieben Kinder.
Dazu muss man wissen, dass die „Gelbe Linie“ nirgends sichtbar markiert ist. Viele Palästinenser wissen nicht, wo genau sie verläuft und wo die israelischen Soldaten stationiert sind. Unabsichtliche Überschreitungen sind daher leicht möglich. Könnten die israelischen Soldaten in so einem Fall nicht Warnschüsse abgeben, oder Drohnen mit Lautsprechern losschicken?
In den vergangenen Tagen gab es immer wieder Kämpfe zwischen der Hamas und bewaffneten kriminellen Banden, die von Israel unterstützt werden. Diese Banden stehen in dringendem Verdacht, Hilfslieferungen in großem Stil überfallen und geplündert zu haben – mit stillschweigender Duldung oder sogar aktiver Hilfe der israelischen Armee. Auch Morde an Zivilisten sollen auf ihr Konto gehen.
Eine dieser Banden ist der „Dogmush“-Clan. Diese Bande ermordete vor wenigen Tagen den 28jährigen Journalisten Saleh Aljafarawi, der die Kämpfe zwischen dem Dogmush-Clan und der Hamas dokumentieren wollte. Aljafarawi hatte von der israelischen Armee zahlreiche Drohungen erhalten.
Eine inoffizielle palästinensische Quelle berichtet überdies, Mitglieder der Dogmush-Bande hätten Zivilisten erschossen, die nach Gaza-Stadt zurückgekehrt seien.
Die Hamas veröffentlichte ein Video, in dem die Hinrichtung mehrerer Männer zu sehen ist. Der palästinensische Präsident Abbas und Israel beschuldigten daraufhin die Hamas, in Gaza politisch Andersdenkende hingerichtet zu haben. Diese Lesart wurde von vielen westlichen Medien übernommen. Nach Darstellung der Hamas handelte es sich jedoch bei den Hingerichteten um Mitglieder bewaffneter Banden, die mit Israel kollaboriert und Zivilisten terrorisiert haben. Im Kontext der Gesamtsituation betrachtet, ist diese Darstellung plausibel.
Heute wurden aus Rafah (im Süden Gazas) Kämpfe zwischen der Hamas und von Israel unterstützten bewaffneten Milizen gemeldet. In diesem Gebiet operiert seit geraumer Zeit die Bande von Abu Shabab (unter dem Schutz der israelischen Armee). Die israelische Armee hat auf Seiten der Kriminellen in die Kämpfe eingegriffen, um diese vor der Ermordung oder Verhaftung durch die Hamas zu schützen. Israel beschuldigt nun die Hamas, in Rafah israelische Soldaten angegriffen zu haben.
Ein Hamas-Sprecher sagte dazu, man wisse von keinen Zusammenstößen zwischen der Hamas und israelischen Soldaten. Man habe keinen Kontakt mehr zu Hamas-Mitgliedern, die sich noch im von der israelischen Armee kontrollierten Gebiet von Rafah aufhalten. Es ist also unklar, ob es Angriffe auf israelische Soldaten gab, und wenn ja, wer die Angreifer waren. Israel wirft jedoch der Hamas einen Bruch des Waffenstillstandes vor. Mehrere israelische Minister fordern jetzt offen die Fortsetzung des Krieges in Gaza.
Heute wurden israelische Luftangriffe in verschiedenen Gebieten Gazas gemeldet.
Der Deal mit den Toten
Das Waffenstillstandsabkommen verlangt von der Hamas nicht nur die Freilassung der lebenden israelischen Gefangenen, sondern auch die Freigabe aller Toten binnen 72 Stunden. Nach allgemeiner Ansicht war es von Anfang an klar, dass diese Forderung unerfüllbar ist. Im Zuge der Offensive der israelischen Armee in Gaza-Stadt hat die Hamas den Kontakt zu etlichen Wächtern von israelischen Gefangenen verloren. Dies wurde auch offen kommuniziert. Es ist zu vermuten, dass sowohl Wächter als auch Gefangene bei israelischen Angriffen zu Tode gekommen sind. In einigen Fällen ist ihr genauer Aufenthaltsort nicht bekannt. Überdies gibt es in Gaza zu wenig schweres Gerät für Bergungsarbeiten. Es kann Wochen oder Monate dauern, bis alle Toten geborgen sind. Manche werden vielleicht nie gefunden.
Israel wirft der Hamas nun wegen der „Säumigkeit“ bei der Herausgabe von israelischen Toten einen Bruch des Abkommens vor. Israel begründet damit seinerseits mehrere Brüche des Abkommens. So wurde bislang nur ein Bruchteil der vereinbarten Hilfslieferungen nach Gaza gelassen. Insbesondere der Import von Unterkünften wird nach wie vor blockiert. Außerdem weigert sich Israel bislang (ebenfalls entgegen der Vereinbarung), den Grenzübergang nach Ägypten zu öffnen. Infolgedessen kann viel Hilfe nicht nach Gaza gelangen, und niemand kann Gaza verlassen. Letzteres gilt insbesondere auch für die Tausenden Schwerkranken und Verletzten, die dringend medizinische Behandlung im Ausland benötigen würden.
Die Türkei hat Hilfe bei der Bergung von Leichen angeboten. Ein Team von 80 Personen, die auf die Bergung von Leichen in Katastrophengebieten spezialisiert sind, wartet vor dem Grenzübergang Rafah. Israel verweigert ihnen die Einreise.
Israel hat inzwischen 150 Leichen von palästinensischen Gefangenen nach Gaza überstellt. Ein Teil von ihnen weist offenkundige Spuren von Folter und Exekutionen auf (gefesselte Hände, Augenbinden). In Gaza fehlen die Mittel für gründliche forensische Untersuchungen.
Die Leichen der palästinensischen Opfer wurden mit Nummern versehen, nicht mit Namen. Menschen in Gaza, die Angehörige vermissen, müssen sich die Fotos der Toten anschauen, um eventuell jemanden identifizieren zu können.
Quellen:
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/10/13/live-israel-hamas-set-to-free-captives-trump-says-gaza-war-is-over (01.00, 03.30, 03.50, 04.50, 09.15, 09.35, 12.55, 14.15, 14.20, 18.25)
https://www.thenation.com/article/world/gaza-october-7-anniversary-two-years-genocide/
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/10/19/live-israel-continues-deadly-attacks-on-gaza-closes-rafah-crossing (09.22, 09.30, 10.30, 10.45, 11.15, 12.30, 12.50)
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/10/18/live-israel-kills-28-in-gaza-since-ceasefire-hamas-urges-accountability (17.00, 20.00, 20.15)
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/10/17/live-aid-critically-low-in-gaza-a-week-into-ceasefire-amid-israeli-delay (15.30, 16.30, 18.30, 19.15)
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/10/15/live-israel-restricts-aid-into-gaza-hamas-releases-bodies-of-4-captives (10.00, 11.30, 13.55, 14.53, 16.00, 16.45, 17.00, 17.30)
https://www.aljazeera.com/news/liveblog/2025/10/14/live-trump-signs-gaza-ceasefire-deal-with-leaders-of-qatar-egypt-turkiye (07.00, 07.45, 08.15, 10.45, 11.30, 13.00, 14.30, 14.50, 15.00, 15.39, 16.00, 16.38)
https://celiafarber.substack.com/p/beloved-journalist-saleh-al-jafarawi
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