Erellas Brief

Gestern habe ich wieder einen Brief von Erella bekommen. Einen elektronischen Brief. Aus Israel. Ich kenne Erella nicht persönlich, und ich weiß nur wenig von ihr. Was ich weiß: Sie lebt in einem Kibbuz. Sie hat an einer israelischen Fernuniversität studiert. Sie hat langes weißes Haar. Sie sieht aus wie die Großmutter, die ich gerne gehabt hätte, als ich klein war – eine Großmutter, in deren Armen, an deren Brust man Wärme, Schutz und Trost finden kann. Vor allem aber weiß ich: Erella ist eine Person mit einem scharfen Verstand, einem unbestechlichen Sinn für Recht und Unrecht, einem Herz am rechten Fleck und einer großen Portion Mut; und sie schreibt Briefe, die mich immer wieder sehr berühren.

Erella gehört zu einer Gruppe von jüdischen Israelis, die sich „The Villages Group“ nennen. Diese Gruppe existiert seit 2002. Ihre Mitglieder besuchen mindestens ein Mal pro Woche palästinensische Dorfbewohner in Masafer Yatta. Masafer Yatta liegt im Westjordanland, südlich von Hebron. Masafer Yatta ist ein Gebiet, das seit vielen Jahren besonders stark von israelischer Siedler- und Militärgewalt betroffen ist. Der mit einem Oscar ausgezeichnete palästinensisch-israelische Dokumentarfilm No Other Land erzählt von dieser Gegend und ihren Menschen. Seit 2023 hat die Gewalt dort noch einmal stark zugenommen. Seither besuchen die Mitglieder der Villages Group die palästinensischen Gemeinschaften dort mehrfach pro Woche. Sie helfen mit Lebensmitteln, Medikamenten und anderen lebensnotwendigen Gütern – und auch mit Geld: Geld z. B. für Rechtsbeistand oder für Studiengebühren. Nicht zuletzt berichten sie auch, was sie gesehen und gehört haben in Masafer Yatta.

Vor einigen Monaten erreichte mich über eines meiner Netzwerke ein Hilferuf aus Masafer Yatta, der von der Villages Group weitergeleitet worden war. Ich reagierte, und seither erhalte ich Erellas Briefe.

Der jüngste Brief stammt vom 17. Dezember. Ich möchte ihn hier teilen. Die Originalsprache des Briefes ist Englisch. Die Übersetzung stammt von mir. Der Brief enthält zwei Links zu kurzen Videos, die ich hier ebenfalls verlinkt habe.

An alle unsere Freunde,

Seit nunmehr zwei Tagen bin ich gefangen in diese emotionalen, mentalen und spirituellen Chaos, das seit Montag in mir wütet. Ich konnte kein Wort schreiben. Aber nun, angesichts des leeren Bildschirms, versuche ich es erneut.

Die Wahrheit ist, dass das, was geschehen ist, jeden einzelnen Tag geschieht, in verschiedenen Orten des Westjordanlandes und in den Südlichen Hebron-Hügeln, die unser neues Zuhause jenseits unseres Zuhauses geworden sind. Das ist nichts Neues. Aber dieses Mal war ich dabei. Ich war dabei bei einem dieser ständigen Vorfälle, bei denen Siedler Sheikh Said schikanieren. Diese Siedler stammen aus den Siedlungen, die sich in letzter Zeit in dieser Gegend breit gemacht haben. Sie rücken immer näher an das Dorf Rakeez heran, und an Sheikh Saids uralte Wohnhöhle.

[Die Dörfer in Masafer Yatta sind immer wieder von Zwangs-Demolierungen durch die Israelis betroffen. Palästinenser bekommen seit Jahrzehnten keine Baugenehmigungen mehr – auf ihrem eigenen Land. Daher bauen sie – nach israelischem (Un-)Recht „illegal“. Dies wird dann zum Vorwand genommen, um ihre Häuser abzureißen. In Masafer Yatta gibt es vielerorts noch alte Höhlen, die in die Hügel gegraben wurden, in denen die Vorfahren der heutigen Bewohner lebten. Nun dienen sie vielen, deren Häuser zerstört wurden, als Notunterkünfte. Eine unwürdige Situation, gewiss. Aber manche ziehen es vor, so zu leben als in die ohnehin schon überfüllten Städte zu gehen. Überdies bieten die Höhlen sicherlich besseren Schutz vor Kälte und Feuchtigkeit als die desolaten Zelte der Menschen in Gaza.]

Im März dieses Jahres versuchte Sheikh Said – Bauer von Geburt an – seinen kleinen Acker gegen räuberische Siedler zu verteidigen. Dabei wurde ihm aus einer Entfernung von einem halben Meter in das rechte Bein geschossen. Der Schütze war der Räuber Budi, Chef der Sicherheitseinheit der nahegelegen Avigail-Siedlung. Die Kugel traf Sheikh Said in eine Hauptarterie. Das Bein musste oberhalb des Knies amputiert werden.

Sheikh Said ist stark und entschlossen. Er funktioniert mit seinem einzelnen Bein und wartet geduldig auf seine Rehabilitation. Doch seit jenem Tag ließen ihn die Siedler nicht mehr in Ruhe.

Einer dieser Vorfälle ereignete sich am Montag (15. 12. 2025). Am Tag davor hatte Sheikh Said einen Stacheldrahtzaun an der Grenze seines Ackers angebracht, um sein Land vor dem Diebstahl durch Siedler zu schützen. Das ärgerte Amichai Shilo (einen anderen Siedler-Chef aus der Gegend, der eine Siedlung nicht weit von Avigail gegründet hatte). Shilo kam am nächsten Morgen und begann, den Zaun zu zerschneiden. Sheikh Said hüpfte auf seinem einzelnen Bein zu ihm hin, um ihn zu stoppen, und dafür bezahlte er. Avichai Shilo warf Sheikh Said in den Stacheldraht und rief die Armee zur Unterstützung herbei, die dieser Bitte auch Folge leistete. Das war der Augenblick, in dem Yoav und ich am Schauplatz erschienen.

Dutzende Soldaten rannten von der Straße zu Sheikh Saids Land. Einige von ihnen rollten den Zaun auf und luden ihn auf ein Fahrzeug – unklar, ob es sich um ein Militär- oder ein Siedlerfahrzeug handelte. Währenddessen kontrollierten andere unsere Ausweise und internationalen Pässe und verscheuchten uns. Andere lungerten um Sheikh Said herum und kündigten an, dass er verhört werden soll.

Ich gelangte schnell zu der Einschätzung, dass die effektivste Hilfeleistung, die mir in diesem Moment möglich war, darin bestand, Sheikh Said nicht mit den Soldaten allein zu lassen.

Keiner von ihnen sprach Arabisch. Also sagte ich ihnen, dass ich ihm übersetzen möchte, was sie sagen. Sie antworteten mir nicht, aber ich ging einfach zu ihm hin und wich nicht von seiner Seite, so lange bis ich keine andere Wahl hatte.

Ich rief die Polizei, aber sie kam nicht. Ich machte fünf Anrufe. Fünf Mal wurde mir gesagt, dass die Polizei unterwegs sei. Fünf Mal warteten wir auf sie. Die Polizei kam nie.

Die Soldaten sagten mir, ich solle Sheikh Said sagen, dass er freiwillig in das Militärfahrzeug einsteigen soll, andernfalls würden sie ihn zwingen. Er sagte: „Ich warte auf die Polizei. Wenn die sagen, dass das nicht mein Feld ist, dann werde ich überall hingehen, wo sie wollen. Aber ich werde nicht mit euch gehen.“

Die Soldaten ließen mich nicht zu Ende übersetzen. Sie fingen an, mit mir zu kämpfen, damit ich weggehe und ihm nicht beistehe. Aber ich gab nicht nach. Ich sah, dass er sich stärker fühlte, weil ich in seiner Nähe war. Sie versuchten, ihn mit Gewalt in das Militärfahrzeug zu zwingen. Er kämpfte gegen sie, dieser kleine, entschlossene Mann.

Die Soldaten wurden mit ihm nicht fertig und riefen Grenzpolizisten zu Hilfe. Ich versuchte, die Stellung zu halten, zu sagen, dass wir die Polizei gerufen hatten und dass die Polizei unterwegs sei.

Deine Zeit ist um, sagten die Grenzpolizisten, und vier von ihnen hoben den tretenden Sheikh auf den Army Jeep.

Aus Platzgründen, und um meine Leser/innen zu schonen, werde ich nur kurz beschreiben, was wir noch zu sehen und zu hören bekamen – Worte, die nicht einmal Ihren Ohren zuzumuten sind, geschweige denn Ihrem Herzen.

Sie sagten mir, sie würden ihn zum Verhör in ein Armeelager bringen, und von dort, falls nötig, auf die Polizeistation in der Siedlung Kiryat Arba.

[…] Nach vier Stunden auf der Armeebasis wurde er an einen Ort in der Nähe des Armeelagers Susya gebracht. Es wurde schon dunkel, und es begann zu regnen. Von einem nahegelegenen Haus sah ihn jemand und holte ihn mit dem Auto ab. Er wurde mit einem Rettungswagen zur Untersuchung in ein Krankenhaus gebracht. Spät nachts kam er nach Hause.

Letzte Nacht sprach ich mit ihm. Er erzählte mir, was in dem Armeefahrzeug und in der Basis geschehen war:

„Sie fesselten mich, warfen mich auf den Boden des Jeeps und schlugen mich auf meinen Stumpf und den Kopf. In der Basis demütigten sie mich weiter und sagten mir immer wieder, dass dieses ganze Land den Juden gehört, und dass ich kein Land habe, um das ich mich kümmern kann“. Da war so viel Schmerz in dem, was er sagte. Ein kleiner Mensch mit einem festen Herzen, trotz seines einzelnen Beins. Ein entschlossener Mann, der noch immer wissen will, warum.

Was mich nicht loslässt und immer wieder vor meinem inneren Auge abläuft, das ist nicht nur Sheikh Saids hilfloser Kampf gegen die Soldaten, sondern der Blick in ihren Augen. Ich war ja eine ganze Weile dort. In ihrer unmittelbaren Nähe, nur einen Atemzug entfernt. Ich starrte sie an mit großem Schmerz, und ohne Hass. Ich versuchte, einen menschlichen Blick zu erhaschen. Nein. Ich versuchte, irgendein Anzeichen menschlichen Ausdrucks zu erhaschen. Vergeblich. Keine Menschlichkeit, kein Ausdruck. Ihr Blick war so undurchsichtig, dass er mir Angst machte. Als ob ihre Augen sagen würden: Kein Eintritt. Als sie Sheikh mit Gewalt packten, sagte ich zu Yoav (ich musste etwas Dampf ablassen), dass die Nazis hier noch etwas lernen könnten. Einer der Soldaten im Fahrzeug des Siedlers hörte das. Es hätte ihm nicht gleichgültiger sein können. Wir sind der Schmutz an ihren Füßen. Im besten Fall noch Verräter.

Die hohlen Augen der Soldaten verfolgen mich. Ihre Undurchdringlichkeit. Ihre Taubheit. Das Herrschergehabe von Amichai Shilo verfolgt mich. Die Bilder kommen ungebeten, und ich öffne eine Tür, damit sie wieder gehen. Und sie kommen immer wieder. Mit der Zeit werden sie verblassen, so wie meine tiefe Traurigkeit und Frustration, mein Schmerz, meine Hilflosigkeit, da ich weiß, dass ich getan habe, was ich konnte. Ich werde zu meinen Enkeln gehen und die dritte Hanukka-Kerze anzünden. Ich werde ihnen sagen, dass es jetzt, wo die Tage kürzer werden und die Dunkelheit zunimmt, das Wichtigste ist, in seinem Herzen eine Kerze anzuzünden – trotz allem. Und die Enkel werden fragen: Trotz was? Und ich werde ihnen sagen: Wegen und trotz des Bösen …

Erella

Im Namen der Villages Group

***

Wer sich über die Villages Group und ihre Aktivitäten näher informieren möchte, kann das hier tun:

https://villagesgroup.wordpress.com

Die Arbeit der Villages Group kostet nicht nur viel Zeit, Mut und Seelenkraft, sondern auch Geld. Wer finanziell helfen möchte (auch kleine Beiträge sind willkommen), kann dies einfach über die Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost tun:

https://www.juedische-stimme.de/spenden (in der Menüleiste in dem grauen Kasten ganz rechts den Button „Village Group“ anklicken).

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Kommentare

Eine Antwort zu „Erellas Brief”.

  1. Avatar von galaxysweetly6a23ec0ea4
    galaxysweetly6a23ec0ea4

    Liebe Maria,

    vielen Dank für Deinen neuen Blogbeitrag – ich werde auch ihn
    weiterverbreiten. Danke, danke für Deine Unermüdlichkeit.

    Und danke auch für Deine Vermittlung (vermutlich) unseres Kalenders an
    die Palästina Solidarität Steiermark, an die ich 20 Kalender schicken
    durfte. Alle 800 Kalender sind weg, stell Dir vor!

    Ich wünsche Dir eine gute, möglichst erholsame Zeit – im neuen Jahr
    sehen wir uns wieder und wir geben nicht auf, nicht wahr …

    Herzlichst
    Marianne

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